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Multi-Kulti im Südsudan – Hoffnungen und Ängste der Minderheiten im neuen Staat

Jeden Morgen der gleiche melancholisch klagende Gesang. „Allahu Akbar!“ In Juba, Bor, Malakal, Yei – in fast jeder südsudanesischen Stadt erinnert der Muezzin fünf Mal am Tag, dass die klaren Fronten im Sudan zwischen Arabern und Afrikanern, zwischen Norden und Süden, Islam und Christentum so klar nicht ist. Den muslimischen Norden gibt es genauso wenig wie den christlichen Süden. Alle Grenzen sind fließend.

Die muslimische Minderheit im Südsudan ist klein, genaue Zahlen sind schwer zu bekommen. Jedenfalls gibt es in Juba einen „Südsudanesischen Rat der Muslime“. Und wer diesen auf der Seite Khartums vermutet, der irrt. „Abspaltung ist besser“, sagte Juma Said Ali, einer seiner Vertreter: „Der Norden hat auch uns wie Menschen dritter Klasse behandelt.“

Das war eine deutliche Absage an prominente islamische Kleriker aus Khartum und Kairo, die das Referendum zu einer Verschwörung des Westens und damit aus religiöser Sicht für „null und nichtig“ erklärt haben.

Bis 15. Januar sollen die Wahllokale noch geöffnet bleiben. Schon drei Tage nach Beginn des Referendums am vergangenen Sonntag hatten mehr als 60 Prozent der wahlberechtigten Südsudanesen ihre Stimme abgegeben – und damit eine wichtige Hürde genommen. Denn dieses Quorum ist Voraussetzung für die Anerkennung des Ergebnisses, das zweifellos auf Sezession hinauslaufen wird.

Nun werden Südsudans Muslime keineswegs geschlossen den neuen Staat bejubeln. Viele wollen, ebenso wie die Migranten, erst einmal vorsichtig abwarten, wie stabil der innere Frieden im neuen Südsudan sein wird.

Die Gesellschaft des zukünftigen Staates sieht etwas so aus: rund 200 ethnische Gruppen mit verschiedenen Sprachen, Dialekten, Glaubensformen, flexiblen Loyalitäten und vielen alten wie neuen Konflikten. In der Politik wie auch im Militär dominieren die Dinka, was immer wieder für Ressentiments in anderen Volksgruppen sorgt.

Dazu gesellen sich somalische Muslime, die seit vier Generationen hier leben. Arabische Händler, die seit Jahrzehnten zwischen Norden und Süden pendeln. Libanesische oder indische businessmen, die aus Wohncontainern ein florierendes Hotel zusammen gebaut haben, in denen junge Kenianerinnen mit Hochschuldiplom die Bücher führen, während Südsudanesinnen ohne jede Schulbildung den britischen, norwegischen, japanischen, deutschen oder dänischen Entwicklungshelfern die Zimmer putzen. Außerdem Äthiopier und Eritreer, die hier mit kleineren und größeren Geschäften ihr Glück versuchen. Und schließlich Migranten aus den Nachbarländern – vor allem aus Uganda und Kenia. Und wie läuft das so im Alltag?

Multikulti im Südsudan (I)
„Immer schön Augen und Ohren offen halten“, sagt Matthew Oguttu, Hotelfachmann aus Nairobi, dort arbeitslos, jetzt schleppt er Wasser und Zement auf einer Baustelle in Bor, rund 300 Kilometer nördlich von Juba. Abends besser im eigenen Quartier bleiben. Nach Feierabend sind kenianische oder ugandische Arbeiter in manchen Kneipen so gern gesehen wie türkische Immigranten in einer sächsischen Dorfgaststube.
Wir treffen Oguttu am Flusshafen neben der Wasserpumpe, um ihn herum ein Gewusel von Rückkehrern aus Khartum, die ihre alte Heimat nicht wieder erkennen, ugandischen Händlern, die Trainingsanzüge made in China anbieten, und Dorfchefs verschiedener Volksgruppen, die ihre Heimgekehrten einsammeln.

Einige von Oguttus Landsleuten sind vor dem Referendum aus Angst vor Unruhen nach Hause gefahren. Er ist geblieben.
„Wahlen und Abstimmungen sind nicht das Problem in Afrika“, sagt Oguttu, „das Ergebnis ist das Problem.“ Die Elfenbeinküste taumelt nach den jüngsten Wahlen am Rand eines  neuen Bürgerkrieg entlang, in Oguttus Heimat, Kenia, löste der letzte Urnengang einen ethnischen Mini-Bürgerkrieg aus.
Und hier?
„…sieht es bislang gut aus “, sagt er und lächelt. Also bleibt er.
„Weil man mit sudanesischen Pfund mehr Geld verdient als mit kenianischen Schilling.“

Multikulti im Südsudan (II)
Bor am Abend, zehn Dollar kostet die Nacht im Dindit-Hotel, in dessen Wellblechverschläge sich leider nicht Fuchs und Hase, sondern Fledermaus und Ratte gute Nacht sagen. Der Besitzer ist Samuel, ein kleiner, charmanter Eritreer.  Wie fast jeden Abend fallen einige bereits  alkoholisierte Dinka auf ihren Pick-Up-Trucks bei ihm ein – Sicherheitsleute und ehemalige Soldaten, Krieger ohne Krieg, deren Gebaren keinen Zweifel daran lassen soll, wer hier Herr im Hause ist. Samuel spricht weder arabisch, noch juba-arabisch, noch einen der Dialekte der Dinka. Macht nichts. Zwei Stunden lang füllt er den Jungmännertrupp scherzend und schmeichelnd mit Bier ab, bis deren Glieder und Zungen zu schwer geworden sind für größere Aggressionsausbrüche. Derweil bekocht uns seine Schwester, die früher in Asmara bei einer italienischen Familie den Haushalt geführt hat, mit Spaghetti Bolognese. Zur Entspannung beschallt Samuel die gesamte Gästeschar mit Kampfliedern aus dem eritreischen Befreiungskrieg. Seine Art, Heimweh zu lindern. In Eritrea, 1993 nach einem langen Bürgerkrieg unabhängig geworden, mutierte die Befreiungsbewegung ziemlich schnell zu einem diktatorischen Staatsapparat.
Und hier?
Samuel zuckt mit den Schultern und dreht sich Spagetti auf die Gabel. Sie bleiben in Bor. Dort sieht die Zukunft besser aus als zuhause. Für’s erste.

Multikulti im Südsudan (III)
Der Informationsminister der südsudanesischen Regierung, Barnaba Marial Benjamin, hat vor einigen Tagen allen „somalischen und anderen afrikanischen Geschäftsleuten“ versichert, dass sie unabhängig vom Ausgang des Referendums nichts zu fürchten hätten. Die somalischen Händler in Juba sind sich inzwischen nicht mehr so sicher. Sie argwöhnen, dass nach dem großen Jubel über die Unabhängigkeit die große Ernüchterung folgt. Und das sind immer schlechte Zeiten für Ausländer. Aber vielleicht wendet sich auch alles zum Besseren. Allahu Akbar! Allah ist groß – und alle anderen Götter neben ihm auch.

 

Strategien, Studien, Prognosen – kleine Leseliste zum Südsudan

Der Sudan und der Südsudan werden die Welt eine Weile beschäftigen – und damit auch die think tanks und Experten. Hier eine Auswahl lesenswerter aktueller Studien und Strategiepapiere:

Eine kompakte, aber umfassende Analyse der Probleme für den Südsudan nach der Sezession – von der umstrittenen Grenzziehung über Fragen der Staatsbürgerschaft, der Aufteilung der Öleinnahmen bis zum Umgang mit Auslandsschulden – liefert Sudan-Experte Wolfgang Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in seinem Paper „Auf dem Weg zur Unabhängigkeit des Südsudan“.

Wie die Nachbarn des neuen Staates (und des alten Sudan) auf die bevorstehende Sezession reagieren, behandelt unter dem Titel „Sudan:Regional Perspectives on the Prospect of Southern Independence“ eine ausführliche Studie der International Crisis Group: Welche Rolle hat Äthiopien in der Geschichte des sudanesischen Bürgerkriegs gespielt? Warum zählen Uganda und Kenia zu erklärten Unterstützern eines unabhängigen Südsudan? Warum fürchtet Ägypten die Sezession?

Mit der Angst vieler afrikanischer Regierungen vor einem Dominoeffekt, also weiteren Sezessionsbestrebungen auf dem Kontinent, befasst sich ein Paper des United States Institute for Peace (USIP) unter dem Titel „Secession and Precedent in Sudan and Africa“.

Der Small Arms Survey, ein renommiertes Forschungsprojekt über Kriegsgewalt und die Verbreitung von Kleinwaffen, hat im September 2010 eine Studie über den Zustand der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee (SPLA) ins Netz gestellt. Die Umwandlung der SPLA von einer Rebellentruppe, die sich im Verlauf des Bürgerkriegs selbst schwere Kriegsverbrechen hat zuschulden kommen lassen, in eine professionelle Armee ist eine zentralen Voraussetzungen für einen funktionierenden Staat.

Und schließlich noch zwei Buchtipps:

„What is the What“ von Dave Eggers, in den USA ein Bestseller, ist die Biografie von Valentino Achak Deng, einem der über 200.000 sogenannten Lost Boys. So bezeichnet man jene jungen Männer, die im Kindesalter vor dem Bürgerkrieg flohen, über Monate und hunderte von Kilometern in Flüchtlingslager nach Äthiopien oder Kenia marschierten. Durch Minenfelder, niedergebrannte Dörfer, gejagt von arabischen Reitermilizen.
Achak Deng überlebte diesen Trek und bekam schließlich ein Visum für die USA. Dass man sich auch dort sehr verloren fühlen kann, beschreibt das Buch auf wunderbar lakonische und ironische Weise.
Inzwischen betreibt Valentino Achak Deng im Südsudan eine Stiftung zum Bau von Schulen.

„Emma’s War“ von Deborah Scroggins ist ein Klassiker unter Sudan-Reisenden und Soli-Bewegten aller Art. Das Buch erzählt die Geschichte der britischen Entwicklungshelferin Emma McCune, die sich während des Bürgerkriegs in den Rebellenführer (und heutigen Vize-Präsidenten des Südsudan) Riek Machar verliebt und ihn heiratet. Klingt nach fürchterlichem Kitsch, ist tatsächlich aber eine sehr gut geschriebene Biografie einr Frau, deren naiver Idealismus und Überidentifikation mit vermeintlich „edlen Rebellen“ zu politischer Blindheit führte. Machar ist für einige der schlimmsten Kriegsverbrechen und blutigsten Fraktionskämpfe innerhalb der SPLA verantwortlich.
Nebenbei lernt man einiges über die Hintergründe des Bürgerkriegs. „Emma’s War“ soll in diesem Jahr als Hollywood-Film in die Kinos kommen.

 

Neubeginn auf dem Drahtseil – der Südsudan vor der Unabhängigkeit

Seit Sonntag Morgen wird abgestimmt – und alles deutet daraufhin, dass das Referendum über die Unabhängigkeit des Südsudan friedlich ablaufen wird. Fast vier Millionen Südsudanesen haben sich für dieses historische Votum registrieren lassen. Die Prognosen lassen eigentlich nur ein Ergebnis zu: Sezession.
Sieben Tage lang bleiben die Wahllokale offen, die Auszählung dauert bis Anfang Februar. Im erwarteten Fall der Unabhängigkeit wird am 9. Juli 2011 ein neuer Staat aus der Taufe gehoben. Und dann?
Dann hat die internationale Staatengemeinschaft einen neuen Versorgungsfall am Tropf. So warnt ein ganzer Chor von Experten.

Lassen wir die Katastrophenszenarien einmal beiseite. Sie verdecken, was es unmittelbar zu würdigen und respektieren gilt: Den offensichtlichen Willen der Südsudanesen, nach Jahrzehnten des Krieges unabhängig zu werden. Kaum eine Bevölkerung in Afrika hat so viel Gewalt und Elend durchgemacht wie die südsudanesische – und das will auf diesem Kontinent etwas heißen. Bombardements durch die sudanesische Luftwaffe, Hungersnöte,  Belagerungen, monatelange Flüchtlingsmärsche, Reitermilizen, die im Auftrag Khartums plünderten, brandschatzten und Sklaven nahmen. All die Gräueltaten, die man heute mit Darfur verbindet, haben die Südsudanesen während des Bürgerkriegs ungleich länger und schlimmer erlitten. Das dürfte Erklärung genug sein, warum so viele Südsudanesen die Unabhängigkeit wie eine Erlösung herbeisehnen. Und warum sie für’s erste auch jene Kriegsverbrechen verdrängen, die von der eigenen Seite, der Sudanesischen Volksbefreiungsbewegung (SPLM), verübt worden sind, die nun den neuen Staat regieren wird.

Womit man wieder bei der Frage angekommen ist: was kommt nach der großen Feier?
Zunächst einmal zähe Verhandlungen mit dem neuen Nachbarn, dem sudanesischen Regime in Khartum. Das Referendum markiert den Schlusspunkt des Comprehensive Peace Agreement (CPA), das 2005 den Bürgerkrieg beendet, ein System der Machtbeteiligung in Khartum, Teilautonomie für den Süden, beidseitige Programme zur Demobilisierung und andere Fragen geregelt hat.
Nun aber müssen zwei souveräne Staaten und ehemalige Kriegsgegner ihre prekäre Nachbarschaft neu bestimmen. Genauer gesagt: sie müssen schnell die gefährlichsten Konflikte entschärfen.

Die Grenze: Deren Verlauf ist noch unklar. Umstritten ist vor allem die Region Abyei, deren Bewohner eigentlich in einem eigenen Referendum darüber abstimmen sollen, ob sie zum Süden oder zum Norden gehören wollen. In Abyei befinden sich Ölvorkommen. Außerdem stehen sich hier Dinka und Misseriya gegenüber – erstere gehören traditionell zur Machtbasis der (SPLM), letztere stellten im Krieg Reitermilizen für den Norden. Dass beide Seiten weiterhin gut bewaffnet sind, macht die Sache nicht einfacher. Umstritten ist der Grenzverlauf auch weiter westlich, wo sich beide Seiten um Territorien mit möglichen Kupfer-und Uranvorkommen streiten.

Das Öl: Die Gier nach Erdöl gilt gemeinhin als Krieg fördernd. Im zukünftigen Verhältnis zwischen den beiden sudanesischen Staaten könnte sie jedoch befriedend wirken. Der Sudan förderte bislang 0,6 Prozent des weltweiten Erdölbedarfs. Klingt nicht sehr beeindruckend, doch für die Herrschenden in Khartum und  Juba sind die Einnahmen aus dem Ölexport lebenswichtig. Laut CPA müssen die Exporterlöse zwischen dem Norden und dem Süden je zur Hälfte aufgeteilt werden. Doch das CPA gilt demnächst nicht mehr.

Im Fall der Sezession wird der Südsudan die volle Kontrolle über drei Viertel der Ölproduktion bekommen, was ihm allein wenig nützt, weil er auf die Pipeline in den Norden nach Port Sudan angewiesen ist. Soll heißen: der Süden hat den größten Teil des Rohstoffs, der Norden die Infrastruktur. Die Frage ist nun: wie und wie schnell finden beide Seiten einen Kompromiss in einem Klima anhaltenden gegenseitigen Misstrauens? Welche Rolle werden ausländische Nationen spielen ? (China, Japan und Malaysia – die Hauptinvestoren im sudanesischen Ölmarkt; Norwegen, der inoffizielle „Erdölberater“ des Südsudans; die Afrikanische Union, deren führende Nationen es gern sähen, dass der Süden in Zukunft weniger und der Norden mehr aus den Öleinnahmen erhält. Warum? Weil man in Afrika diese neue Staatsgründung mit einem möglichst hohen Preisschild für die Sezessionisten versehen will, um potenzielle Nachahmer in anderen Ländern abzuschrecken.

Darfur: Die Konfliktregion gehört weiterhin zum (Nord)Sudan und wird im Fall der Sezession des Südens einen Teil der Grenze bilden. Khartum hegt nicht zu Unrecht den Verdacht, dass darfurische Rebellen nun den neuen Nachbarstaat als Rückzugs-und Nachschubgebiet nutzen werden. Einige Rebellenführer aus Darfur logieren inzwischen in Juba. Die Sympathien der SPLM für deren Sache sind bekannt: Die Ausbeutung und Verelendung der Randprovinzen durch Khartums Politik war der Auslöser der Rebellion im Süden wie der in Darfur.

Die große Führungsfigur der SPLM, John Garang, träumte eigentlich von einem vereinten Sudan, in dem Verfassungs- und Staatsreformen schließlich zum Regimewechsel in Khartum und zu einer Teilhabe der Peripherie an der Macht im Zentrum führen würde. Garang starb kurz nach Verabschiedung des CPA bei einem Hubschrauber-Absturz, und mit ihm starb auch die Vision vom neuen Sudan. Mit seinem Nachfolger Salva Kiir Mayardit wurden die Weichen auf Sezession gestellt. In Khartum wächst nun die Angst, dass der Zerfall des Landes erst begonnen hat. Darfur und andere Unruheprovinzen könnten folgen. Womit man bei Problem Nummer vier wäre…

Omar-al Bashir und die im Norden herrschende National Congress Party (NCP): Dass die Sezession des Südens auch mit militärischen Mitteln nicht mehr zu verhindern ist, hat das Regime in Khartum begriffen. Womöglich reagiert es nun im verbleibenden Staatsgebiet mit religiöser Radikalisierung. Ende Dezember hatte al-Bashir in einer Fernsehansprache im Fall der Abspaltung des Südens die Scharia als Grundlage der Staatsform für den Norden angekündigt. Noch gilt für das ganze Land die Interimverfassung im Rahmen des CPA, die dem Sudan einen „multi-ethnischen, multi-religiösen“ Charakter zuschreibt.

Sollte es zu einer neuen Welle der Islamisierung kommen, hätte das womöglich dramatische Folgen für die moderate oder säkulare Opposition im Norden, für einen erheblichen Teil der Kulturszene, für progressive Frauengruppen, die seit langem gegen die Anwendung der Scharia kämpfen. Und es hätte Folgen für die Hunderttausenden Südsudanesen, die als Dauerflüchtlinge des Krieges immer noch im Norden leben und in diesem Fall fluchtartig die Rückkehr in ihren wackeligen neuen Staat antreten würden, der schon die vorhandene Bevölkerung kaum versorgen kann.

Das sind – in sehr groben Zügen – die Startschwierigkeiten des südsudanesischen Staates in spe. Der hat bereits eine Fahne und eine Nationalhymne, aber noch keinen offiziellen Namen. Against all odds wäre zumindest ein passender Spitzname.

 

Von Nairobi nach Den Haag – Kenia und der ICC

Der Sohn des Staatsgründers, die rechte Hand des Präsidenten, der engste Vertrauter des Premierministers –  es sind die Mächtigen in der zweiten Reihe, die der Internationale Strafgerichtshof gestern als Hauptverdächtige in seinen Kenia-Ermittlungen benannt hat. Seitdem bebt die politische Bühne in Nairobi, die Polizei ist in Alarmbereitschaft – und auch in den Nachbarländern ist der Gerichtshof wieder einmal in aller Munde.

Insgesamt sechs Tatverdächtige hat Chefankläger Luis Moreno-Ocampo am Mittwoch benannt, die zum Jahreswechsel 2007/2008 nach den Präsidentschafts-und Parlamentswahlen eine Welle der ethnischen Gewalt in Kenia orchestriert haben sollen. Die herrschende „Partei der Nationalen Einheit“ (PNU) um Präsident Mwai Kibaki hatte eine offensichtliche Niederlage durch dreiste Fälschung „korrigiert“. Die Proteste seitens der damals oppositionellen „Orangenen Demokratischen Bewegung“ (ODM) eskalierten in Pogrome und Vertreibungen. 1200 Menschen wurden getötet, 350.000 vertrieben. Nach zähen Verhandlungen schubste damals Vermittler Kofi Annan die verfeindeten Parteien in eine Koalitionsregierung – mit der Maßgabe, die Verantwortlichen für Massaker und Vertreibungen zur Verantwortung zu ziehen. Weil das bis heute nicht geschehen ist, wurde der ICC aktiv.

Wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit sollen sich nun unter anderem Kibakis potenzieller Nachfolger, der Finanzminister Uhuru Kenyatta, Bildungsminister William Ruto, Präsidentenberater Francis Mathaura und Henry Kosgey verantworten, derzeit Industrieminister und Vertrauter des ODM-Chefs und Premiers Raila Odinga.

Kenias politische Elite wird also ordentlich durchgeschüttelt. Gerade erst hatte die kenianische Presse teils entsetzt, teils genüsslich die Wikileaks-Depeschen durchforstet, in denen der US-Botschafter das Land als „blühenden Sumpf der Korruption“ beschrieben hat. Was eine durchaus zutreffende Analyse ist. (Wer sich in dieses Thema vertiefen möchte, dem sei das Buch „Jetzt sind wir dran: Korruption in Kenia. Die Geschichte des John Githongo“ der britischen Journalistin Michela Wrong empfohlen)

Und nun die Vorladungen aus Den Haag. Ruto, ODM-Mitglied und einer der mächtigsten und berüchtigsten Politiker im Land, war schon von der kenianischen Menschenrechtskommission beschuldigt worden, zur Jagd auf Angehörige der Kikuyu geblasen zu haben, deren politisches Sammelbecken die PNU ist. Mathaura soll für einen „shoot-to-kill“-Befehl an die Polizei mitverantwortlich sein, dem vor allem der Angehörige der ethnischen Gruppe der Luo zum Opfer fielen. Die organisieren sich hauptsächlich in der ODM. Kenyatta wird vorgeworfen, eine hochkriminelle Sekte aus einem Kikuyu-Slum in Nairobi zur Hatz auf den politischen und ethnischen Gegner mobilisiert zu haben.

Schon wieder Afrika, werden die Kritiker des ICC einwenden. Dank eines Afrikaners, könnte man entgegen. Es gehörte 2008 zu Kofi Annans Verhandlungsstrategie, den verbohrten Kontrahenten mit dem Internationalen Strafgerichthof zu drohen. Annans Vorgehen fand damals den großen Beifall kenianischer Menschenrechtsorganisationen. ‚Wenn Ihr Euch nicht politisch zusammenrauft und die begangenen Verbrechen ahndet’, so seine Botschaft, ‚dann landen einige von Euch in Den Haag.‘

Das ist eine riskante Strategie. Denn was passiert, wenn die Drohkulisse des ICC in sich zusammenfällt? Wenn das Gericht nicht die Ressourcen hat, den politische Warnungen auch juristische Ermittlungen folgen zu lassen? Oder wenn es feststellen muss, dass in einem bestimmten Land zwar schwere Verbrechen begangen wurde, aber nicht schwer und systematisch genug, um unter das Statut des ICC zu fallen?

Im Fall Kenia hatte die dreiköpfige Vorverfahrenskammer im März 2010 dem Antrag des Chefanklägers auf Eröffnung einer offiziellen Ermittlung zugestimmt und damit die Zuständigkeit des ICC bejaht.
Allerdings bei einer Gegenstimme. Der deutsche Richter Hans-Peter Kaul, zugleich Vize-Präsident des ICC, befand in seinem Minderheitsvotum, dass die Gewalt – so verheerend sie war –  nicht in Folge oder Ausführung der „Politik eines Staates oder einer Organisation“ verübt worden ist. Dieses Tatmerkmal aber muss vorliegen, um nach den Statuten des ICC den Tatbestand von Verbrechen gegen die Menschlichkeit festzustellen.

Man kann tatsächlich darüber streiten, ob es sich bei den Unruhen in Kenia 2008 um eine geplante Politik der Regierung und der Opposition gehandelt hat – oder um den kriminellen, skrupellosen Machtanspruch einzelner Politikercliquen. Auch der darf natürlich nicht straffrei bleiben. Aber wenn sich der Gerichtshof auf solche Fälle einlässt, läuft er Gefahr, sich für tödliche Unruhen aller Art zuständig zu erklären.

Das Büro des Chefanklägers hat derzeit unter anderem den Fall Guinea unter Beobachtung, wo Militärs im September 2009 bei einer friedlichen Demonstration der Opposition über 150 Menschen erschossen und hunderte von Frauen vergewaltigt hatten.

Und gerade erst hat die Anklagebehörde eine Warnung an die politischen Kontrahenten in der Elfenbeinküste herausgegeben, ihre Anhänger unter Kontrolle zu halten und sämtliche Gewaltakte zu ahnden. Gut gemeint – aber womöglich überschätzt die Haager Behörde da ihre abschreckende Wirkung gewaltig.

Was Kenia angeht, so hat sich der ICC nun auch mitten in die kenianische Politik katapultiert. Die nächsten Wahlen sind für 2012 angesetzt. Genau dann soll ein Teil von Kenias politischer Elite in Den Haag auf der Anklagebank sitzen.

 

Der „Händler des Todes“ kommt vor Gericht – Viktor Bout in die USA ausgeliefert

Es war wohl das erste Mal, dass der begeisterte Flieger Victor Bout nicht freiwillig in ein Flugzeug gestiegen ist. Am Montag schleppten thailändische Sicherheitskräfte Bout, einen der weltweit größten Waffenschmuggler, in Handschellen und schusssicherer Weste in eine Maschine, die ihn in die USA brachte. Dort soll dem Russen nun wegen Waffenschmuggels und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung der Prozess gemacht werden.

Im März 2008 war Bout, Spitzname „Händler des Todes“, in Bangkok zwei amerikanischen Undercover-Agenten auf den Leim gegangen, die sich als Waffenkäufer der kolumbianischen FARC-Rebellen ausgegeben hatten. Die FARC wiederum steht in den USA auf der Liste terroristischer Vereinigungen. In Washington dürfte man erfreut sein, dass die thailändische Regierung dem Auslieferungsantrag nach über zwei Jahren diplomatischem und juristischen Hickhack entsprochen hat. Die russische Regierung ist empört.

Bout, Absolvent einer sowjetischen Militärakademie und bis zum Ende des Kalten Krieges Offizier bei der Luftwaffe, hat in seinem zweiten Leben als Händler auf dem freien Weltmarkt so ziemlich jeden mit so ziemlich allem beliefert. Der Mann fing klein an, mit dem Export von südafrikanischen Schnittblumen in zwei alten Militärmaschinen, erweiterte seine Produktpalette um tief gefrorenes Hühnerfleisch und begriff schnell, dass sich in den 90er Jahren mit dem Handel und Transport von Waffen weit mehr verdienen ließ.

Aus den ehemaligen sowjetischen Arsenalen floss ein gigantisches Angebot von Kalaschnikows, Maschinengewehre, Handgranaten, Mörser und Panzerfäusten auf den Markt – und traf auf eine ebenso gigantische Nachfrage in den Kriegsgebieten von Angola, Liberia, Sierra Leone, dem Kongo, Afghanistan, Bosnien. Um internationale Waffenembargos zu unterlaufen, brauchten Rebellengruppen, Regierungen und Kriegsherren agile Geschäftsleute wie Bout, die liefern konnten, (fast) ohne Spuren zu hinterlassen. Kleinwaffen sind so zu den tödlichsten Rüstungsgütern geworden.

Bouts Wege und Geschäfte führten immer wieder auch in und durch den Kongo. Zu Zeiten Mobutus, mit dessen Hilfe Bout Waffenlieferungen an die angolanischen Unita-Rebellen abwickelte (Bout lieferte übrigens auch an die Gegenseite, die damals sozialistische angolanische Regierung). Dann während des Kongo-Krieges, als er Hilfsgüter einflog oder seine Kunden mit Waffen belieferte. Zu diesen zählten Jean Pierre Bemba, Ex-Rebellenführer, dann Vizepräsident der Übergangsregierung, nun Angeklagter vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, sowie offenbar auch Ruandas Präsident Paul Kagame.

Überhaupt taucht Bouts Name immer wieder in Haager Gerichtsverfahren auf. Er gilt als einer der wichtigen Waffenlieferanten des ehemaligen Präsidenten Liberias, Charles Taylor, in dessen Prozess wegen Kriegsverbrechen voraussichtlich Anfang nächsten Jahres ein Urteil ergehen wird. Bouts Geschäfte mit Taylor – Waffen gegen Tropenhölzer – wurden von Ermittlern der UN dokumentiert, die ihrerseits 2001 Sanktionen gegen Bout verhängten. 2002 folgte ein Haftbefehl der belgischen Staatsanwaltschaft wegen Verdachts auf Geldwäsche und Diamantenschmuggel. Bout setzte sich für’s erste nach Moskau ab.

Warum nun fürchtet die russische Regierung Bouts Überstellung in die USA so sehr, dass sie Töne wie im Kalten Krieg anschlägt? Der amerikanische Journalist Douglas Farah, Ko-Autor des Buches Merchant of Death, ließ sich dazu in einem Beitrag für Foreign Policy aus: Im Zuge der Putinschen Konsolidierung der arg zerrupften Geheimdienste, so argumentiert Farah, sei Bout in den vergangenen Jahren zu einem wichtigen Akteur im russischen Waffennetzwerk geworden. Europäische Nachrichtendienste hätten ihn 2005 im Iran und 2006 im Libanon geortet, wo er der Hisbollah Waffen für ihren Krieg gegen Israel geliefert habe.

Sollte sich Bout in den USA also auf einen Geständnishandel einlassen, könnte er, um Strafmilderung zu erwirken, den amerikanischen Geheimdiensten so einiges erzählen: über „russisch geführte Netzwerke, die weiterhin Dschihad-Gruppen in Somalia und im Jemen unterstützen.“ Vielleicht auch über die Innenansichten der russischen Geheimdienst- und Rüstungsstrukturen und „ihrer Interessen vom Iran über Venezuela bis sonst wohin“.

Bout selbst bestreitet, irgendetwas Illegales getan zu haben. Auf einer für ihn eingerichteten Website lässt der sich als „geborenen Verkäufer mit einer unsterblichen Liebe zur Luftfahrt und einem ewigen Drang zum Erfolg“ darstellen, der das Opfer einer amerikanischen Hexenjagd geworden sei. In einem Interview mit dem Spiegel, geführt während seiner Auslieferungshaft in Bangkok, räumt er erstaunlich viele Waffengeschäfte ein – und beschuldigt seine Verfolger der Heuchelei.

Was nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Bout war in früheren Zeiten nicht nur Rebellen nützlich sondern auch westlichen Regierungen. Seine Flugzeuge transportierten UN-Blauhelme nach Somalia, britische Soldaten ins Kosovo und 2003 Nachschub für die US-Armee in den Irak, als die gerade nicht ausreichend Transport-Kapazität hatte. Die Unita-Rebellen, so Bout, seien noch zu Zeiten des Kalten Krieges von Washington hoch gerüstet worden. Ebenso die Taliban, mit denen er ebenfalls Geschäfte gemacht haben soll. Womit er Recht hat. Was nichts daran ändert, dass er endlich auf eine Anklagebank gehört.

 

FDLR-Führer soll vor den Haager Strafgerichtshof

Das ist mal wirklich eine gute Nachricht – für den Kongo und für den Internationalen Strafgerichtshof (ICC): Callixte Mbarushimana, Exekutivsekretär der Hutu-Miliz der FDLR, ist am Montag in Paris festgenommen worden  und soll nun an den ICC in Den Haag überstellt werden. Der Gerichtshof hatte Ende September einen zunächst versiegelten Haftbefehl gegen Mbarushimana erlassen wegen Verdachts auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dabei geht es um Morde, Vergewaltigungen, Folter, Plünderungen, also um eine Terrorkampagne gegen die Zivilbevölkerung, begangen von Mitgliedern der FDLR im Ostkongo zwischen Januar und September 2009.

In diesem Zeitraum hatte die kongolesische Armee, zunächst mit Unterstützung von Truppen aus Ruanda, eine Militäroffensive gegen die FDLR gestartet. Die überwiegend aus Hutu bestehende Miliz ist eine Nachfolgeorganisation jener Militärs und Milizen, die 1994 den Völkermord in Ruanda durchführten und nach ihrer Flucht in den Ostkongo Teile der Kivu-Provinzen unter Kontrolle gebracht haben. Auf die Militäroffensive 2009 reagierte die FDLR mit einer Eskalation der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, um, so der Strafgerichtshof, „eine humanitäre Katastrophe“ zu provozieren und auf diese Weise internationalen Druck zu erzeugen, um politische Zugeständnisse zu erzwingen. Mbarushimana habe als Exekutivsekretär der FDLR „persönlich und vorsätzlich“ an diesem Plan mitgewirkt.

Mit seiner Festnahme verliert die FDLR nun auch den dritten Kopf ihres Führungstrios in Europa. Im November vergangenen Jahres verhafteten die deutschen Behörden den Präsidenten der FDLR, Ignace Murwanashyaka, und seinen Stellvertreter Straton Musoni wegen Verdachts auf Mitgliedschaft einer terroristischen Vereinigung sowie Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sollte es, wie erwartet, demnächst zum Prozess kommen, wäre es das erste Verfahren in Deutschland nach dem Völkerstrafgesetzbuch.

Anders als Murwanashyaka, der zu Zeiten des Völkermords bereits in Deutschland lebte, steht Mbarushimana im Verdacht, am Genozid 1994 beteiligt gewesen zu sein. Als Mitarbeiter des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) soll er damals für die Ermordung von Tutsi-Kollegen mit verantwortlich gewesen sein. Das UN-Ruanda-Tribunal (ICTR) ermittelte kurzzeitig, erhob aber nie Anklage gegen ihn. Mbarushimana blieb bis 2001 Mitarbeiter der UN und setzte nach seiner Entlassung sogar noch Entschädigung für Lohnausfall durch. Er bekam schließlich politisches Asyl in Frankreich, dessen Behörden ohne den Haftbefehl des ICC wohl bis heute nichts in seinem Fall unternommen hätten.

Mit dem Haftbefehl gegen Mbarushimana hat der ICC erstaunlich schnell auf die aktuelle Lage im Ostkongo reagiert. Dass er den Ruander „nur“ wegen der Verbrechen der FDLR und nicht für seine mögliche Tatbeteiligung am Genozid 1994 anklagen will, hat einen ganz einfachen Grund: Der ICC kann ausschließlich bei Verbrechen ermitteln, die nach dem Inkrafttreten seines Statuts 2002 begangen worden sind.

 

Einmal Kinshasa – Stuttgart 21 und zurück

Morgen heißt es Daumen drücken. Für Deutschland. Nein, nicht für die Nationalmannschaft. Die kriegt das EM-Qualifikationsspiel in Kasachstan auch ohne unsere guten Wünsche hin. Sondern für die Regierung. Deutschland bewirbt sich um einen nicht-ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Abgestimmt wird darüber morgen in New York. Deutschland möchte mehr globale Verantwortung und mehr Einfluss bekommen: Kriege verhindern, Klimawandel stoppen, Atomraketen einmotten, die multi-polare Welt mit ordnen. Große Pläne, die man uns gar nicht zutrauen würde in diesen Tagen, da die große, weite Welt für unsere Medien, Politiker und Öffentlichkeit offenbar auf zwei S-Themen zusammengeschnurrt ist: Sarrazin und Stuttgart 21. Über die Schieflage zwischen globalem Anspruch und deutscher Wirklichkeit ließe sich viel kommentieren. Hier mal etwas anderes: Ein fiktives Telefongespräch über deutsche Verhältnisse mit einem kongolesischen Bekannten. Nennen wir ihn Alphonse:

Alphonse (nachdem er kurz die jüngsten, leider sehr realen Ereignisse in seinem Heimatland zusammen gefasst hat – ein paar Dutzend Cholera-Fälle im Südosten, kleinere Scharmützel mit Rebellen im Osten, Beginn der Regenzeit mit drohenden Erdrutschen in der Hauptstadt, angeblicher Selbstmord eines inhaftierten Regierungsgegners, der sich laut Polizei mit einem Kissen erhängt haben soll, wozu anzumerken ist, dass es in kongolesischen Gefängnissen keine Kissen gibt):
„Und was ist bei Euch so los?“

Ich: „Große Krise der Politik und ihrer Institutionen.“

Alphonse: „Warum das denn?“

Ich: „In einer Großstadt soll ein neuer Bahnhof gebaut werden. Viele Leute wollen das nicht, haben demonstriert und sind mit der Polizei aneinander geraten.“

Alphonse: „Wie viele Tote?“

Ich: „Liebe Güte, keine Toten. Einige Demonstranten wurden verletzt durch Tränengas und Wasserwerfer.“

Alphonse: „Haben Eure Polizisten keine scharfe Munition?“

Ich: „Doch. Aber hier wird nicht gleich geschossen.“

Alphonse: „Und wo ist jetzt die Krise?“

Ich: „Na ja, wir befürchten, dass die Politiker und die Politik immer mehr an Vertrauen verlieren, weil sie nicht mehr gut genug mit dem Bürger kommunizieren.“

Alphonse: „Was gibt’s da zu kommunizieren? Wenn die Regierung was bauen will, dann baut sie!“

Ich: „Das läuft hier anders. Der Bürger kann Einspruch einlegen bei solchen Bauvorhaben.“

Alphonse: „Und was macht die Polizei mit einem, der Einspruch einlegt?“

Ich: „Gar nichts. Der Einspruch wird angehört, und dann entscheidet man, ob der Bürger Recht hat.“

Alphonse: „Warum demonstrieren die Leute dann?“

Ich: „Weil sie das Gefühl haben, nicht richtig gehört worden zu sein. Weil manche den alten Bahnhof behalten wollen. Und weil für den neuen Bäume gefällt werden müssen.“

Alphonse: „Hör zu, sag Deinen Leuten, wir nehmen den Bahnhof. Und Eure Polizei auch.“

(Ende des Gesprächs, weil die Verbindung abbricht)

 

Thomas Lubanga bleibt in Haft

Im heimischen Bunia hatten seine Anhänger wohl schon das Empfangskomitee organisiert. Doch Thomas Lubanga, ehemaliger Milizenführer aus Ituri im Ostkongo und Angeklagter im ersten Prozess des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC), bleibt in Haft. Die Berufungskammer entschied am Freitag Nachmittag, den Prozess gegen den 49-jährigen Kongolesen fortzuführen. Die untere Instanz, die Strafkammer, hatte das Verfahren Anfang Juli ausgesetzt und Lubangas Freilassung angeordnet – ein ziemlich lauter Schuss vor den Bug des Chefanklägers Luis Moreno-Ocampo. Der hatte sich der richterlichen Anordnung widersetzt, dem Gericht die Identität eines intermediary preiszugeben, eines lokalen Vermittlers bei der Suche von Zeugen für die Anklage. Lubangas Verteidiger wollten besagten Vermittler zu ihrem Verdacht befragen, wonach Zeugen der Anklage für Falschaussagen präpariert worden seien.

Es ging um die Abwägung zwischen zwei wichtigen Gütern: dem Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren und dem angemessenen Schutz von Zeugen. Ersteres ist in rechtstaatlichen Verfahren eine Selbstverständlichkeit, letzteres gewinnt in Prozessen gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher eine ganz besondere Bedeutung – vor allem wenn der Tatort noch nicht endgültig befriedet ist.

Im Bezirk Ituri im Nordosten des Kongos hat der ethnisch durchfärbte Krieg zwischen Hema, Lendu und anderen kleineren Gruppen aufgehört – nicht zuletzt dank einer EU-Militärintervention 2003. Aber die Ursachen der Konflikts – Landrechte, politische Teilhabe und Kontrolle über die reichen Goldvorkommen – sind keineswegs gelöst. Lubangas „Union kongolesischer Patrioten“ (UPC) ist weiterhin einflussreich und in der ethnischen Gruppe der Hema fest verankert. Wer in den Verdacht gerät, mit dem ICC im Fall gegen Lubanga zusammen zu arbeiten, riskiert Drohungen und Schlimmeres. Gleiches gilt für die so genannten intermediaries, oft Angehörige von lokalen NGOs, die Menschenrechtsverletzungen dokumentieren, Zeugen befragen und für die internationalen Ermittler meist unverzichtbar sind. Denn die kennen oft weder Sprache noch Region. Die Identität des betreffenden Vermittlers hat der Ankläger gegenüber Richtern und Verteidigern inzwischen preisgegeben.

Umstritten blieb aber bis zur heutigen Entscheidung eine weitere Frage: Ist ein faires Verfahren garantiert, wenn sich der Ankläger ziemlich nassforsch über eine richterliche Anordnung hinwegsetzt, die womöglich der Verteidigung zugute kommt? Anders gesagt: Wer ist Herr des Verfahrens? Logische Antwort der Berufungskammer (mit drohendem Zeigefinger Richtung Ankläger): der Richter und sonst niemand. Aber wegen eines solchen Konflikts gleich den Prozess auszusetzen und den Angeklagten freizulassen, fand die  Berufungskammer dann doch übertrieben.

Der Prozess gegen Thomas Lubanga, angeklagt der Zwangsrekrutierung von Kindersoldaten (was man angesichts der ständigen Verfahrensstreitereien manchmal schon vergisst), geht also weiter.

Alles gut soweit?

Nun ja. Je länger das ganze Procedere dauert (seit der Überstellung Lubangas nach Den Haag sind über vier Jahre vergangen), desto mehr schrumpft der Rückhalt des ICC in der Öffentlichkeit, vor allem in der kongolesischen. Der berechtigte Einwurf hilft da wenig, dass dieses Gericht völliges Neuland betreten hat und unter unendlich schwierigen Bedingungen in (Nach)Kriegsgebieten ermittelt. Ebenso wenig der Hinweis, dass der zweite Prozess des ICC gegen zwei kongolesische ehemalige warlords und Kriegsgegner Lubangas, Germaine Katanga und Mathieu Ngudjolo, relativ zügig und reibungslos vonstatten geht.

Zumal die politische Luft für das ICC im Kongo dicker wird. Die kongolesische Regierung hatte seinerzeit die justizielle Aufarbeitung des Ituri-Krieges an Den Haag übergeben. Als Zeichen des guten Willens zur Zusammenarbeit mit internationalen Institutionen. Und weil dieser Krieg zwar verheerend, für die politischen Machtspiele in Kinshasa aber irrelevant war.

Inzwischen sind für November 2011 Präsidentschafts-und Parlamentswahlen im Kongo angesetzt. Zum Wahlkampf des Amtsinhabers Joseph Kabila gehören Repression gegen Dissidenten, das Einkaufen von Regionalfürsten und Zugeständnisse an Wählergemeinden. Gerade im Osten braucht er jede Stimme. Bei seinem Besuch in Ituri Ende September wurde er von Vertretern der UPC bestürmt, sich für Lubangas Freilassung einzusetzen und inhaftierte UPC-Anhänger in Kinshasa freizulassen. In Ituri wiederum propagiert die UPC immer lauter, der Prozess gegen Lubanga verhindere eine Versöhnung zwischen den ethnischen Gruppen und Kampfparteien. Das kann man auch als Drohung lesen, wieder zu den Waffen zu greifen.

Gegen Lubangas ehemaligen Militärchef Bosco Ntaganda hat das ICC ebenfalls Haftbefehl wegen Verdachts auf Kriegsverbrechen in Ituri erlassen. Ntaganda, dessen Spitznamen mit gutem Grund „The Terminator“ lautet, verdingte sich nach dem Ituri-Krieg bei den pro-ruandischen Rebellen der CNDP, die inzwischen im Rahmen eines sehr brüchigen Abkommens in das kongolesische Militär integriert worden sind. „The Terminator“, zahlreicher Kriegsverbrechen verdächtigt, ist derzeit General der regulären Armee – und die kongolesische Regierung, immerhin Vertragspartei des Internationalen Strafgerichtshofs, denkt gar nicht daran, ihn an Den Haag auszuliefern.

Wem diese politischen und justiziellen Verwicklungen zu verwirrend erscheinen, dem sei verziehen. Das geht mir oft auch so. Aber ab und an lohnt sich ein genauerer Blick darauf. Nur um zu sehen, in welchen politischen Minenfeldern die Haager Richter, Ankläger, Ermittler und Verteidiger herumstochern.

 

Das gefährliche „G-Wort“ – die UN haben ihren Bericht zu Kriegsverbrechen im Kongo veröffentlicht

Na also, es geht doch. Trotz massiven Drucks, Drohungen und Erpressungsversuchen mehrerer afrikanischer Länder hat Navanethem Pillay, UN-Hochkommisarin für Menschenrechte, nun den Report über Kriegsverbrechen im Kongo veröffentlicht – und  keinen der schweren Vorwürfe gegen Armeen Ruandas und Ugandas entschärft.

Eine vorläufige, noch nicht autorisierte Fassung des Berichts war im August der Presse zugespielt worden und hatte umgehend eine diplomatische Krise ausgelöst. Denn unter anderem werfen Pillays UN-Ermittler den ruandischen Truppen des heutigen Präsidenten Paul Kagame zahlreiche Massaker an Hutu-Zivilisten im Ostkongo vor, deren offensichtliche Systematik von einem ordentlichen Gericht als Genozid „eingestuft werden könnte“. Eine juristisch sehr vorsichtige, aber politisch hoch brisante Formulierung. Es waren es Kagames Truppen, die ihrerseits 1994 den Völkermord an Tutsi in Ruanda gestoppt. Ihre Invasion in den Ostkongo 1996 zwecks  Auflösung der Hutu-Flüchtlingslager ist nach herrschender Lesart in Kigali bis heute ein  Akt der Selbstverteidigung gegen die Hutu-genocidaires, die aus den Camps im Kongo weiterhin Angriffe gegen Tutsi durchführten. Der UN-Bericht legt nun nahe, dass es ein massenmörderisches Rachemanöver war.  Ruandas Regierung hatte im August gedroht, seine Soldaten aus der ohnehin schon wackeligen UN-Blauhelmmission im Sudan abzuziehen, sollte der Report in dieser Form offiziell veröffentlicht werden.

Das brisante „G-Wort“ wurde nicht gestrichen – ebensowenig die Aufzählung von Kriegsverbrechen im Ostkongo durch Armeen anderer Nachbarländer, vor allem Burundi und Uganda, das aus Empörung über die Vorwürfe ebenfalls mit einem Abzug seiner Blauhelm-Truppen gedroht hatte. Bei Drohungen ist es nun geblieben, die betroffenen Regierungen durften allerdings Stellungnahmen zu dem Bericht hinzufügen. Unter dem Strich darf man festellen: die Erpressung hat nicht funktioniert.

Und nun? Genozid beschreibt eines der schlimmsten Menschheitsverbrechen. Das „G-Wort“ war und ist aber auch ein medialer Kampfbegriff mit zweischneidiger Wirkung. Es rüttelt auf wie im Fall Darfur (obwohl die Expertenmeinungen immer noch darüber auseinander gehen, ob es sich dort um einen Völkermord gehandelt hat). Es verursacht mittlere diplomatische Erdbeben wie im Fall Ostkongo. Es überschattet andere schwere Menschenrechtsverletzungen und hierarchisiert den Status der Opfer. Für die und ihre Hinterbliebenen ist es aber letztlich egal, ob das Massaker, in dem sie starben, im Nachhinein als Genozid oder als Kriegsverbrechen eingestuft wird. Tot ist tot. Brutal ermordet ist brutal ermordet.

Weshalb man nun den eigentlichen Verdienst dieses Berichts würdigen sollte. Der besteht nicht darin, die Regierung in Kigali in Wut versetzt zu haben. Der Verdienst dieser über 500 Seiten Lektüre besteht darin, zum ersten Mal ein umfassende, wenn auch keineswegs vollständige Dokumentation des verheerendsten Kriegsschauplatzes seit 1945 geliefert zu haben.

Unübersichtliche Konflikte – zumal solche in Afrika – lösen in der westlichen Öffentlichkeit gern den „Die-haben-sich-da-immer-schon-gemeuchelt“-Reflex aus. Dieser Reflex enthält die Vermutung, die betroffenen Menschen hätten kein Interesse und damit auch keinen Anspruch an der Aufarbeitung dieser Verbrechen. Dass diese Annahme ebenso unsinnig wie infam ist, zeigen die Wahrheitskommissionen in Südafrika, in Liberia und Sierra Leone, das zeigt auch das UN-Ruanda-Tribunal zur Ahndung des Genozids 1994. Keine dieser Institutionen ist unumstritten, keine ihrer Ergebnisse auch nur annährend vollkommen. Aber sie demonstrieren, dass Erinnerungspolitik und Wahrheitsfindung sehr wohl auch ein afrikanisches Anliegen sind. Und ein kongolesisches wie die über tausend Zeugenaussagen für den UN-Bericht beweisen.

Was daraus folgt? Im UN-Bericht wird unter anderem eine Wahrheitskommission gefordert. Kongolesische Menschenrechtler setzen sich schon seit langem für „hybride Tribunale“ ein, Gerichte mit internationalen und nationalen Juristen zur Ahndung von Kriegsverbrechen, die die Arbeit des überforderten Internationalen Strafgerichtshofs dringend ergänzen müssten.

Es gehört zu den ebenfalls reflexartigen Einwänden, dass solche Forderungen im „chaotischen“, „korrupten“, „anarchischen“ Kongo utopisch sind. Aber das hat man über alle anderen Wahrheitskommissionen und Tribunale anfangs auch gesagt.