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Leichen im Keller

Abul Hakim Belhaj (c) Daniel Berehulak/Getty Images
Abul Hakim Belhaj (c) Daniel Berehulak/Getty Images

Der Befreier von Tripolis ist ein alter Bekannter westlicher Geheimdienste. Abul Hakim Belhaj ist nach den Attentaten vom 11. September 2001 von der CIA in Bangkok festgesetzt worden. Der Dschihad-Kämpfer kam gerade aus Afghanistan, er ist ein ehemaliger Al-Qaida-Mann. Belhaj behauptet, von der CIA gefoltert worden zu sein. Nachdem Libyens Gadhafi im Jahr 2003 im Westen wieder hoffähig geworden war, überstellte die CIA Belhaj in sein Heimatland.

Dort wurde er von Gadhafis Folterknechten ausgepresst. Die Ergebnisse dieser Verhöre wurden an die CIA weitergeleitet. Ausgerechnet dieser Mann ist heute der Militärchef des befreiten Tripolis – ohne die Bomben der Nato wäre er es nicht geworden.

Das ist nur eine der Geschichten, die zeigen, wie eng westliche Staaten mit dem Regime kooperiert haben. Waffenlieferungen, Informationsaustausch, Folterdienste, Finanzierung von Universitäten – Gadhafi war sehr präsent im Westen. Er muss überrascht gewesen sein, als allen voran Frankreich die Resolution 1973 im UN-Sicherheitsrat einbrachte, die einen Einsatz der Nato legitimierte und ihn schließlich zu Fall brachte. Ausgerechnet der französische Präsident, der ihm eben noch einen prächtigen Staatsempfang in Paris bereitete hatte, erklärte ihm den Krieg. Das überstieg selbst die Vorstellungskraft des Machtzynikers Gadhafi.

Er hatte die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Frankreich, das während der tunesischen Revolution lange Zeit am Autokraten Ben Ali festgehalten und sich dadurch blamiert hatte, wollte es besser machen. Freiheit – das war das neue Losungswort. Stabilität – das war gestern. Die arabischen Massen haben diesen Gesinnungswandel in den westlichen Staatskanzleien erzwungen. Das ist ein Glück und es ist ein Fortschritt.

Doch sollte man trotzdem einen Augenblick innehalten und sich fragen: Was denken Männer wie Belhaj über diesen Westen, dessen Geheimdienste ihn gestern noch foltern ließen und dessen Kampfjets ihn dann zum Militärchef von Tripolis bombten? Wir werden es vermutlich nicht erfahren, doch eines ist gewiss: Er wird westlichen Vertretern nicht vertrauen.

Wenn sie Freiheit sagen, dann wird er an den Folterkeller denken, in dem er saß; wenn sie sagen: „Jetzt ist aber alles anders, wir sind geläutert!“, dann wird er an Gadhafi denken, dem sie dasselbe gewiss auch gesagt hatten, als sie ihn nach 2003 wieder in die Arme der internationalen Gemeinschaft schlossen. Wenn sie sagen: „Ihr müsst in Libyen die Menschenrechte einhalten!“, dann er wird die Schreie der Gefolterten hören.

Auch das sind Grundlagen, auf denen die Zusammenarbeit zwischen dem Westen und dem neuen Libyen gedeihen soll.

 

Gefährlicher Jubel

Der Krieg in Libyen wird sich lange ohne Ergebnis hinziehen, die Nato wird im libyschen Treibsand versinken: Das waren Gründe, eine Intervention in Libyen skeptisch zu sehen oder sie auch abzulehnen. Nun ist Gadhafi gestürzt, Tripolis ist von den Rebellen eingenommen. Die Gegner der Intervention haben nicht damit gerechnet, dass die Hauptstadt so schnell fallen wird, die Befürworter ihrerseits haben nicht geglaubt, dass Gadhafis Regime länger als eine paar Tage, maximal ein paar Wochen durchhalten wird. Gegner wie Befürworter der Intervention lagen mit ihren Prognosen falsch. Doch wer für eine Intervention war, kann jetzt auf den Fall von Tripolis verweisen, als Nachweis des Erfolges.

Niemand hat je bestritten, dass Gadhafi nach dem Volksaufstand, der im Februar begann, in Libyen keine Zukunft haben wird. Es ging immer nur um den Preis seines Abganges. Wie viele Menschen würde ihr Leben lassen müssen? Wie viel materieller Schaden wird angerichtet werden? Wie viel politischer Schaden? Das waren die entscheidenden Fragen – eine abschließende Antwort lässt sich noch nicht geben, dafür ist es zu früh.

Tatsache ist, dass Gadhafi die Kontrolle über Tripolis verloren hat. So verständlich der Jubel darüber ist, so frühzeitig kommt er. Ein Krieg ist nicht vorbei, weil man ihn für beendet erklärt.

Es gab viele gute Gründe, die gegen eine Intervention des Westens sprachen: Afghanistan und Irak sind zwei davon. Der Westen hat in diesen Ländern militärisch eingegriffen – und es ist nicht gut gegangen. Libyen ist aber zum Glück nicht Afghanistan, und es ist nicht der Irak. Obwohl der Krieg noch andauert, kann man nach dem heutigen Stand sagen, dass die Aussichten auf eine Stabilisierung des Landes nicht schlecht sind. Die Gefahren für Libyen sind immer noch groß, dennoch kann es zu einem Beispiel für eine wirksame Intervention werden. Wir wollen es für das Wohl des libyschen Volkes hoffen.

Der Sturz des Diktators war möglich, weil die Nato als Luftwaffe der Rebellen fungiert und auch Spezialeinheiten nach Libyen entsandt hat. Damit hat sie die Resolution 1973 des Sicherheitsrates sehr weit ausgelegt, wenn nicht gebrochen. Die Juristen mögen diese Frage klären. Nun, da Gadhafi aus Tripolis verjagt ist, schert sich ohnehin niemand mehr um die völkerrechtlichen Grundlagen der Intervention. Man feiert das Ende des Diktators, obwohl es bis heute nicht das offizielle Ziel der Nato ist.

Die Nato beteiligt sich in diesen Tagen mit Soldaten und Geheimdienstmännern an der nun stattfindenden Jagd auf Gadhafi, behauptet aber immer noch, dass sie den Diktator weder fangen noch töten will – sondern, dass sie das alles nur macht, um Zivilisten zu schützen. So, wie es die Resolution 1973 vorsieht. Es sind absurde rhetorische Verrenkungen.

Die wichtigste Botschaft des Libyen-Krieges ist jedoch: Wer Gewalt anwendet, schafft Fakten. Der Westen war durch die Interventionen in Afghanistan und im Irak verunsichert, doch jetzt hat er an Selbstbewusstsein gewonnen. Ja, Gewalt hilft durchaus, wenn man sie zur rechten Zeit mit den rechten Mitteln und unter den rechten Umständen anwendet – und wenn man noch dazu Glück hat. In all dem verständlichen Jubel über die Einnahme von Tripolis steckt im Kern dieser verführerische Glaube an die Wirksamkeit von Gewalt.

Der Erfolg, so er sich dauerhaft in Libyen einstellt, birgt die Gefahr eines weiteren Krieges in sich. Wenn es in Libyen funktioniert, warum nicht auch in Syrien? Fordert dort die Opposition nicht eine Intervention der Nato? Der amerikanische Fernsehsender CNN diskutiert darüber bereits. Und wenn Syrien, warum nicht auch Iran? Eines muss man jetzt klar sehen: Syrien ist die nächste große Debatte. Und Iran ist der Hauptgegner des Westens in der Region. Alle Wege des Konfliktes im Nahen Osten führen nach Teheran.

Nein, eine Intervention in Syrien ist immer noch unwahrscheinlich. Doch man sollte die Hybris des Westens nicht unterschätzen – sie hat uns den Krieg im Irak und in Afghanistan beschert. Und sie hat den Westen dazu verführt, Kriege für beendet zu erklären, bevor sie beendet sind.

 

Das Dilemma der Außenpolitik

Die Nato hat in Libyen interveniert, um auf der Grundlage der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates Zivilisten zu schützen. Das ist die offizielle Geschichte. Tatsächlich haben Frankreich, Großbritannien und die USA in Libyen eingegriffen, um einen Diktator aus dem Weg zu räumen. Die Intervention folgte einem bekannten Muster. Zuerst richtet man eine Flugverbotszone ein, um „die Bewohner von Bengasi“ vor der Rache Gadhafis zu schützen. Bald wurde daraus eine Bombenkampagne, „um Zivilisten zu schützen“. Dann bombardierte man Gadhafis Hauptquartier, weil es „ohne den Sturz des Diktators“ nicht möglich sei, die „Zivilisten zu schützen“.

Es hieß immer, es würde keine Besatzungstruppen der Nato in Libyen geben, die Resolution 1973 verbietet das ausdrücklich. Die britische Regierung hat inzwischen eingestanden, dass Einheiten der Elitetruppe SAS seit Wochen vor Ort operieren. Ihr Einsatz war entscheidend für den am Ende schnellen Fall von Tripolis. Man kann sie nicht als Besatzungstruppen bezeichnen. Doch die Tatsache, dass jetzt Spezialeinheiten, wie die britische Times berichtet, als Zivilisten verkleidet Jagd auf Gadhafi und seine Anhänger machen, ist wohl schwer mit der Resolution vereinbar – oder mit anderen möglichen völkerrechtlichen Grundlagen.

Wir wissen, dass Frankreich Waffen geliefert hat. Außerdem hat die Nato nach Berichten von Korrespondenten in Libyen eine provisorische Flugpiste eingerichtet. Nun ist die Rede davon, dass Truppen vor Ort nötig sein könnten, um die Ordnung zu bewahren. Wir kennen diese Geschichte – aus Afghanistan, aus dem Irak, aus dem Kosovo. Es begann alles mit kleinen Schritten, um Zivilisten zu schützen. Sehr schnell scherte sich niemand mehr um völkerrechtliche  Grundlagen. Das Resultat war ein jahrelanges militärisches, politisches und finanzielles Engagement.

Libyen ist nicht Afghanistan und es ist nicht Irak. Das Land hat eine kleine Bevölkerung, es ist reich und es liegt in der Nachbarschaft zu Europa. Die Chancen auf eine Stabilisierung sind sehr viel höher als in Afghanistan. Doch es gibt eine unvermeidliche, gefährliche Gemeinsamkeit zwischen Afghanistan, Irak und Libyen. Die Interventionsmächte sind auf Gedeih und Verderb den Kräften im Land ausgeliefert. Frankreich, Großbritannien und die USA haben nach dem Fall von Tripolis wohlweislich nicht öffentlich triumphiert – die Botschaft mission accomplished wollen sie nicht geben. Nur zu gut erinnern sie sich an George W. Bush, der im Mai 2003 mit dieser Botschaft auf einem Flugzeugträger landete und den Krieg im Irak für beendet erklärte – doch der richtige Krieg kam erst und forderte Zehntausende Menschenleben.

Die Interventionsmächte sind also vorsichtig. Das ist klug, aber es wird sie von einem Dilemma nicht befreien: der Abhängigkeit vom libyschen Übergangsrat (TNC). Es ist zu hoffen, dass der TNC die Lage in den Griff bekommt. Doch es ist auch klar, dass es sich bei dem TNC um einen zusammengewürfelten Haufen handelt. Nach 42 Jahren Diktatur ist keine konsistente Opposition zu erwarten. Aber genau eine solche Opposition ist nötig, wenn die Nato nicht tiefer in den libyschen Konflikt hineingezogen werden soll. Was ist, wenn es dem Übergangsrat in Libyen nicht gelingt, Stabilität herzustellen? Wird man dann zuschauen können, wie Libyen in einem schwelenden Krieg versinkt? Was wird man tun, wenn dieses instabile Libyen zu einem Hort von Terroristen wird, so wie Afghanistan in den neunziger Jahren? Diese Fragen sind beunruhigend. Denn eines ist klar: Die Interventionsmächte können Libyen jetzt nicht mehr allein lassen.

Ohne Intervention hätte Gadhafi viele Zivilisten im Bengasi umgebracht. Das steht außer Zweifel. Es ist möglich, dass er den Volksaufstand gegen ihn erfolgreich unterdrückt hätte, möglich ist aber auch, dass es ihm auf Dauer nicht gelungen wäre. Die Wahrheit ist: Wir wissen es nicht. Wenn die Intervention aber mit dem „Schutz von Zivilisten“ begründet wird, dann muss man sich auch die Frage stellen, wie viele Zivilisten durch die Intervention ums Leben gekommen sind und wie viele noch sterben werden.

Das hat nichts mit Zynismus zu tun. Wenn Intervention mit dem moralischen Imperativ gerechtfertigt wird, muss man diese Frage stellen: Wie viele Menschen sind durch die Intervention ums Leben gekommen?  Zu den Opfern der Intervention gehören zum Beispiel auch jene dreißig Gadhafi-Soldaten, die in Tripolis auf einer Straßenkreuzung erschossen worden sind – obwohl sie sich offenbar schon ergeben hatten. „Zuschauen oder sich schuldig machen!“ – eine allein moralisch verstandene Außenpolitik stellte uns angesichts des Volksaufstandes in Libyen vor dieses Dilemma. Das Ergebnis dieser Moral ist: „Wir müssen töten Libyer, um Libyer zu befreien.“

Entscheidender aber ist, dass die Interventionsmächte jetzt die Patenschaft für ein Land übernehmen. Der Aufstand gegen Gadhafi ist gewiss ein historischer Moment. Die Libyer haben todesmutig um ihre Befreiung gekämpft. Doch das neue Libyen ist nicht mehr allein das Libyen der Libyer. Durch die Intervention ist Libyen auch das Libyen der Interventionsmächte geworden, so wie Afghanistan das Afghanistan des Westens wurde, so wie Irak der Irak der Amerikaner wurde – mit allen Konsequenzen

 

Was wissen wir über den Libyen-Krieg?

Die Nato und die libyschen Rebellen haben Muammar al-Gadhafi so gut wie besiegt. Die Freude über den Sturz des Diktators ist groß. Trotzdem sollten ein paar dringende Fragen gestellt werden.

Welche Rolle hat die Nato gespielt?

Der Beschluss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ermächtigte eine Intervention zum Schutz von Zivilisten. Mit „allen Mitteln“, außer mit Bodentruppen. Was genau aber hat die Nato in Libyen getan? Wir wissen von den Bombardements. Wir wissen aber nichts Genaues über den Einsatz von Spezialeinheiten auf dem Boden. Es gab darüber immer wieder Meldungen, die sich aber nie zu einem Gesamtbild zusammengesetzt haben. Doch man kann mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass Spezialeinheiten der Nato-Länder in Libyen operiert haben. Und sei es nur, um die Zielvorgaben für die Bombardements durchzugeben.

Wir wissen von Ausbildern, die die Rebellen für den Krieg trainiert haben. Wie viele waren es? Wer hat die Ausbilder geschickt? Hat die Nato die Ausbildung der Rebellenarmee an private Sicherheitsfirmen ausgelagert? Wir wissen auch von massiven Waffenlieferungen der Franzosen an die Rebellen, was nicht von der Resolution gedeckt ist. Gab es in der UN Proteste dagegen? Wer hat die Rebellen an diesen Waffen ausgebildet? Selbst das Wenige, was wir wissen, zeigt uns, dass die Nato sich nicht an die UN-Resolution gehalten hat, sie hat sie mehrfach gebrochen.

Warum ist es überhaupt wichtig zu wissen, was die Nato in Libyen gemacht hat? Gibt der Erfolg ihr nicht Recht? Heiligt der Zweck nicht die Mittel?

Seit der Westen gegen den Terror Krieg führt – also seit zehn Jahren – hat sich die Kriegsführung verändert. Sie hat sich mehr und mehr ins Dunkle verschoben. Geheimdienste, Spezialeinheiten, Drohnen, Killerkommandos — das sind die Akteure der neuen Kriege. Das ist ein gewaltiges Problem, weil sich das Militär damit mehr und mehr der demokratischen Kontrolle entzieht. Demokratie braucht Transparenz, doch Geheimoperationen sind das Gegenteil davon.

Wie viele Zivilisten sind ums Leben gekommen?

Als Muammar al-Gadhafi im Februar versuchte, den Aufstand niederzuschlagen, spekulierte man schnell mit Opferzahlen. Tausende, Zehntausende würden es werden, wenn der Diktator sich durchsetzte, auch das Wort Genozid tauchte auf. Das alles diente zur Rechtfertigung der Intervention. Es gibt allerdings so gut wie keine Angaben und keine Spekulationen darüber, wie viele Zivilisten durch die Intervention ums Leben gekommen sind. Wer für das Gute bombt, muss offenbar die Toten nicht zählen. Laut Resolution ist die Nato verpflichtet, an den Generalsekretär der UN über den Fortgang der Kampagne zu berichten. Dazu gehörte auch eine Schätzung der Opferzahlen.

Welchen Pläne hat die Nato?

Es gibt eine kaum verhohlene Skepsis über den Nationalen Übergangsrat, der jetzt in Libyen die Macht erringt. Doch die westlichen Regierungen haben sich entschlossen, diese Sorgen zurückzustellen. Zuerst einmal sollte der Diktator aus dem Weg geräumt werden. Das ist nun so gut wie geschehen. Jetzt würde man gerne wissen, ob die Nato auch Pläne über einen Einsatz von Bodentruppen in der Schublade hat – für den Fall, dass Libyen sich nicht schnell stabilisiert.

 

Lehren aus dem Irak

Ein Rebell auf der 27. Brücke, mehrere Kilometer außerhalb des Zentrums von Tripolis (c) FILIPPO MONTEFORTE/AFP/Getty Images
Ein Rebell auf der 27. Brücke, mehrere Kilometer außerhalb des Zentrums von Tripolis (c) FILIPPO MONTEFORTE/AFP/Getty Images

Muammar al-Gadhafi leistet erbitterten Widerstand. Er wird noch viele Menschen mit ins Verderben ziehen, doch sein Ende ist gewiss. Die Sieger können und müssen sich deshalb eiligst mit der Nachkriegsordnung befassen. Sie wollen nach eigenem Bekunden ein demokratisches Libyen errichten. Dieses Ziel ist die Grundlage für die Unterstützung des Westens.

Gadhafi hat das Land 42 Jahre lang regiert. Es gibt weder organisierte Parteien, noch definierte und feste Institutionen. Alles war auf den Diktator und seine Anhänger ausgerichtet. Die neuen Herren Libyens stehen also vor einer gewaltigen Aufgabe. Sie müssen einen Staat aufbauen. Aber mit wem sollen sie es tun? Wer darf dazu gehören? Wer soll ausgeschlossen bleiben? Wie ist es mit den Anhängern Gadhafis? Sollen sie Teil des neuen Staates werden?

Ein Blick auf den Irak und Afghanistan ist dabei hilfreich. Im Irak war eine der organisatorischen Klammern für Saddam Husseins Diktatur die Mitgliedschaft in seiner regierenden Baath-Partei. Nach der raschen Machtübernahme in Bagdad hatte die amerikanische Übergangsverwaltung mit als erstes die Mitglieder der Baath-Partei aus allen politischen Ämtern ausgeschlossen, sie entließen das Gros der Sicherheitskräfte und lösten auch die Armee Saddams auf.

Die Übergangsverwaltung dachte, man könne einen Staat von Null an aufbauen, ganz so, als sei der Irak ohne Geschichte, ein weißes Blatt Papier, das man nach Belieben beschreiben könnte. Für die US-Statthalter war die Baath-Partei immer nur und ausschließlich ein Instrument der Unterdrückung in den Händen eines Diktators gewesen.

Doch erwiesen sich das Verbot der Baath-Partei und die Auflösung der Armee schnell als schwerwiegende Fehler. Die Ausgeschlossenen wehrten sich mit Waffengewalt. Sie kämpften gegen die Besatzer, weil sie einen Platz im neuen Irak haben und sich nicht von ihren Posten verdrängen lassen wollten. Ähnliches gilt für Afghanistan. Dort ist es nach dem Sturz der Taliban nicht gelungen, die Volksgruppe der Paschtunen – aus denen sich die Taliban rekrutieren – in das neue Afghanistan zu integrieren. Die Entfremdung vieler Paschtunen stärkte die Taliban.

Darum wird es für eine stabile Zukunft Libyens entscheidend sein, dass die Anhänger Gadhafis nicht ausgeschlossen werden. Sie müssen in den neuen Staat integriert werden. Schön ist das nicht, aber nützlich und notwendig, um mögliche größere Übel vom Land abzuwenden — einen lang schwelenden Guerillakrieg zum Beispiel.

 

Nach dem Despoten-Sturz

Rebellen in den Straßen von Tripolis (c) FILIPPO MONTEFORTE/AFP/Getty Images
Rebellen in den Straßen von Tripolis (c) FILIPPO MONTEFORTE/AFP/Getty Images

Das libysche Volk feiert die wohl endgültige Niederlage des Diktators Muammar al-Gadhafi. Es beginnt eine neue Ära in der Geschichte Libyens. Die Herausforderung ist gewaltig. Ein Land ohne demokratische Tradition soll in eine Demokratie umgewandelt werden.

Die ersten Schritte dazu werden in diesen Tagen des Sieges gelegt. Der Übergangsrat der Rebellen hat dazu aufgerufen, sich nicht an Gadhafis Anhängern zu rächen, sondern Mäßigung und Zurückhaltung zu üben. Der Aufruf ist nötig und kommt zur rechten Zeit. Je nachdem, wie sehr sich die Bevölkerung daran hält, werden wir erkennen können, wie stark die Autorität des Übergangsrates ist.

Blutige Rache wäre ein Geburtsfehler, der das neue Libyen auf Dauer belastet. Sie könnte das Land in einen lange schwelenden Konflikt zwischen den Stämmen hineinziehen. Käme es dazu, hätte sich Europa einen dauerhaft instabilen Nachbarn am Mittelmeer eingehandelt. In diesem Fall würde sich irgendwann für die Europäer auch die Frage stellen, ob und wie man in ein solches, zerfallendes Libyen intervenieren müsste. Das ist ein Szenario, vor dem sich die westlichen Regierungen fürchten, denn sie haben weder die Kraft, den Willen noch das Geld für Intervention und Wiederaufbau in Libyen.

Das optimistischere Szenario ist das einer relativ schnellen Stabilisierung Libyens. Dafür gibt es einige gute Gründe. Trotz der für viele überraschend langen Dauer des Konfliktes – sechs Monate –  kam der Sieg nun doch schnell. Dabei ist es entscheidend, dass die Bewohner von Tripolis sich offensichtlich nicht gegen die Rebellen gewehrt haben. Im Gegenteil – nach allem, was man weiß – sind sie zu den Rebellen übergelaufen oder haben sogar aktiv am Kampf teilgenommen. Damit hat Tripolis seine eigene Befreiungsgeschichte.

Bengasi und Misrata sind nicht mehr die einzigen Städte, die sich als „Heldenstädte“ in die  Geschichte des neuen Libyen einschreiben können.  Der Westen (Tripolitanien) und der Osten (Cyrenaica) des Landes treten gewissermaßen durch das Tor, das in die Zukunft Libyens führt. Kein Landesteil hat den anderen unterworfen. Das ist eine wichtige Voraussetzung für eine nationale Versöhnung.

Libyen ist zwar flächenmäßig ein riesiges Land, doch hat es gerade mal etwas mehr als sechs Millionen Einwohner.  Gleichzeitig verfügt es über große Öl- und Gasreserven. Und schließlich ist es eine direkter Nachbar Europas. Diese Kombination – zahlenmäßig kleiner, aber reicher Nachbar – macht es gewiss leichter, das Land stabil zu halten. Wenn die inneren Voraussetzungen geschaffen werden, das heißt: wenn die Versöhnung gelingt, kann eine kluge Politik Europas von außen Libyen einen zusätzlichen, festen Rahmen geben. Dafür braucht es gleichzeitig Zurückhaltung und Entschiedenheit.

Zurückhaltung bedeutet: Der Westen darf nicht den Eindruck erwecken, als wolle es sich in die inneren Angelegenheiten Libyens vor allem einmischen, um sich den Zugang zu den Ressourcen zu sichern. Entschiedenheit bedeutet: Der Westen muss darauf drängen, dass es schnell zu einer Versöhnung kommt. Der erste Konflikt zwischen dem Westen und dem neuen Libyen ist aber schon auf dem Tisch.

Gadhafi, sein Sohn Saif al-Islam und Gadhafis Schwager, Geheimdienstchef Abdullah Senussi, sind vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Nun haben die Rebellen drei Söhne Gadhafis festgenommen. Der Übergangsrat hat angekündigt, ihnen in Libyen den Prozess machen zu wollen. Der Internationale Strafgerichtshof wird aber auf der Auslieferung beharren.

 

Zivilisten schützen

Libyens Rebellen stehen möglicherweise nicht mehr allzu weit vor ihrem Sieg über das Gadhafi-Regime. Höchste Zeit darüber nachzudenken, wie denn dieser Sieg aussehen und was er für Libyen bringen könnte. Dafür gibt es zweierlei Szenarien. Das eine ist das „westliche Szenario“: Dieses sieht vor, dass die Rebellen Gadhafi besiegen und danach Demokratie und Rechtsstaat in Libyen aufbauen – zum ersten Mal in der Geschichte des Landes. Das zweite Szenario ist, dass Libyen in einer Spirale von Gewalt und Gegengewalt abdriftet, in eine Art von Stammeskrieg.

Die Nato muss freilich darauf hoffen, dass es nach einem Sieg gegen Gadhafi zu keinerlei größeren Racheakten kommt. Denn ihre Intervention ist auf dem Papier humanitär begründet. Das bedeutet: Die Nato bombardiert Ziele in Libyen um libysche Zivilisten zu schützen. Was aber wird sie tun, wenn die Seite, die sie in diesem Krieg unterstützt, sich an den Feinden rächt? Schon jetzt gibt es eine ganze Reihe von Racheakten an Anhängern Gadhafis oder an solchen, die man dafür hält.

Im Westen des Landes, in den Bergen zur tunesischen Grenze, haben die Rebellen mehrere Dörfer entvölkert und geplündert – weil ihre Bewohner angeblich Gadhafi stützten. Es gibt auch aus der Gegend um Misrata Nachrichten von Übergriffen der Rebellen. Die Nato leugnet das nicht. Doch glaubt sie, dass der Übergangsrat der Rebellen schnell dagegen vorgehen will und wird.

Freilich, die Nato darf nichts anderes glauben. Denn was passiert, wenn es zu mehr Racheakten kommt? Dann müsste die Nato wirksam dagegen einschreiten. Doch das wird sie nicht können, weil sie dazu weder die Kraft noch den Willen hat.

Es gibt dafür ein gutes Beispiel aus der jüngeren Geschichte. Die Nato intervenierte 1999 in Jugoslawien zu Gunsten der Kosovaren und gegen die serbische Armee. Auch damals tat sie es aus humanitären Gründen – allerdings fehlte ihr im Unterschied zu Libyen ein Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Als die serbische Armee sich schließlich aus dem Kosovo zurückzog, vertrieben die Kosovaren sofort rund 100.000 Serben – unter den wachsamen Augen der Nato. Die humanitäre Intervention wurde dadurch ad absurdum geführt.

Libyen ist nicht Kosovo, gewiss. Doch herrscht eine ähnliche Logik. Die Nato sagt zwar, sie interveniere aus humanitären Gründen, doch schützt sie nicht alle Zivilisten in dem betreffenden Land auf gleiche Weise. Sie beschützt nur die, welche zufällig oder weniger zufällig auf der richtigen Seite stehen. Man könnte einwenden: So ist es nun mal im Krieg! Eine schmutzige Sache! Moralische einwandfreie Kriege gibt es nicht! Doch dann müssten man auch anerkennen, dass humanitäres Bomben ein Widerspruch in sich ist.

 

Kampf um Symbole

PEDRO REY/AFP/Getty Images
Russischer MI-24-Kampfhubschauber (c) PEDRO REY/AFP/Getty Images

Der Nato-Abzug aus Afghanistan ist beschlossene Sache. Jetzt geht es darum, wie man diesen interpretiert: Als Sieg, als Niederlage, oder als keines von beidem. Welche Interpretation sich durchsetzt, hängt sehr stark von Symbolen ab. Der Abschuss eines Chinook-Hubschraubers mit 30 toten US-Elitesoldaten ist so ein Symbol — es spricht dafür, dass der Afghanistan-Krieg verloren ist.

Hubschrauber sind für den Krieg in Afghanistan eine entscheidende Waffe – das galt für die Russen, die das Land von 1979 bis 1989 besetzt hielten, und es gilt für die US-Armee, die mit den Alliierten seit zehn Jahren am Hindukusch im Einsatz ist. Deswegen traf es die US-Armee wie ein Schock, als ein Chinook-Hubschrauber mit 38 Elitesoldaten an Bord offensichtlich von den Taliban abgeschossen wurde. Noch ist nicht klar, wie das geschehen konnte, doch unter den Befehlshabern herrscht größte Unruhe. Denn wer Hubschrauber vom Himmel holt, kann das Blatt im Krieg wenden. Das ist die beunruhigende Botschaft.

Ein Rückblick in die Geschichte ist da lehrreich. In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war die Rote Armee drauf und dran, die afghanischen Mudschaheddin zu besiegen. Die Wunderwaffe der Sowjets war ihr Kampfhubschrauber Mi-24. Mit ihm konnten sie schnell, flexibel und mit überlegener Feuerkraft zuschlagen. Die Mudschaheddin mussten einen Weg finden, diesen Hubschrauber unschädlich zu machen. Sie bekamen die Waffe dazu aus den USA – sie heißt Stinger. Diese Rakete kann von einem einzelnen Kämpfer abgeschossen werden, sie wird per Infrarot gesteuert und trifft ihr Ziel mit hoher Wahrscheinlichkeit. Der CIA lieferte Hunderte dieser Raketen via Pakistan nach Afghanistan. Die Stinger war tödlich für den sowjetischen Kampfhubschrauber. Die Stinger brachte die Wende im Krieg.

Als die USA sich 2001 zur Intervention entschlossen, sandte man im Vorfeld Späher aus, die überprüfen sollten, ob die Taliban vielleicht noch auf Stinger-Raketen aus den achtziger Jahren Zugriff hatten, angeblich sollten seinerzeit mehr als hundert davon noch im Umlauf sein. Wir wissen nicht, ob die Späher fündig geworden sind. Doch die Tatsache, dass sie ausgesandt wurden, zeigt, wie groß die Sorge war.

Jetzt haben die Taliban nach fast zehn Jahren zum ersten Mal einen US-Hubschrauber abgeschossen — mit welchen Mitteln, das ist Teil einer Untersuchung. Der Verlust von 38 Soldaten bei einem einzigen Angriff ist dramatisch, doch schlimmer noch ist die symbolische Niederlage.

Denn der Hubschrauber wird zu einem Zeitpunkt abgeschossen, da die Nato ihren Abzug bis zum Jahr 2014 beschlossen hat. Die Nato versucht alles, diesen Abzug nicht als Niederlage erscheinen zu lassen. Doch sollte es den Taliban in Zukunft öfter gelingen, Hubschrauber abzuschießen, wird ihr das schwer fallen. Denn das Bild hat hohe Symbolkraft – manche mögen sich dabei auch an Vietnam erinnert fühlen. Aus diesem Krieg wiederum gibt es ein Bild, das die bittere Niederlage der USA in Vietnam sehr effektvoll zusammenfasst: Es ist das Foto eines Hubschraubers. Er steht am 30. April 1975 auf dem Dach der US-Botschaft in Saigon. In letzter Sekunde evakuiert er US–Bürger aus der Botschaft. Stunden später war Saigon in den Händen der Vietcong.

Freilich, Kabul ist nicht Saigon und die Taliban sind nicht die Vietcong. Doch wir reden von einem Bild, das uns eine Geschichte erzählt. Und der abgeschossene Hubschrauber mit 38 toten Soldaten aus den USA und Afghanistan erzählt sicher nicht die Geschichte eines Sieges.

 

Die Macht der Kleinen

Am 7. November 2001 ereignete sich eine Szene, an die man sich heute angesichts der Intervention in Libyen und des Abzuges der Nato aus Afghanistan erinnern sollte. Die Taliban hatten seinerzeit über Nacht Kabul verlassen. Der amerikanische Präsident George W. Bush trat triumphierend vor die Kameras. Doch gleichzeitig klangen seine Worte seltsam flehend. „Ich ermutige unsere Freunde über die Shomali-Ebene nach Süden vorzustoßen, aber auf keinen Fall in die Stadt Kabul selbst einzudringen!“ Die Freunde, von denen Bush sprach, waren jene der afghanischen  Nordallianz – die Waffenbrüder der USA gegen die Taliban.

Diese Nordallianz war ein loses Bündnis tadschikischer, usbekischer und schiitischer Kriegsherren. Sie hatten seit Jahren gegen die Taliban gekämpft, die nahezu ausschließlich Paschtunen sind. Ohne die Nordallianz hätten die Amerikaner die Taliban am Boden nicht besiegen können.

Die Paschtunen jedoch stellen das Mehrheitsvolk in Afghanistan. Sie hatten traditionell die wichtigsten Stellen des Staates besetzt. Bush fürchtete nun, dass die Nordallianz bei einer Einnahme Kabuls die wichtigsten Posten besetzen und die Paschtunen damit vergrätzen würde. Darum mahnte er zur Zurückhaltung. Und was geschah? Die Nordallianz kümmerte sich nicht um den Appell aus Washington, raste so schnell sie konnte nach Kabul, um dort alles, was nur möglich war, unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie drehte Bush eine lange Nase.

Die Folge war, dass die Paschtunen sich von Beginn an nicht mit diesem neuen, von den Amerikanern herbeigebombten Staat, anfreunden konnten. Auch wenn mit Hamid Karsai ein Paschtune der neue Präsident wurde. Er erschien vielen bloß als Marionette der Amerikaner und der Nordallianz. In den folgenden Jahren nahm die Entfremdung zu. Das war vielleicht nicht der entscheidende Grund, doch gewiss ein Faktor, der die Taliban wieder erstarken ließ. Bush wusste also sehr genau, warum er am 7. November 2001 seinen Appell formulierte. Er hatte Anlass zum flehentlichen Ton. Er war abhängig vom Verhalten der Nordallianz.

Das ist eine der wichtigen Lehren aus Afghanistan. Wer in einem fremden Land interveniert, der kann noch so viel Macht haben, er wird immer Partner vor Ort brauchen. Und diese folgen der eigenen Logik. In Afghanistan war es die eines Bürgerkrieges, der schon seit Jahrzehnten andauerte. Die Nordallianz wurde durch ihr Bündnis mit den USA mächtiger, als sie wirklich war. Doch wichtiger noch: Sie hatte sogar einen Hebel in der Hand, mit der sie die Politik der Supermacht konterkarieren konnte.

Dieses „Gesetz“ sollte man mit Blick auf die Libyen-Intervention vor Augen haben. Auch dort hat die Nato Verbündete vor Ort. Auch dort ist sie von ihnen abhängig, weitgehend. Und auch in Libyen haben die unterschiedlichen Gruppen eine eigene Agenda – die mit jener der Nato nichts zu tun haben muss.

 

Das Schachbrett

Die Nato will ab 2014 keine Soldaten mehr in Afghanistan stehen haben. Aber müssen wir uns deswegen nicht mehr um dieses Land kümmern? Nein, denn Afghanistan wird ein Schachbrett der internationalen Mächte bleiben. Und Pakistan der große Spieler.

Was bedeutet der Angriff auf das Intercontinental Hotel?

Die Attacke auf das Hotel Intercontinental zeigt zweierlei. Erstens: Die Taliban sind nicht geschlagen, sondern sie sind in der Lage, spektakuläre Anschläge mitten in Kabul zu verüben – in der am besten gesicherten Stadt des Landes. Es war ein Zeichen der Stärke. Gleichzeitig war der Anschlag auch eine Botschaft an den Westen: Wir werden nicht verhandeln, solange ihr mit Soldaten im Land seid. Im Hotel Intercontinental nämlich sollten die ersten vorbereitenden Gespräche zwischen Regierung und Taliban stattfinden. Und schließlich wirft dieser Anschlag noch ein düsteres Licht auf die Zeit nach dem Abzug der Nato aus Afghanistan. Das brennende Hotel ist ein Menetekel – für einen möglicherweise bevorstehenden Bürgerkrieg.

Werden die Afghanen in der Lage sein, das Land alleine zu sichern?

Möglich wäre es, aber dazu braucht es massive finanzielle Hilfe aus dem Ausland. Afghanistan wird niemals die Mittel aufbringen können, um den angepeilten, riesigen Sicherheitsapparat von rund 130.000 Soldaten und 100.000 Polizisten selbst zu finanzieren. Es wird Milliarden dafür brauchen. Geld wird vermutlich aus dem Westen kommen, aber nicht nur. Mit dem Abzug der Nato, der 2014 abgeschlossen sein soll, werden gewiss auch andere Staaten in Afghanistan verstärkt eine Rolle spielen. Iran zum Beispiel. Auf jeden Fall werden viele fremde Mächte versuchen, einen Klienten in Afghanistan für sich zu gewinnen, der stellvertretend die eigenen Interessen vertritt. Das Interesse des gesamten Landes wird in den Hintergrund rücken. Afghanistan bleibt das, was es die meiste Zeit seiner Geschichte war: Ein Schachbrett, auf dem größere Mächte ihre Figuren hin und her schieben.

Welche Rolle spielt Pakistan?

Ohne Pakistan kann es in Afghanistan keinen Frieden geben. Dazu ist dessen Einfluss zu groß. Das pakistanische Militär hat Afghanistan immer nur im Kontext seiner eigenen Auseinandersetzung mit Indien gesehen. Afghanistan sollte Pakistan „strategische Tiefe“ geben, um in einem möglichen weiteren Krieg mit Indien den Rücken frei zu haben. An diesem Konzept werden die Pakistaner weiter festhalten, auch weil sich in den vergangenen zehn Jahren wenig am schlechten Verhältnis zu Indien geändert hat. Der Konflikt um Kaschmir ist weiter ungelöst. Und zwischen Pakistan und Indien herrscht immer noch kaltes Schweigen, das jederzeit in einen Krieg umschlagen kann.

Der Abzug aus Afghanistan ist beschlossen, aber was ist mit Pakistan?

Als US–Präsident Barack Obama 2008 ins Amt kam, entwarf er alsbald eine neue Strategie für den Krieg in Afghanistan. Dabei änderte er die Grundlagen. Er sprach nicht mehr nur von Afghanistan, sondern von einer Kriegszone namens AFPAK – also Afghanistan und Pakistan. Nun, da Obama den Abzug aus Afghanistan beschlossen hat, kann man sich fragen, welche Politik er gegenüber Pakistan verfolgen wird.

Sicher ist, dass Pakistan potenziell gefährlicher ist. Pakistan ist ein riesiges Land, es ist eine Atommacht und die religiösen Extremisten haben großen Einfluss. Hinzu kommt, dass ein Teil der pakistanischen Führung Osama bin Laden beschützt hat – den Feind Nummer eins des engen Verbündeten USA.

Für die USA gäbe es Grund genug, sämtliche Verbindungen mit Pakistan zu kappen. Tatsächlich fährt Washington seine milliardenschwere Hilfe für das pakistanische Militär zurück und übt immer häufiger auch offen Kritik am Partner. Aber einen völligen Bruch wird es wohl nicht geben, auch wenn er nicht ganz auszuschließen ist. Bis heute jedenfalls ist Pakistan für die USA von eminenter sicherheitspolitischer Bedeutung. Das wird sich nach dem Abzug aus Afghanistan nicht ändern.

Und Pakistan hat wenige Freunde. Eine Alternative zu den USA ist China, mit dem Pakistan seit den fünfziger Jahren eng verbunden ist. Doch Chinas Interesse an Pakistan ist vor allem wirtschaftlicher Natur – bisher jedenfalls. Es könnte freilich sein, dass China in Zukunft mit den USA nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch und politisch stärker konkurriert. Dann wäre Pakistan ein noch wichtigerer Spielstein in diesem Wettbewerb.