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Die Pakistaner glauben an die Zukunft ihres Landes

Es waren die Anschläge vom 11. September, mit denen Pakistan im Blickfeld einer breiten westlichen Öffentlichkeit auftauchte. Vor dem Beginn des Krieges gegen den Terror war es für die allermeisten Menschen im Westen noch eine terra incognita. In diesen zehn Jahren „Bekanntschaft“ wurde Pakistan zum „gefährlichsten Staat der Erde“ erklärt – ein hoffnungsloser Fall. Am 11. Mai nun wählt Pakistan ein neues Parlament. Wer sich von seinen Vorurteilen nicht lösen will, der sagt: „Na und? Was hat das schon zu bedeuten?“

Tatsächlich wird Pakistan von einem Dreigestirn der Macht beherrscht: Armee, Großgrundbesitzer und Mullahs haben das Land und seine 190 Millionen Menschen fest im Griff. Daran wird sich nichts ändern, vorerst nicht.

Trotzdem ist die bevorstehende Wahl für Pakistan ein historisches Ereignis. Nicht weil sie viel ändern würde, sondern weil sie jetzt stattfindet. Zum ersten Mal in der 65-jährigen Geschichte des Landes hat eine gewählte Regierung ihr fünfjähriges Mandat zu Ende gebracht. Das ist ein Novum. 34 Jahre seiner Geschichte wurde Pakistan von den Militärs beherrscht. Sie putschten ihnen unangenehme Regierungen einfach aus dem Amt.

Wahl unter Raketen und Bomben

Der Effekt dieser komplett absolvierten Amtszeit sollte nicht unterschätzt werden, unabhängig davon, wie gut diese Regierung wirklich war. Demokratie nämlich braucht Zeit, viel Zeit um Wurzeln zu schlagen. Menschen müssen über längere Zeit die Erfahrung machen, dass ihre Stimme zählt und respektiert wird. Die Pakistaner müssen erfahren, dass ihr in der Wahlkabine geäußerter Wille nicht jederzeit von Generälen für ungültig erklärt werden kann. Das macht sie langsam zu Bürgern. Das gibt ihnen Vertrauen und Selbstbewusstsein.

Es sollte auch nicht vergessen werden, dass die vergangenen Jahre zu den schwersten in der Geschichte Pakistans gehören. Um nur ein Beispiel zu nennen: Seit 2001 sind in Pakistan über 35.000 Menschen im Krieg gegen den Terror ums Leben gekommen; so gut wie täglich feuern Drohnen Raketen auf Pakistan ab. Könnte man sich vorstellen, dass in Deutschland eine Wahl stattfindet, während Zehntausende Menschen dem Terror zum Opfer fallen und das Staatsgebiet mit Raketen einer ausländischen Macht beschossen wird?

Deutschland ist nicht Pakistan. Doch der Vergleich macht deutlich, unter welch immensen Belastungen und Herausforderungen die Pakistaner stehen. Und trotzdem findet eine Wahl statt, trotzdem gehen Millionen in die Wahlbüros. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Pakistaner an die Zukunft ihres Landes glauben, im Unterschied zu den Kritikern im Westen. Sie glauben auch, dass sie durch ihre Stimme ihr Leben verbessern können. Das ist eine gute Nachricht, die leider allzu oft untergeht.

 

Belgrad muss die Integrität Bosniens sichern

Serbien will in die EU. Dazu muss es sich mit seinen Nachbarn aussöhnen. Das ist nicht einfach. Denn Serbien hat während des Jugoslawienkrieges beträchtliche Schuld auf sich geladen. Serbische Milizen haben 1995 im bosnischen Srebrenica 8.000 bosnische Männer massakriert. Es war das schlimmste Massenverbrechen auf europäischem Boden nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag stuft das Massaker von Srebrenica als Völkermord ein. Er hat dem serbischen Staat bereits 2007 eine Mitverantwortung an den Gräueltaten im Bosnien-Krieg zugewiesen.

Nun hat der serbische Staatspräsident Tomislav Nikolić in einem Fernsehinterview gesagt: „Ich bitte auf Knien darum, dass Serbien für dieses in Srebrenica begangene Verbrechen verziehen wird“ – das Wort Völkermord wollte er nicht aussprechen. Im Jahr 2010 hatte das serbische Parlament den Hinterbliebenen des Massakers zum ersten Mal sein Mitleid ausgesprochen. Boris Tadić, Nikolićs Vorgänger, hat bei den Trauerfeierlichkeiten teilgenommen, die jedes Jahr in Srebrenica stattfinden. Nikolićs jetzt geäußerte Bitte um Vergebung ist also ein weiterer Schritt in Richtung. Nikolić ist im Mai 2012 zum Präsidenten Serbiens gewählt worden.

Bis dahin hatte er als strammer serbischer Nationalist die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag abgelehnt. In Den Haag sitzen Ratko Mladić und Radovan Karadžić — ihnen wird die Hauptverantwortung für das Massaker in Srebrenica gegeben. Sie hielten sich bis zu ihren Festnahmen in Serbien versteckt. Nikolić hat also als Staatspräsident eine Wende vollzogen. Der Grund dafür ist die Anziehungskraft der EU. Nikolić weiß, dass die Zukunft Serbiens in der EU liegt. Alle ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken wollen Mitglied in der EU werden. Slowenien ist es bereits, im Juli wird Kroatien beitreten. Serbien möchte nun diesen Zug nicht verpassen. Darum das öffentliche Schuldeingeständnis Nikolićs.

In diesem Kontext ist auch das Abkommen zu sehen, dass Serbien mit dem Kosovo geschlossen hat. Bisher hatte Serbien die Unabhängigkeit des Kosovo nicht anerkannt. Das nun geschlossene Abkommen ist zwar keine formelle Anerkennung, aber de facto ein Eingeständnis, dass das Kosovo nicht mehr Teil des serbischen Staatsgebietes ist. Auch das Verhältnis zum Kosovo war ein entscheidender Stolperstein auf dem Weg zur EU. Alles auf gutem Wege also?

Nein, denn das zentrale Thema ist noch nicht berührt worden: die Zukunft des bosnischen Staates. Die Bosnier haben während des Krieges am meisten gelitten. 83 Prozent aller zivilen Opfer waren Bosnier. Während des Krieges haben Serbien wie auch Kroatien versucht, Bosnien unter sich aufzuteilen. Das ist nicht gelungen. 1995 intervenierte die Nato im Bosnienkrieg und erzwang einen Frieden. Heute ist Bosnien ein fragiles Staatsgebilde, das aus zwei Entitäten besteht, der serbischen Republika Srpska und der bosnischen Föderation. Doch die Integrität des bosnischen Staates ist nicht gesichert.

Es besteht der begründete Verdacht, dass Serbien den bosnischen Staat in seiner jetzigen Form immer noch nicht akzeptiert. Nikolić selbst nährt diese Furcht. Jüngst bezeichnet er sich und den Präsidenten der Republika Srpska, Milorad Dodik, als die Führer „der beiden serbischen Staaten“. Damit stellte der den bosnischen Gesamtstaat infrage. Wenn Nikolić Serbien aber in die EU führen möchte, muss er Bosnien unmissverständlich und glaubwürdig akzeptieren.

 

Was Drohnen anrichten

Drohnen töten den Feind aus der Distanz, präzise und billig. Eigene Soldaten sterben dabei nicht. Opfer unter den Zivilisten werden minimiert. Das ist der ideologische Kern des Drohnenkrieges. Er ist sehr verführerisch. US-Präsident Barack Obama setzt seit geraumer Zeit auf Drohnen und mehr und mehr Regierungen folgen seinem Beispiel. Die Aufrüstungsspirale ist im vollen Gange. Über neunzig Staaten entwickeln Drohnen oder haben sie bereits.

Auch der deutsche Verteidigungsminister Thomas de Maizière ist ein erklärter Drohnenanhänger, nur aus Wahlkampf-Gründen ist er jetzt von der Idee abgerückt, die Bundeswehr umgehend mit bewaffneten Drohnen auszustatten. Wie seine Amtskollegen verspricht auch er sich Sicherheit durch diese neue Waffentechnik.

Die Realität freilich sieht anders aus. Drohnen werden heute fast nur in Stammesgebieten eingesetzt – im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan, in Jemen, in Mali, auf den südlichen Philippen, in Somalia. Die Stämme haben ihren eigenen Ehrenkodex: „Wenn Sie in diesen Gebieten einen Menschen töten, schaffen Sie sich vielleicht 100 Feinde!“ Das sagt der pakistanische Autor Achbar Ahmed. Er hat ein ebenso erschütterndes wie aufklärendes Buch über den Drohnenkrieg geschrieben: The Thistle and the Drone.

Man kann dort nachlesen, was die Drohnenkrieger nicht hören und nicht sehen wollen. Dieser Krieg wird gegen sehr rückständige Gesellschaften geführt, er zerstört ihren sozialen Zusammenhalt, er radikalisiert sie und zwingt sie geradezu zur Reaktion.

Unsere fortgeschrittenen Gesellschaften führen also einen erbarmungslosen Krieg gegen Stämme. Das Ergebnis ist noch mehr Gewalt — sie destabilisiert die betroffenen Staaten. An Pakistan lässt sich das am besten zeigen. Je stärker man den Krieg in den Grenzregionen intensivierte, desto härter waren die Reaktionen. Die pakistanischen Taliban wurden mit dem Beginn des Drohnenkrieges stärker. Sie sind heute eine Bedrohung für den Staat. Der Hass gegen den Westen wächst in der pakistanischen Gesellschaft insgesamt.

Achbar Ahmed kennt die Stammesgesellschafen. Er hat als politischer Beamter im Grenzgebiet zu Afghanistan gearbeitet. Er weiß um ihre Rückständigkeit, wie auch um ihren Stolz und den eisernen Willen, die eigene Identität zu verteidigen. Und er weist auf etwas hin: Auch Osama bin Laden war ein Stammeskrieger.

 

Die M5S verhöhnt Italiens Wähler

Die Bewegung Movimento 5 Stelle (M5S) von Beppe Grillo nimmt für sich in Anspruch, die einzige Kraft Italiens zu sein, die einen Wandel will. Das ist ihr gutes Recht. Verstörend bei Grillo sind seine Sprache, seine Arroganz und seine autoritären Neigungen. Nach Grillos Diktion sind alle anderen politischen Parteien nichts weiter als Angehörige eines morschen Systems, das zum Untergang verurteilt ist. Jeden Versuch der etablierten Parteien, Italien eine Regierung zu geben, verspottet Grillo.

Das ist ein schwerer Fehler. Wenn Grillo und seine Leute sich über die anderen Parteien lustig machen, dann verhöhnen sie die große Mehrheit der Wähler, die nicht für die M5S gestimmt hat. Angesichts der Propaganda Grillos muss man daran erinnern: Ein Viertel der Italiener, die wählen gegangen sind, haben für M5S gewählt — eine Mehrheit ist das bei Weitem nicht.

Doch Grillo und sein M5S führen sich auf, als seien sie die einzigen Repräsentanten des italienischen Wahlvolkes. Das sind keine rein propagandistischen Aussagen, sondern sie zeigen den ideologischen Kern Grillos. Er sieht sich als Inkarnation eines imaginierten Volkswillens. In ihm und durch ihn spricht das Volk mit einer Stimme. Darum sagt er auch, er wolle nicht „25, 30 oder 60 Prozent, sondern 100 Prozent“ der Stimmen. Grillo sieht sich als Mann, in dem sich der uniforme Volkswillen manifestiert. Der Führer als Agent des Volkes — das ist ein gefährliches ideologisches Konstrukt.

Es gibt den einen Volkswillen freilich in der Wirklichkeit nicht. Die italienische Gesellschaft besteht — wie jede andere moderne Gesellschaft auch – aus Individuen mit unterschiedlichen Interessen. Und diese Individuen wählen Parteien, darunter (immer noch) auch etablierte Parteien. Wenn Grillo den Willen der Wähler wirklich respektieren würde, dann müsste er tun, was zu den schwierigsten und wichtigsten Aufgaben des Politikers gehört: Kompromisse suchen.

 

Grillo und die zähmende Kraft des Parlamentes

Beppe Grillo lebt von der permanenten Erregung. Daher verstärkt der Führer des Movimento 5 Stelle (M5S) seine Attacken auf das System — wie er es nennt. Er will seinen Zusammenbruch erreichen. Grillo setzt auf Schnelligkeit. Er muss das tun. Denn die revolutionäre Hochstimmung seiner Anhänger wird bald verfliegen. Revolutionäre sind Kurzstreckenläufer. Die lange Strecke ist ihre Sache nicht. Das ist ihre Schwäche.

Der Marathon ist hingegen die Spezialität der viel gescholtenen repräsentativen Demokratie. Sie ist langsam, mühselig, und doch leistet sie das Entscheidende: Sie stellt über viele Verfahren den Konsens her, den eine Gesellschaft benötigt. Dafür braucht es Zeit. Die aber will ihr Grillo nicht lassen, die darf er ihr nicht lassen, wenn er weiter Erfolg haben will. Darum ist der entscheidende Kampf, der im Moment in Italien stattfindet, der Kampf um die Zeit.

Grillos Problem ist, dass sich seine M5S jetzt durch den Wahlsieg im Herzen der Demokratie befindet, im Parlament. Und je länger die Grillini dort sitzen, desto mehr bekommen sie das Eigengewicht und die Struktur dieser Institution zu spüren. Ein Präsident wird gewählt, Fraktionen werden gebildet, Ausschüsse besetzt und vieles mehr. Strukturen aber fürchtet Grillo. Bei ihm ist alles Bewegung. „Wir haben keine Strukturen, Hierarchien, Chefs, Sekretäre“ — das sagt Grillo über den M5S. Es muss alles im Fluss bleiben. Nur dann kann er sich als autoritärer Führer halten.

Grillo will deshalb möglichst bald wieder aus dem Parlament auf die Straße. Er will Neuwahlen und hofft dann seine Truppen soweit verstärken zu können, dass die M5S dem „morschen System“ den Todesstoß versetzen kann. Im Interview mit Time sagte er: „Wir wollen nicht 25, oder 30 Prozent, sondern 100 Prozent!“ Alles oder nichts.

Doch inzwischen verrichten die Institutionen ihr zähes Werk. Sie stellen qua Verfahren die Abgeordneten der M5S vor die Frage: Wen unterstützt ihr? Wen wählt ihr? Zuletzt mussten der Senat und die Abgeordnetenkammer bestimmt werden. Grillo wollte, dass die M5S niemanden unterstützten. Doch einige Grillini haben die Kandidaten der Sozialdemokraten unterstützt. Diese Abweichler sind dem Gewicht der Institutionen erlegen. Man könnte auch sagen: Sie haben verstanden, dass sie nun, da sie gewählt sind, Verantwortung für das ganze Land haben.

 

Verantwortungslos

 

Er äußert sich vulgär und verweigert die Zusammenarbeit. Das Verhalten des italienischen Protestpolitikers Beppe Grillo ist unangebracht.

© Giorgio Perottino/Reuters

Beppe GrilloBeppe Grillo

An das Charisma von Beppe Grillo kommt er nicht ran: Der Sozialdemokrat Pier Luigi Bersani wirkt hölzern und redet umständlich. Er ist ein Mann des Apparates. Das ist einer der Gründe, warum Bersani die Wahlen verloren hat. „Wir sind zwar Erster, aber gewonnen haben wir nicht!“ – auf diese seltsame Formel brachte er das Wahlergebnis des vergangenen Wochenendes. Bersanis PD lag letztlich nur mit hauchdünnem Vorsprung vor Silvio Berlusconis Partei PdL. Dabei hatte sie in den Umfragen vor wenigen Wochen noch weit vorne gelegen.

Bersani ist der Verlierer der Wahl. Doch tut er jetzt, was nötig ist. Er versucht dem wirtschaftlich gebeutelten Italien eine halbwegs stabile Regierung zu geben. Dazu braucht er eine Mehrheit innerhalb des Parlaments. Eine Koalition mit Silvio Berlusconi will er aus verständlichen Gründen nicht eingehen. Darum ist er vom ersten Tag an auf die Movimento 5 Stelle (M5S) von Beppe Grillo zugegangen.

Bersanis Vorschläge: Reform des Wahlgesetzes, Halbierung der Zahl der Parlamentsabgeordneten, tiefe Einschnitte im Militäretat, radikale Senkung der Verwaltungskosten, Gesetz gegen die Interessenkonflikte der Politiker. Dem M5S dürften diese Maßnahmen gefallen – vor allem die Senkung des Militäretats und die Halbierung der Zahl der Parlamentsabgeordneten.

Grillo muss Kompromisse eingehen

Doch was antwortet Beppe Grillo? „Diese Leute sind Arschgesichter! Sie benehmen sich wie vulgäre Verführer!“

Und auch auf die eigenen Leute schimpft er. Innerhalb des M5S sollen einige ihre Bereitschaft signalisiert haben, mit Bersani zusammenzuarbeiten. Grillos Reaktion: „Das sind Infiltrierte“ – das heißt so viel wie: Das sind Agenten des Feindes.

Nun kann Grillo über die Vorschläge anderer denken, was er will. Er darf freilich auch seine üblich vulgäre Sprache pflegen. Doch wenn er seine Bewegung als verantwortungsvollen Akteur versteht, muss er in der Lage sein, Koalitionsverhandlungen zu führen. Er muss Kompromisse eingehen können.

Die italienische Justiz wirft Exministerpräsident Berlusconi vor, beim Handel mit TV-Rechten die Steuerbehörden getäuscht zu haben. Am Donnerstag war zudem ein neuer Korruptionsverdacht gegen ihn laut geworden. [Video kommentieren]

Um eine Regierung zu bilden, braucht es das Vertrauen einer Mehrheit im Parlament. Darum müssen Verhandlungen geführt werden. Grillo hält dies für „Kuhhandel“ und die „übliche Art, Politik nach Nuttenart“ zu betreiben.

Und weil er das so sieht, hat er in den Verhaltenskodex für die Abgeordneten des M5S schreiben lassen: „Die parlamentarischen Gruppen des M5S dürfen mit keinen anderen Parteien zusammengehen noch koalieren, außer bei Abstimmungen über gemeinsame geteilte Programmpunkte.“

Im Klartext: Grillo verbietet seinen Abgeordneten jede Zusammenarbeit, die zur Bildung einer Regierung führen kann. Er will das System sprengen, will sich nicht an die Regeln halten. In seinen Augen ist das alles morsches Zeug, das weggehört. Das mag folgerichtig sein, ist aber verantwortungslos.

 

 

Grillo sollte abtreten, jetzt sind die „Grillini“ dran

Beppe Grillo muss man fürchten, seine Wähler aber nicht. Das ist der erste Schluss, den man aus dem erstaunlichen Erfolg von Grillos Partei Movimento 5 Stelle (M5S) ziehen sollte. Grillo ist ein gnadenloser Populist. Wie ein Rammbock hat er die Türen des Palastes eingetreten. Das ist durchaus ein Verdienst. Denn die politische Kaste Italiens hatte sich vom Volk abgeschottet. Sie kreiste um sich selbst. Was draußen geschah, das verstand sie nicht mehr. Sie hörte weder den Zorn der Massen, noch erkannte sie, was da auf sie zu kam. Sie war blind und taub. Und nun steht der Wüterich Grillo mitten auf der politischen Bühne, geifert, tobt und schreit. Niemand kann ihn mehr ignorieren.

Grillo gibt denen eine Stimme, die nicht gehört wurden. Und er verschaffte ihnen politische Macht. Die „Grillini“ stellen jetzt im italienischen Parlament über einhundert Abgeordnete. Sie sitzen innerhalb der Gemäuer des von Grillo so geschmähten Palastes. Jetzt haben sie die Macht, ihre Pläne umzusetzen. Sie können an einem besseren System mitbauen.

Dass die „Grillini“ das tun wollen, zeigen sie seit einiger Zeit in Sizilien. Dort wurden sie bei den Regionalwahlen im vergangenen Jahr zur stärksten Partei. Die Abgeordneten des Movimento 5 Stelle im sizilianischen Regionalparlament haben umgehend ihr Einkommen radikal gekürzt. Das eingesparte Geld floss in einen Fonds, der Mikrokredite für Unternehmensgründer auszahlte. Das war eine überzeugende Maßnahme. Denn die Italiener sind es leid, eine ebenso teure wie inkompetente politische Kaste zu unterhalten, während gleichzeitig ihre Wirtschaft immer tiefer in die Rezession rutscht.

M5S will keiner Partei ein grundsätzliches Vertrauen aussprechen. Im sizilianischen Parlament unterstützten sie die Regionalregierung von Fall zu Fall. Immer dann, wenn eine Initiative der Regierung ihren Ideen entgegenkommt. So wollten sie es auch im Parlament halten. Dieses Verfahren dient zwar nicht der Bildung einer stabilen Regierung. Denn ohne grundsätzliches Abkommen — ohne formelle Koalition — kann jede Regierung nur Stück für Stück vorankommen. Und sie ist immer in Gefahr, gestürzt zu werden, weil ihr die Grillini die Mehrheit jederzeit entziehen können. Trotzdem: Eine Politik der totalen Blockade ist es nicht.

Die Wähler und die Abgeordneten des M5S wollen also ein besseres Italien schaffen. Sie wollen bauen, nicht zerstören. Ihr Chef Grillo aber ist ein Zerstörer. Er befindet sich im Dauerkrieg mit einem nicht genauer beschriebenen System. Bauen ist seine Sache nicht. Das aber ist jetzt von Nöten. Grillo sollte jetzt abtreten, er hat seine Funktion erfüllt. Jetzt sind die Grillini dran. Zöge er sich zurück, könnte ihm der Staatspräsident sogar eine Medaille verleihen („Verdienste um die Demokratie“) – und Grillo dürfte wieder auf seine angestammte Bühne zurück, auf die des Kabaretts.

 

Was man über Beppe Grillo wissen sollte

Beppe Grillo wird gern ein Komiker genannt. Doch das war er einmal. Jetzt ist er Politiker. Einen Komiker muss man nicht nach seiner Weltanschauung fragen, einen Politiker schon.

Wie also sieht das Weltbild des Beppe Grillo aus? Wohin will er Italien führen? Was sind seine Ideen? Wie setzt er sie um?

Im Jahr 2011 veröffentlichte Grillo zusammen mit Gianroberto Casaleggio ein Buch. Es ist 150 Seiten stark und so etwas wie die weltanschauliche Grundlage der Grillini. Es ist ihre Bibel. Das Buch trägt den martialischen Titel: „Wir sind im Krieg — für eine neue Politik“.

Darin heißt es: „Es handelt sich um einen totalen Krieg, der jeden Aspekt unseres Lebens betrifft und alle ökonomischen und sozialen Strukturen infrage stellt, die seit Jahrhunderten als gegeben hingenommen werden.“

Der Agent dieses radikalen Wandels ist das Internet. Er werde das Neue erzwingen — doch das Alte werde nicht ohne Widerstand weichen. Das Internet ist für Grillo-Casaleggio geradezu ein revolutionäres Subjekt. Es erscheint nicht als Technik, sondern als ein Demiurg, der eine neue Welt gebären wird. „In diesem Krieg wird das Alte sterben, doch es wird nicht vergehen, ohne sich vorher mit allen Mitteln verteidigt zu haben. (…) Der Krieg wird lange dauern. In Italien kontrollieren die Parteien die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Information, den Handel, das Transportwesen, die Gesetze und ihre Umsetzung. Um sich zu schützen, haben sie einen Haufen Gesetze gegen das Netz erlassen. Sie glauben, sie seien unverwundbar, aber die Bürger werden Dank des Netzes in die Paläste der Macht eindringen.“

Es gibt bei Grillo-Casaleggio nur das „Alte“ und das „Neue“, das „Die“ und das „Uns“. Grillo spricht auch gerne von den „Hurensöhnen“. Es ist ein manichäisches Weltbild, das keine Differenzierungen zulässt. Was die Zukunft betrifft, gibt es nur eine Alternative: Mitmachen oder untergehen. „Sozialismus oder der Tod“ wird hier zu „Das Netz oder der Tod“. Es ist beides totalitär.

Grillo und Casaleggio behaupten auch, dass durch das Netz jeder Mensch endlich gleich viel wert sei. „Alle Menschen sind gleich“ – das hat zwar schon Thomas Jefferson bei der Unabhängigkeitserklärung der USA verkündet, doch bei Grillo-Casaleggio hat es eine andere Bedeutung: Jeder kann alles machen, es gibt keine Hierarchien mehr.

Dazu schreiben die beiden: „Wenn jeder gleich viel wert ist, hat es keinen Sinn mehr, von politischen Führern zu sprechen. Dann ist das ein Widerspruch in sich. Die Herren der Vorsehung gehören einer infantilen Vorstellung der Politik an. Wer sich heute als leader bezeichnet, den müsste man zwangsbehandeln.“

Grillo bezeichnet sich denn auch gerne als der Sprecher des Movimento 5 Stelle (M5S). In der Praxis aber sind er und sein Partner Casaleggio die unumstrittenen Anführer. Sie greifen von ganz oben nach ganz unten durch. Das haben verschiedene Grillini schon zu spüren bekommen. Einige sind ausgeschlossen worden, weil sie eigenständige Wege gehen wollten, Interviews und Gespräche müssen vom Chef genehmigt werden. Grillo – der sich auch gegen das Urheberrecht wendet — hat den Namen und das Symbol des M5S patentieren lassen. Jeder, der es verwenden will, braucht seine Erlaubnis. Und nach den Regionalwahlen in Sizilien im Jahr 2012, bei denen M5S zur stärksten Partei wurde, sagte er: „Wir werden über das, was wir nun anpacken, gemeinsam reden, ich aber muss der Chef der Bewegung sein.“

25 Prozent der Italiener haben sich für die Bewegung dieses Mannes entschieden.

 

 

Ein Schein von Staat

Lampedusa

In der unsichtbaren Mauer, die durch das Mittelmeer gezogen wird, ist die Insel Lampedusa ein Festungsturm. Armee, Küstenwache, Finanzpolizei, Carabinieri – Italien und Europa zeigen hier den unerwünschten Ankömmlingen ein grimmiges Gesicht. Alles scheint zu sagen: „Wir kümmern uns. Hier herrschen Recht und Gesetz!“ Diese Botschaft ist nicht nur für Lampedusa gedacht. Im Frühjahr 2011 waren mehr als 7.000 Flüchtlinge auf der Insel untergebracht. Die Lampedusaner waren binnen kürzester Zeit zur Minderheit auf ihrer Insel geworden. Hunderte Flüchtlinge brachen aus dem überfüllten Aufnahmelager aus. Es kam zu einer Rebellion. Dabei verbrüderten sich Insulaner und Flüchtlinge. Sie begehrten gemeinsam gegen die Gleichgültigkeit des Staates auf. Die Bilder beschädigten das Image Italiens und gaben den Populisten Nahrung. Überschwemmung, Invasion, menschlicher Tsunami — Europa wird in Lampedusa überrannt. Damit gingen Parteien wie die rechte Lega Nord auf Stimmenfang. Gleichzeitig hob die Klage gegen Brüssel an. Wo war Europa jetzt, da man es dringend brauchte? War Immigration nicht ein gemeinsames Problem? Lampedusa eignete sich zum Schüren antieuropäischer Ressentiments. Italien erschien in jenem Frühjahr überfordert, unfähig und kaltherzig, und Europa war für die Italiener ein leerer, bedeutungsloser Begriff.

Die Italiener werden bei den bevorstehenden Wahlen nicht nur über das weitere Schicksal ihres Landes entscheiden; ihre Entscheidung könnte weitreichende Konsequenzen für ganz Europa haben. Aber wie europäisch ist Italien, das sich nun als Schlüsselland des Kontinents präsentiert? Wie stark, wie modern ist der Staat, der jetzt unter dem Druck der Euro-KriseReformen durchsetzen soll? Wie ausgeprägt sind Bürgersinn und Respekt vor dem Recht, die für eine Reformpolitik nicht weniger wichtig sind als ökonomische Disziplin?

In Lampedusa zeigt der Staat seit dem Frühjahr 2011 jedenfalls Präsenz. Der Priester, der Lokalpolitiker, die Hoteliers, die Restaurantbesitzer, mit wem man hier auch spricht, jeder bestätigt das. Doch überall ist auch tief verwurzeltes Misstrauen spürbar. „Italien“, sagt Lampedusas Bürgermeisterin Giusi Nicolini, „ist für mich auch die Sehnsucht, zu etwas Größerem zu gehören, zu einer demokratischen Gemeinschaft!“ Aber diese Sehnsucht der Bürgermeisterin wird nicht erfüllt. Der Staat bleibt für die Lampedusaner ein fernes Wesen. An seinen Schaltstellen sitzt eine politische Kaste, die in erster Linie mit sich selbst beschäftig ist. Sie hat Uniformierte geschickt, für Notfälle stehen sie bereit. „Immigration ist keine Ausnahmesituation“, sagt Nicolini, „sie ist ein historischer Prozess, der unsere Insel vor fünfzehn Jahre erfasst hat. Immigration ist unser Alltag, und sie wird unser Alltag bleiben.“ Doch das Alltägliche interessiert den italienischen Staat wenig. Meist überlässt er die Bürger sich selbst.

Die Lampedusaner haben sich darin eingerichtet. Sie pflegen die alte italienische Kunst des Sich-Arrangierens. Die Auswirkungen sind verheerend. Lampedusa hat offiziell Unterkünfte für 2.000 Touristen, in Wahrheit finden im Sommer bis zu 40.000 Platz. Die Insel, gerade mal 22 Quadratkilometer groß, ist übersät mit Häusern. Fast alle wurden illegal gebaut. Bis heute hat die Gemeinde keinen Bebauungsplan. Lampedusa ist so klein, dass jedem einleuchten müsste, wie selbstmörderisch das ist.

Zugleich zeigt sich hier eine perverse Symbiose zwischen Bürgern und Regierenden. Die Illegalität ist für Politiker eine gewaltige Stimmenbeschaffungsmaschine. Condono ist der zentrale Begriff: Strafnachlass. Wer gestern noch illegal gebaut hat, dessen Haus wird heute gegen die Zahlung eines meist geringen Bußgeldes legalisiert, dank der von der Regierung erlassenen Strafe. Das bedeutet nicht das Ende der Illegalität. Es wird weiter wild gebaut. Denn der Staat, der in Lampedusa so stark tut, ist in Wahrheit sehr schwach. Er ist nicht willens oder nicht in der Lage, die Gesetze durchzusetzen. Das weiß jeder Bürger, das erlebt er tagein, tagaus — und er zieht daraus seine Konsequenzen. Je mehr Leute illegal bauen, desto wahrscheinlicher ist ein weiterer Strafnachlass. Silvio Berlusconi ist der Politiker, der im Wahlkampf Sündern aller Art Gnade verspricht. Und die Sünder schenken ihm die Stimme, das ist die Geschäftsgrundlage zwischen dem Patron und seinen Klienten.

Lampedusa ist trotz allem keine Piratenhochburg. Auch hier gibt es aufrechte Kämpfer für Recht und Ordnung. Giovanni Fragapane war zehn Jahre lang Bürgermeister, zwischen 1983 und 1993. Er hat ein Buch mit dem Titel Lampedusa geschrieben. 550 Seiten Geschichte hat Fragapane dem schroffen Stein inmitten des Meeres abgerungen. „Einen Beweis meiner Liebe“ nennt er das Buch.

Doch seine Liebe brennt nur mehr im Verborgenen, denn Fragapane hat sich zurückgezogen, enttäuscht von den Institutionen, enttäuscht auch von den Mitbürgern, die sehenden Auges ihre Heimat plündern. Es war nie jemand da, der die Insel vor Gier und Ausbeutung schützte. Auch dieEuropäische Union blieb untätig. Fragapanes Vater war Fischer, ein guter Fischer, wie der Sohn sagt. Er habe es geschafft, auch bei starkem Gegenwind, in den kleinen Hafen von Lampedusa einzulaufen, was nicht jedem gelinge. Er habe Fische und Schwämme in rauen Mengen aus dem Meer geholt. Doch heute sind die Fischgründe leer gefischt, die Schwämme sind seltener geworden, die Preise verfallen. Gegen die Überfischung, sagt Fragapane, gebe es viele Verordnungen aus Brüssel. Doch geholfen hätten sie nicht, sie seien Papierwerk geblieben. Lampedusa ist eine Außengrenze Europas, sie wird „verteidigt“ – und wenn auch nur gegen Flüchtlinge, die auf überfüllten Booten, geschwächt und halb verdurstet, übers Meer kommen. Der Festungsturm Lampedusa soll durch Wehrhaftigkeit abschrecken, doch im Inneren herrschen Gesetzlosigkeit und Schwäche.

Ventotene

Italien ist ein Geburtsland der Europäischen Union, und das hat mit einer winzigen Insel namens Ventotene zu tun. Im Jahr 1941 beugte sich hier ein Gefangener namens Altiero Spinelli über einen grob zusammengezimmerten Tisch und arbeitete sich schreibend durch die europäische Geschichte. Er analysierte die Gründe für den Aufstieg desFaschismus, er beleuchtete die gesellschaftlichen Kräfte, die dafür verantwortlich waren. Er war 34 Jahre alt und saß schon seit vierzehn Jahren im Gefängnis. Als er verhaftet wurde, war er noch Kommunist gewesen, doch vom Kommunismus hatte er sich gelöst. Die Schrecken des Stalinismus der dreißiger Jahre hatten ihn geläutert. Er suchte einen Weg zwischen den Extremen, die Europa zerrissen.

In der Einsamkeit Ventotenes, während Mussolini Italien beherrschte und sein Verbündeter Adolf Hitler fast ganz Europa unterworfen hatte, notierte Spinelli: „Das Problem, das in erster Linie zu lösen ist, ist die definitive Abschaffung der Nationalstaaten. Wenn das nicht gelingt, ist jeder Fortschritt unmöglich.“ Spinelli entwarf eine europäische Ordnung für die Zeit nach der Niederlage von Faschisten und Nazis, die zu diesem Zeitpunkt alles andere als sicher erschien. Das Dokument wurde aus dem Gefängnis geschmuggelt, es zirkulierte unter Partisanen und prägte ihr Bild von einer friedlichen Zukunft. Noch zerfleischten sich die Europäer gegenseitig, doch das würde bald eine Ende haben. Das Rezept für einen ewigen Frieden auf diesem blutgetränkten Kontinent – das war das Versprechen des Manifests von Ventotene. Darin bestand seine revolutionäre Kraft. Europa als Antwort auf Faschismus und Krieg. 1941 wirkte das Manifest von Ventotene noch wie die Vision eines hoffnungslosen Träumers, geschrieben auf einem Eiland, das schon den alten Römern als Insel der Verbannten bekannt war.

Und heute? 700 Einwohner hat Ventotene im Sommer; im Winter ist es nicht einmal die Hälfte. Der Gründungsmythos der EU hat sich in den Körper Ventotenes eingeschrieben: Plaketten, Inschriften, eine Bibliothek, Tagungen, Veranstaltungen — die winzige Insel will sich eine große Identität verleihen. Sie hat ja auch eine Geschichte voller Pathos zu bieten: Europa wurde in der Gefangenschaft geboren. Die Befreiung gelang. Ein Gebäudeflügel des Europäischen Parlaments in Brüssel ist nach Spinelli benannt.

Doch der Mythos hat seine Kraft verloren. Das Pathos wirkt angesichts der gegenwärtigen Lage schal. Rund 30 Prozent der italienischen Jugendlichen sind arbeitslos. Sie leben in einer anderen europäischen Wirklichkeit, die jenseits der wohltönenden Rhetorik über die Europäische Union liegt. Der Bürgermeister von Ventotene, Giuseppe Assenso, lebt genau auf der Grenze, an der Bruchstelle zwischen diesen beiden Welten. Er steht als Lokalpolitiker mittendrin in dem von der Wirtschaftskrise geschüttelten Italien – und gleichzeitig pflegt und poliert er als Bürgermeister Ventotenes die Oberfläche Europas.

Da das Wetter umzuschlagen droht und die nächsten Fähren wahrscheinlich nicht mehr auslaufen können, ist Assenso von Ventotene auf das Festland in die Stadt Formia gekommen, um zu reden. Im bürgerlichen Café Tirreno spricht er in eleganten Worten von seinen europäischen Überzeugungen. Als aber der Name Mario Monti fällt, des europäischsten aller Spitzenkandidaten bei dieser Wahl, sagt er knapp: „Er hat uns nur gepeinigt! Er hat von uns nur genommen und uns nichts gegeben!“ Monti, der Europäer, ist für Assenso eine Fehlbesetzung. Er bevorzugt offenbar einen anderen Kandidaten: Berlusconi, ausgerechnet den Mann, den Europa am meisten fürchtet.

„Berlusconi ist der einzige Kandidat, der den Italienern Hoffnung gibt!“

Aber er macht seit zwanzig Jahren Versprechungen!

„Alle anderen sprechen nur in düsteren Worten über unsere Lage. Er nicht!“

Berlusconi hat ein großes Publikum, das bereit ist, ihm zu glauben. In dem, was Bürgermeister Assenso sagt, drückt sich auch die politische Kultur des Landes aus. Sie ist geprägt von einer weit verbreiteten Vergesslichkeit. Sie hat die Erinnerung an Berlusconis nicht gehaltene Versprechungen verblassen lassen – genauso wie die Erinnerung an die große europäische Tradition Italiens. Diese Amnesie verbindet sich mit dem Glauben, immer irgendwie durchkommen zu können. Mit Geschick, Schläue und Kreativität lässt sich angeblich jedes Schicksal meistern. Auch das hat mit dem abwesenden, schwachen Staat zu tun, der zwar Regeln setzt, aber sie nicht durchsetzen kann und dies vielleicht auch nicht will. Wo der Staat nicht ist, muss sich der Bürger selbst zu helfen wissen. Die Euro-Krise hat den italienischen Staat zum Handeln gezwungen, angeführt von Mario Monti, griff er in Bereiche ein, die normalerweise unbehelligt blieben: die Steuerhinterziehung zum Beispiel. Die Gegenreaktion aus dem „staatsfreien“ Raum ließ nicht auf sich warten: Sie nahm die Gestalt von Silvio Berlusconi an.

Predappio

Im schummrigen Licht der Krypta für den faschistischen Diktator Benito Mussolini knien Pilger, sie sprechen ein Gebet, verharren in Stille und tragen dann in ein dickes Gästebuch, das auf einer italienischen Nationalflagge aufgeschlagen liegt, ihre Gedanken ein. Was bewegt sie? Wenn man die Summe der vielen Einträge zu ziehen versucht, dann ist es der brennende Wunsch nach klaren Verhältnissen, nach jemandem, der aufräumt und den Weg frei macht, damit wieder Großes unternommen werden kann: „Gott gebe uns einen Mussolini, nur für einen Monat!“

Predappio ist seit vielen Jahrzehnten der Wallfahrtsort für Neofaschisten. In einer ganzen Reihe von Geschäften können sich Mussolinis Anhänger mit Devotionalien eindecken. Büsten des Duce sind der Renner. Auch T-Shirts mit aufgedruckten martialischen Sprüchen verkaufen sich gut. Hier kann man in einem Laden mit dem Namen „Ultima Bandiera“ (Die letzte Fahne) die zweite Ehefrau des jüngsten Sohnes von Mussolini treffen und sich von ihr die Vorzüge des leider, leider verstorbenen Duce darlegen lassen; man kann mit ihr am Grab Mussolinis stehen und ihr zusehen, wie sie betet und sich Tränen aus den Augenwinkeln wischt. In der kalten, düsteren Krypta wirkt sie wie ein Gespenst, wie ein Wesen aus einer anderen Zeit.

Doch diese Zeit will nicht vergehen. Als Berlusconi 1994 in die Politik eintrat, lobte er ausdrücklich die neofaschistische Partei. Später bildete er mit ihr eine Koalition. Mussolini ist ein Untoter, der in seinem Geburtsort Predappio und in ganz Italien seit geraumer Zeit umgeht. Neu ist heute der Kontext. Es herrscht die tiefste Krise der europäischen Nachkriegszeit, und, wie es einer in Predappio ausdrückt: „Krisen kennen wir in Italien viele, sie hatten alle ein Ende. Doch diese hier scheint ohne Ausgang!“ Die empfundene Perspektivlosigkeit lähmt die Gedanken und nährt die Sehnsucht nach einfachen Lösungen. Die durch die Euro-Krise beschleunigte, schmerzhafte Modernisierung Italiens erzeugt einen Fluchtreflex — auch in eine düstere Vergangenheit.

Das hat Silvio Berlusconi verstanden. Ausgerechnet am Holocaust-Gedenktag, bei der Einweihung eines Mahnmals in Mailand, sagte er: „Mussolini hat auch viel Gutes getan!“ Die Empörung war groß, doch die Botschaft war abgesetzt. Sie kommt bei vielen an. Das hat auch der Komiker und Neu-Politiker Beppe Grillo begriffen. Er lud die Aktivisten der neofaschistischen Organisation „Casa Pound“ zur Zusammenarbeit mit seiner Bewegung ein. Benito Mussolini bewegt also immer noch eine ganze Menge Stimmen.

Das Predappio Mussolinis ist kein schöner Ort, doch es gibt noch ein anderes Predappio, das ursprüngliche Dorf, ein paar Häuser auf einem steilen Hügel, die sich im Schatten einer mittelalterlichen Burg ducken. Sympathien für Mussolini äußert hier niemand; tatsächlich hat Predappio mit großer Mehrheit einen linken Bürgermeister gewählt, Giorgio Frassineti vom sozialdemokratischen Partito Democratico. Er ist ein kleiner, kugelrunder Mann, wendig wie eine Katze. Er liebt es, Bürgermeister von Predappio zu sein. Das sei eine besondere Aufgabe. Er muss sich immer nur mit den Worten „Ich bin der Bürgermeister von Predappio“ vorstellen, um entweder eine gewisse Verstörung auszulösen – oder helle Begeisterung. Das Spiel mit den Zuschreibungen amüsiert ihn prächtig.

„Predappio hat nun einmal diese Geschichte, die kann man nicht auslöschen!“ Das sagt er als einer, der in seiner politischen Biografie außen links begann und heute links der Mitte gelandet ist. „Es gibt viele junge Leute, die zur Krypta Mussolinis pilgern. Ich rede mit denen. Ich finde es schrecklich, wenn sie dem Faschismus nachhängen. Doch man muss sie ernst nehmen. Denn sie stellen sehr oft die richtigen Fragen: Warum habe ich keine Arbeit? Warum habe ich keine Zukunft? Warum werden wir betrogen? Warum stiehlt die Elite so schamlos? Warum sollten wir nicht Nationalisten sein? Wozu sind wird überhaupt Europäer, wenn es uns nichts bringt? Wozu taugt diese Demokratie überhaupt?“

Mailand, Bocconi-Universität

Das Gebäude der privaten Wirtschaftsuniversität Bocconi ist ein verschachtelter Bau aus Sichtbeton, der durch viel Glas Transparenz vermittelt, gleichzeitig aber kühle, überlegene Macht ausstrahlt. Hier wird die Elite Italiens ausgebildet. Mario Monti war einmal Rektor der Bocconi-Universität. Als er im Herbst 2011 in äußerster Not zum Ministerpräsidenten ernannt wurde, holte er fast alle seine Minister von dieser Hochschule. „Es ist eine der Stärken der Bocconi“, sagt ihr heutiger Rektor Andrea Sironi, „der öffentlichen Verwaltung Personal zur Verfügung zu stellen.“

Die Welt scheint an der Bocconi noch in Ordnung zu sein. 94 Prozent aller Absolventen finden nach ihrem Abgang Arbeit, auch jetzt, in Zeiten der Krise, sind sie noch begehrt. Die Zahl der Studenten aus aller Welt ist ziemlich hoch, was für italienische Universitäten etwas Besonderes ist. Denn sie haben einen schlechten Ruf, sie sind unterfinanziert, sie haben wenig Lehrpersonal von hoher Qualität, und wer sie absolviert, muss sich häufig in das Heer der jugendlichen Arbeitslosen einreihen – oder er flüchtet ins Ausland. Die besten Köpfe verlassen Italien, das ist bereits seit Jahren ein Problem. Inzwischen gehen viele schon gar nicht mehr an die Universität. Im vergangenen Jahr sank die Zahl der Erstsemesterstudenten landesweit um 58.000. Die Nachricht platzte wie eine Bombe mitten in den Wahlkampf.

Die Bocconi berührt all die Aufregung auf den ersten Blick nicht. „Wir konzentrieren uns darauf, unsere Arbeit so gut wie möglich zu machen“, sagt Rektor Sironi und wirkt dabei wie der Kapitän eines Luxusschiffes, das jeden noch so heftigen Sturm überstehen kann. Dabei ist gewiss auch den Professoren der Bocconi nicht entgangen, dass die einjährige Regentschaft ihres ehemaligen Rektors im besten Falle als durchwachsen betrachtet werden kann. Monti hat erfahren müssen, dass es nicht reicht, sich als ein Techniker zu verstehen und sich nur der Sache verpflichtet zu fühlen.

Je länger Monti regierte, je härter er durchgriff, desto mehr politische Zustimmung benötigte er, im Parlament, aber auch in der Öffentlichkeit. Als guter Politiker hätte er viel Überzeugungsarbeit leisten müssen – doch das tat er nicht, oder er begann zu spät damit. Vermutlich war er von der Richtigkeit seiner Sache zu sehr überzeugt, sie erschien ihm evident. Darin ist auch ein Abglanz einer Eliteuniversität zu erkennen, die mit der Mehrheit der Leute, dem „einfachen Volk“, zumindest fremdelt. Sie spricht die Sprache derer nicht, die draußen vor dieser Zitadelle des Wissens und der Macht versuchen, mit tausend Mühen durch die Krise zu kommen. „Wir sehen die ersten Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung“, sagt Rektor Sironi. Aber selbst wenn er recht hätte – wer hört das draußen auf dem Politbasar, wo der Traumverkäufer Silvio Berlusconi auf der Bühne steht? Vernunft allein schafft keine Mehrheiten.

 

Wider den Afghanistan-Pessimismus

2014 werden die letzten Nato-Kampftruppen Afghanistan verlassen haben. Gerade mal 10.000 Mann wollen die US-Amerikaner im Land belassen. Was wird danach geschehen? Die meisten Szenarien, die derzeit darüber entwickelt werden, sind düster. Sie reichen vom Bürgerkrieg bis zur Rückkehr der Taliban an die Macht.

Es gibt sicher viele gute Gründe daran zu zweifeln, dass Afghanistan nach 2014 Frieden finden wird. Trotzdem ist es schon erstaunlich, wie wenig man den Afghanen selber zutraut. Immerhin ist Afghanistan ihr eigenes Land. Da kann man annehmen, dass sie selbst am besten wissen werden, wie es zu einer Versöhnung unter ihnen kommen kann.

Aber nein: Wir glauben, dass der Abzug der Nato–Soldaten unweigerlich in einer weiteren Katastrophe mündet. Wenn die Eltern aus dem Haus sind, dann streiten sich die Kinder. Das ist eine unverhohlen paternalistische Haltung, die hier zum Ausdruck kommt.

Der Zweck dieser Behauptung ist leicht durchschaubar. Die imaginierte, vorweggenommene Gewalt in Afghanistan dient dazu, den zu Ende gehenden Einsatz zu rechtfertigen. „Seht Ihr, was sie ohne uns machen! Sie schlagen sich tot!“ Das bedeutet im Umkehrschluss: „Als wir noch da waren, war es besser!“ Tatsächlich hat sich die Nato immer gerne als eine Art gütiger Vater dargestellt, der die ungezogenen, gewalttätigen Kinder unter Kontrolle hielt. Nichts liegt der Wahrheit ferner.

Die Nato war immer Kriegspartei, sie unterstützte eine Seite gegen die andere. Und wenn ihre Vertreter auch behaupteten, sie wollten Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte durchsetzen, verfolgten sie dabei doch eigene strategische Interessen. Das ist legitim, nur sollte man es auch aussprechen. Den Krieg hat die Nato jedenfalls nicht beendet, eher hat sie ihn befeuert.

Könnte es aber sein, dass die Afghanen nach 2014 Frieden finden? Möglich ist es, auch wenn es schwierig wird. Hier sind eine paar Argumente dafür, dass es so kommen könnte.

Die afghanische Armee hat bereits in großen Teilen des Landes die Sicherheitsverantwortung übernommen. Sie wird immer wieder in Kämpfe verwickelt und zunehmend mehr ihrer Soldaten kommt dabei ums Leben. Aber insgesamt hat die Anzahl der Anschläge, Attentate und Angriffe abgenommen. Das bedeutet, dass auch die Taliban ihre Strategie verändert haben.

Warum? Viele Taliban haben immer gesagt, dass sie zur Waffe greifen, um gegen die Besatzer zu kämpfen und dafür, dass diese vollständig abziehen. Möglich, dass jetzt eine ganze Reihe von Taliban — immerhin ist das eine sehr heterogene Gruppe — die Waffen schweigen lässt, weil ihnen gelungen ist, was sie erreichen wollten.

Die Geschichte des modernen Afghanistan gibt wenig Anlass zu Optimismus, doch an eines sollte man doch erinnern: Das große Unglück kam für Afghanistan meist von außen.