Krankenhäuser gelten gemeinhin nicht als Schauplätze des Widerstands, doch der Eindruck trügt. Ärztinnen, Pfleger und Therapeuten können sehr wohl den Zorn politischer Machthaber auf sich ziehen – vor allem dann, wenn sie die Opfer von Menschenrechtsverletzungen behandeln.
Ende Januar veröffentlichte die französische Tageszeitung Le Monde unter dem Titel „La malédiction des femmes de Guinée“ einen ebenso erschütternden wie beeindruckenden Bericht über den „Fluch der Frauen von Guinea“. Gemeint sind jene Teilnehmerinnen einer Demonstration für Demokratie vergangenen Herbst, die mit einem Massaker und brutalen Vergewaltigungen durch Soldaten der Präsidentengarde endete.
Die Autoren des Artikels sind Ismael Baldé und Natalie Zajde. Zajde ist eine renommierte französische Trauma-Forscherin und Psychologin, die sich auf die Behandlung von Opfern schwerster Menschenrechtsverletzungen spezialisiert hat. Baldé ist Arzt und Gründer des Centre Mère et Enfants in Conakry, ein Hospital für Mütter und Kinder.
Nichts ist vergessen, nichts ist geahndet von dem, was sich am 28.September 2009 in der Hauptstadt des kleinen westafrikanischen Landes abgespielt hat. Tausende Demonstranten hatten sich zum Jahrestag der Unabhängigkeit im Sportstadion versammelt, um die Militärjunta des Hauptmannes Moussa Dadis Camara aufzufordern, den Weg für Wahlen frei zu machen.
Camara, der nach dem Tod des langjährigen Diktators Lansana Conte an die Macht gekommen war, hatte genau das versprochen: Freie Wahlen und den Rückzug der Armee aus der Politik. Stattdessen nahmen Repression gegen Opposition und Zivilgesellschaft zu. Als am 28. September die Menschenmenge im Stadion lauthals Demokratie forderte, eröffnete Camaras Präsidentengarde das Feuer.
Ermittler der Vereinten Nationen dokumentierten einige Wochen später ein Massaker mit mindestens 150 Toten, benannten den Präsidenten sowie zwei weitere Offiziere als Hauptverantwortliche und empfahlen, die drei wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Verantwortung zu ziehen.
Wie viele Frauen an diesem September-Tag von Soldaten vergewaltigt worden sind, weiß niemand genau, weil zahlreiche Opfer bis heute nicht wagen, die Tat öffentlich zu machen. Frauen waren an diesem 28. September, so schreiben Baldé und Zajde, „wie Zombies durch die Straßen der Stadt geirrt: völlig nackt, verschmiert mit Blut, Sperma, Dreck… und kaum noch in der Lage, sich auf den Beinen zu halten.“ Bewohner der umliegenden Viertel versteckten mehrere tagelang vor den Soldaten, gaben ihnen anzuziehen, zu trinken, zu essen. Opfer, die zum Teil schwer verletzt in die Hospitäler geschleppt worden waren, mussten von Ärzten und Krankenschwestern durch die Hinterausgänge in Sicherheit geschmuggelt werden, weil die Soldaten Krankensäle durchsuchten.
Baldé und Zajda berichten von Frauen, denen die Flucht nicht gelang, die über Wochen von Soldaten als Zwangsprostituierte fest gehalten worden sind. Manche kamen schließlich frei, andere sind bis heute verschwunden.
Was sich da am 28. September abgespielt hat, war mitnichten ein „Gewaltausbruch“ undisziplinierter Soldaten, sondern eine Demonstration militärischer Allmacht. ‚Ihr seid ein Nichts!’ Das war die Botschaft der Präsidentengarde an die Protestierer, vor allem an die Frauen unter ihnen.
Wie aber geht eine Gesellschaft, seit Jahrzehnten durch Diktatur und Militär drangsaliert, mit einem solchen Schock um? Wie kann sie über Verbrechen reden, die die Militärjunta schlichtweg bestreitet, deren Opfer über Radio als „Nutten“, „Verrückte“ und „Lügnerinnen“ bezeichnet werden?
Unmittelbar nach dem 28. September richtete das Centre Mère et Enfants eine eigene Abteilung für Überlebende und Traumatisierte ein – ein mutiger Schritt, weil damit öffentlich die Existenz von Opfern benannt wurde, die es nach herrschender Propaganda gar nicht geben durfte. Zu der Abteilung, der ersten dieser Art in Guinea, gehören Chirurgen, Aids-Expertinnen, Gynäkologinnen, Psychotherapeuten, Hebammen.
Die ersten Patientinnen trafen nach einigen Wochen ein – und zwar just in dem Moment, schreiben Baldé und Zajde, da die Vereinten Nationen beschlossen hatten, Ermittler nach Guinea zu entsenden. Es kamen Mütter mit ihren 15 jährigen Töchtern, die seit der Vergewaltigung kein Wort mehr gesprochen hatten. Frauen, deren Becken gebrochen war, die an schweren Infektionen litten, schwanger geworden oder mit HIV infiziert worden waren.
Indem die internationale Gemeinschaft bestätigte, was die eigenen Machthaber leugneten, schreiben Baldé und Zajde, habe sie die Frauen ermutigt, „aus dem Versteck zu kommen“. Trotz Todesdrohungen durch Soldaten, trotz Scham und Ächtung, die manche in der eigenen Familie erfuhren. Die weltweite Anerkennung des Erlittenen, so Baldé und Zajde, „trägt zum therapeutischen Prozess der Opfer bei.“ Und macht diesen somit eminent politisch. Die Berichte von UN, Human Rights Watch und anderer Menschenrechtsorganisationen gehören inzwischen zum Lesestoff der Patientinnen im Centre Mère et Enfants.
Das Militär ist in Guinea immer noch mächtig. Aber es ist angeschlagen. Sein Führer, Präsident Moussa Dadis Camara, wurde im Dezember von einem seiner Offiziere angeschossen und lässt sich seither im Ausland behandeln. Nach Erscheinen des UN-Berichts sah sich die Armee gezwungen, eine eigene Untersuchungskommission einzusetzen. Die hat ein Massaker mit 63 Toten zugegeben. Die Schuld dafür trage allein eine abtrünnige Gruppe der Präsidentengarde. Camara wird von aller Verantwortung frei gesprochen.
Im nahe gelegenen Burkina Faso haben sich Vertreter der Militärs und der Opposition Ende Januar auf eine Übergangsregierung geeinigt. Als Premierminister wurde Jean Marie Doré, ein Oppositionspolitiker, eingesetzt. In sechs Monaten sollen Wahlen stattfinden. Allerdings hat die Armee für’s erste ein Drittel aller Posten in der Übergangsregierung besetzt, was Menschenrechtsaktivisten in Guinea alarmiert. Einige der am 28. September verhafteten Demonstranten sind bis heute verschwunden. Vergewaltigte Frauen erhalten weiterhin Drohanrufe.
Die Sanktionen von UN, EU und Afrikanischer Union gegen Junta-Mitglieder bleiben vorerst in Kraft. Mitte Februar wird Fatou Bensouda, stellvertretende Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGh), in Conakry erwartet. Die Haager Anklagebehörde will demnächst entscheiden, ob die Verbrechen vom 28. September 2009 unter die Jurisdiktion des IStGh fallen und Ermittlungen eingeleitet werden.