Drittklässler denken sich Geschichten für das Projekt »Das erste Buch« aus. Von Dezember an werden die fertigen Werke an Erstklässler verschenkt
Von Katrin Hörnlein
»Es war einmal ein Junge. Er war kein gewöhnlicher Junge. Er mochte sehr viele Getränke, aber Kakao mochte er am liebsten. Er trank jeden Tag ungefähr vier Gläser Kakao.« Der Drittklässler Djawed beugt sich tief über sein Blatt Papier und liest noch einmal den Anfang seiner Geschichte Der goldene Kakaodrache. Er schaut kurz auf, kaut am Bleistift und schreibt dann weiter.
Djawed ist eines von 19 Kindern aus den Klassen 3 a und 3 c, die im Mai gemeinsam in einem Klassenraum in der Grundschule Pastorenweg in Bremen sitzen. Man hört Bleistifte über Blätter kratzen und manchmal das leise Quietschen eines Radiergummis auf Papier. Der normale Unterricht hat heute Pause, stattdessen üben sich die Kinder als Schriftsteller. Jeder arbeitet an einer Geschichte, und alle geben sich sehr viel Mühe. Denn die Erzählungen sind keine normalen Schulaufsätze. Aus ihnen wird ein Buch – Das erste Buch.
So heißt ein Projekt aus Bremen, bei dem Drittklässler Geschichten für Erstklässler schreiben. Dazu malen sie Bilder, und aus allem wird ein außergewöhnliches Geschenk für jüngere Mitschüler. Die Idee dazu hatte vor sieben Jahren Bülent Uzuner. Der Geschäftsmann beobachtete eines Abends seine eigenen Kinder. Die ältere Tochter las der kleinen Schwester ihre Aufsätze vor. Da dachte sich Bülent Uzuner: »Das ist was! Kinder schreiben für Kinder – und beide haben etwas davon.« Die Großen könnten stolz sein, weil sie an einem echten Buch mitschrieben. Und die jüngeren Schüler bekämen ein tolles Geschenk. Uzuner suchte Helfer, die für seine Idee Geld spendeten. Inzwischen gibt es »Das erste Buch« in Bremen, in Bremerhaven, Oldenburg, Leer, Essen und Gütersloh.
Jede Stadt macht ein eigenes Buch, und immer sind darin 26 Geschichten enthalten – so viele, wie das Alphabet Buchstaben hat. Die Buchstaben und Themen werden unter den Schulen, die sich beteiligen, verlost. Die Kinder der Grundschule Pastorenweg haben den Buchstaben »K« bekommen. »K« wie »Kakao« – zu diesem Wort sollen sie sich nun etwas ausdenken. Djwaed sagt: »Die Geschichten ploppen einfach in meinen Kopf. Ich weiß immer schon, wie es weitergeht – ein kleines Stück jedenfalls.« Mitschüler Onur sitzt neben Djawed und schaut etwas bedröppelt. »Frau Körner«, ruft er seiner Lehrerin zu, »ich hab gar nichts im Kopf. Mir fällt keine Geschichte ein.« Martina dagegen ist schon fast fertig. Ihre Geschichte handelt von einer Kakaohexe und einem Himbeerfluss.
Verteilt werden die fertigen Bücher auch an Schulen, wo Hilfe besonders gebraucht wird – so ist es an der Grundschule Pastorenweg. Viele Kinder hier kommen aus anderen Ländern und sprechen noch nicht gut deutsch. Die Eltern sind arbeitslos, einige trinken zu viel Alkohol oder sind sehr krank. Oft kümmert sich niemand um die Kinder. »Manche sitzen schon morgens vor dem Unterricht stundenlang vor dem Fernseher«, sagt die Lehrerin Ute Körner. So ist Das erste Buch für viele Kinder tatsächlich das erste Buch, das sie überhaupt besitzen. »Bei meinen Schülern gibt es zu Hause oft nicht einmal ein Telefonbuch«, erzählt Ute Körner.
Wie schön es sein kann, in eine spannende Erzählung abzutauchen und mit ihren Helden mitzufiebern, das lernen diese Kinder erst in der Schule kennen. »Kaum ein Vater oder eine Mutter meiner Schüler liest zu Hause vor«, sagt Ute Körner. Wie wichtig das Lesen ist, weiß auch Bülent Uzuner. Er selbst kam mit sieben Jahren aus der Türkei nach Deutschland. Sein erstes Buch waren die Märchen der Brüder Grimm. Damit habe er damals Deutsch gelernt. Vielleicht geht es einigen Kindern mit dem Ersten Buch genauso. Vor allem will Uzuner mit seinem Projekt aber die Freude am Lesen fördern.
In den dritten Klassen der Grundschule Pastorenweg sind insgesamt 23 Geschichten entstanden, doch nur für eine ist Platz im Buch – die anderen Geschichten kommen ja aus anderen Schulen. Deshalb müssen die Kinder gemeinsam mit ihren Lehrerinnen Ute Körner und Corinna Kayser entscheiden, welche Geschichte die beste ist. Viele Stunden hat jeder daran gearbeitet. Nun müssen die Werke vor den Mitschülern bestehen. Ferry zum Beispiel hat über ein Kakaomonster und einen pupsenden Dinosaurier geschrieben. Onur hat sich gemeinsam mit Tarik einen Kakao-Supermann ausgedacht, Lotte liest einen Kakaokrimi vor, und Djawed schickt seinen Kakaodrachen ins Rennen. »Ins Buch kommen wäre toll«, sagt er, »aber es ist auch nicht so hammerschlimm, wenn ich nicht gewählt werde.«
Einige Erzählungen sind den Kindern zu kurz und werden aussortiert. Einige Handlungen ähneln sich, die fallen auch durch. Wichtig ist den Schülern, dass sie sich eine Geschichte gut vorstellen können. »Das ist anders, als fernzusehen«, sagt Onur, »da guckt man nur. Beim Lesen kommen die Bilder erst im Kopf.« Djaweds Geschichte über den goldenen Kakaodrachen ist es schließlich, die ausgewählt wird. Doch jedes Kind, das mitgemacht hat, wird seinen Namen im Buch lesen können.
Von Anfang Dezember an reisen Bülent Uzuner und seine Helfer mit den fertigen Werken durchs Land und bringen die Buchpakete an die Schulen. Die Kinder in Bremen können dann lesen, wie Djaweds Geschichte vom Kakaodrachen weitergeht: »Der Junge erschrak. Der Kakao leuchtete golden im Glas und heraus sprang ein kleiner Drache …« Und Bülent Uzuner hat schon Pläne fürs nächste Jahr: »Toll wäre, wenn unser Bundespräsident Horst Köhler ein Vorwort schreibt. Oder eine Geschichte zum Buchstaben B!«