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Oh Tannenbaum!

 

Fotos: Hannah Schuh/ Arne Mayntz
Fotos: Hannah Schuh/ Arne Mayntz

Zu Weihnachten stellen sich viele Menschen einen Baum ins Wohnzimmer. Bis wir so eine Tanne schmücken können, musste sie lange wachsen und hat viel erlebt
Von Anne-Katrin Schade

Draußen im Walde stand ein niedlicher kleiner Tannenbaum; er hatte einen guten Platz …« Mit diesem Satz beginnt der dänische Schriftsteller Hans Christian Andersen sein berühmtes Märchen Der Tannenbaum, das er vor mehr als 150 Jahren geschrieben hat. Könnten Christbäume von heute ihre Geschichte erzählen, würden sie ihm wohl widersprechen. Denn die meisten kennen gar keinen Wald – und Platz haben sie auch nicht. Sie wachsen dicht gedrängt auf einer Plantage.
So wie unsere kleine Nordmanntanne, die – und da ist sie noch ein Sämling in der Erde – schon die Wurzeln benachbarter Pflanzen spürt. Gerade ist sie in der Baumschule aus Saatgut gekeimt, das aus Georgien stammt. Das ist ein Staat am Schwarzen Meer mit vielen Wäldern. Die Tanne reckt sich, bis sie den Ackerboden durchbricht, und überall um sie herum lugen schon die Spitzen anderer Bäumchen hervor. Das Feld bei Hamburg, wo unsere Tanne wächst, ist zu klein. Nicht alle werden hier überleben. Gierig saugen die jungen Pflanzen Wasser aus dem Boden und breiten die Nadeln aus, um möglichst viel Sonnenlicht zu erhaschen.
Plötzlich bebt die Erde. Der Besitzer der Baumschule, Frank Ostermann, zieht mit einem Traktor einen Tank über das Feld, aus dem es staubt: Mineralien fallen in Körnchen auf den Boden. Dünger, die Nahrung der künftigen Weihnachtsbäume. Ein Schwung landet auf unserem Tännchen. Dadurch wächst es besonders schnell, bis zu sechs Zentimeter im halben Jahr.

Foto: Hannah Schuh/ Arne Mayntz
Foto: Hannah Schuh/ Arne Mayntz

Als unsere Tanne ein Jahr alt ist, sprießen ihr zwei Knospen aus dem Stamm. Wenn alles gut geht, sollten im nächsten Jahr weitere dazukommen und im dritten Jahr sogar ein ganzer Kranz aus Zweigen. Vorher muss die Tanne jedoch den Spätfrost überstehen, die eisigen Nächte im Mai. Auf ein Mal ist es nachts so kalt, dass ihre neuen Knospen beinahe absterben! Zum Glück misst eine Alarmanlage die Temperatur im Freien. Sinkt sie so stark, dass die Pflanzen erfrieren könnten, schrillt eine Sirene. Dann springt Frank Ostermann aus dem Bett und schaltet eine Beregnungsmaschine an. Wasser zischt aus Rohren, rieselt auf die Tanne, gefriert und legt einen schützenden Panzer um die Knospen – gerettet!
Auch am Tag droht dem Bäumchen Gefahr: Über den Zaun hüpft ein Reh und beißt dem Nachbarbaum die Spitze ab! Vor allem Rehe, aber auch Hasen und Kaninchen knabbern gerne junge Nadelbäume an. Sind die Spitzen weg, wachsen zwei oder drei nach. »Wo soll man dann den Weihnachtsstern befestigen?«, sagt Frank Ostermann und rupft diese Bäumchen aus der Erde. Unsere Tanne hat Glück gehabt.

Foto: Hannah Schuh/ Arne Mayntz
Foto: Hannah Schuh/ Arne Mayntz

Als sie zwei Jahre alt ist, rumpelt eine rostrote Maschine über sie und bohrt Metallstäbe in den Boden. Die lockern die Erde und lösen die Wurzeln. Denn unsere Tanne muss in ein neues Feld umziehen. Endlich mehr Platz! Die Tanne streckt sich und gedeiht.

Foto: Hannah Schuh/ Arne Mayntz
Foto: Hannah Schuh/ Arne Mayntz

Bis sie im Alter von vier Jahren noch einmal vom Acker geholt wird und sich alles ändert. Denn ungefähr in diesem Alter verlassen die Weihnachtsbäume die Baumschulen. Gerade 20 Zentimeter ist unsere Tanne jetzt hoch. Ein Arbeiter schnürt sie mit anderen Bäumen zu einem Bündel und wirft sie auf einen Anhänger.
Auf einem Hof im Süden Hamburgs empfängt sie Bernd Oelkers. Er ist einer der größten Weihnachtsbaum-Hersteller in Deutschland und zieht die sogenannten Setzlinge nach ihren ersten Jahren in der Baumschule weiter auf. Danach verkauft er sie in viele Länder. So reiste einer seiner Christbäume im Flugzeug nach Dubai, ein anderer schipperte nach Kenia, und ein dritter schmückte den Roten Platz in Moskau.
Um die Welt zu entdecken, muss unsere Tanne aber noch größer werden. Ihr Schicksal entscheidet sich immer im Dezember – für Plantagenbäume die spannendste Zeit. Dann läuft Bernd Oelkers durch die Reihen und schaut sich die Bäume an. Sind sie mickrig oder schief, heißt ihre Zukunft Adventskranz oder Friedhofsgesteck. Bei anderen guckt der Hofherr entzückt. Sie werden gefällt, und Arbeiter schieben sie in eine Röhre aus Metall. Wenn sie am anderen Ende herausplumpsen, stecken sie in Netzen und werden so verpackt auf Lastwagen zu Geschäften und auf Märkte gebracht.
Jedes Jahr kaufen die Deutschen zu Weihnachten etwa 28 Millionen Nadelbäume. Davon wachsen die meisten im Sauerland in Nordrhein-Westfalen, in Niedersachsen und in Schleswig-Holstein. Ein kleiner Teil kommt aus Dänemark. Meist stehen Nordmanntannen in den deutschen Wohnzimmern (auch wenn sie nicht so herrlich nach Wald duften wie Fichten). Denn diese Tannen pieksen nicht so sehr, ihre Zweige sind voll, und die Nadeln bleiben länger an den Ästen. Die Kunden zahlen für eine Nordmanntanne etwa doppelt so viel wie für eine Fichte, rund 30 Euro. Eine solche Tanne ist ungefähr zwölf Jahre alt und knapp zwei Meter hoch, größer als viele Erwachsene.

Fotos: Hannah Schuh/ Arne Mayntz
Fotos: Hannah Schuh/ Arne Mayntz

Noch riesiger dürfen nur die schönsten Bäume werden – und unsere Tanne gedeiht immer stattlicher. Ab und zu stapft Bernd Oelkers in Gummistiefeln und mit einer Heckenschere zu ihr und schneidet Äste ab, die vorstehen. Neue Winter kommen. Achtzehn Jahre lang wächst die Tanne, bis es wieder einmal Dezember ist, die Tage kurz werden und Plätzchengeruch aus den Bauernhöfen zu den Feldern hinüberweht. Fünf Meter ist die Tanne hoch, dicht und rauschend. Bald wird auch sie die Plantage für ihr letztes, großes Abenteuer verlassen: Dann ist Weihnachten.