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Das Problem mit Pakistan

Osama bin Laden hat sich unter der Nase des allmächtigen pakistanischen Militärs versteckt. Das wäre wohl nicht möglich gewesen, wenn ihn nicht zumindest Teile des Militärs aktiv geschützt hätten. Nun herrscht Ratlosigkeit, wie man sich gegenüber einen Staat verhalten soll, der Terroristen eine Heimstatt bietet.

Soll Pakistan isoliert werden?

Wenn ein Land Terroristen versteckt oder unterstützt, wird es oft mit Sanktionen belegt (Syrien) oder sogar mit Krieg überzogen (Afghanistan).  Man kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass zumindest Teile des pakistanischen Staatsapparates Terroristen schützen und unterstützen. Das wäre eigentlich Grund genug, um Pakistan zu isolieren und es somit zu zwingen, diese Politik aufzugeben. Doch es wird zu keinen Sanktionen gegen Pakistan kommen. Denn dieses Land ist zu groß, und vor allem kann es dem Westen erhebliche Schmerzen zufügen – zumindest solange westliche Truppen in Afghanistan stehen. Der Einfluss Pakistans dort ist erheblich. Nur ein Beispiel: Die wichtigsten Nachschubrouten für die westlichen Truppen laufen alle über Pakistan. Islamabad könnte diese Routen schließen.

Außerdem wäre eine Isolation nicht sinnvoll. Sanktionen würden die Pakistaner eher darin bestärken, weiter Terroristen zu unterstützen. Denn aus der Sicht der pakistanischen Elite ist Terror nichts weiter als eine Kriegstechnik. Und das Land steht – nicht nur in den Augen der Pakistaner – in einem permanenten Kriegszustand. Da ist der Krieg in Afghanistan, der nach Pakistan herüberschwappt; da sind die Drohnenangriffe des Verbündeten USA; da ist der Erzfeind Indien, mit dem es seit langem schon einen latenten Kriegszustand gibt. Pakistan fühlt sich unsicher und bedroht, und greift deshalb auch zu gefährlichen Mitteln – dem Terror.

Warum fühlt sich Pakistan bedroht?

Man muss die Sicherheitsbedenken der Pakistaner ernst nehmen. Die Angst vor einer Umkreisung durch Indien mag paranoid sein, aber sie ist real und bestimmt das Denken und Handeln der pakistanischen Elite. Große Teile dieser Elite sind davon überzeugt, dass die USA darauf aus sind, Pakistan als einzige muslimische Atommacht zu zerschlagen. Und sie glaubt auch, dass der große Nachbar Indien bis heute nie die Existenz Pakistans akzeptiert hat.

Tatsächlich kommen aus Delhi wenig Impulse, um das zentrale Problem mit Pakistan, nämlich Kaschmir, zu lösen. Das ist zum einen verständlich, denn von pakistanischen Boden sind immer wieder Attentate vorbereitet worden – zuletzt jenes vom Bombay im Jahre 2008. Doch andererseits müsste Delhi eine vitales Interesse daran haben, dass Pakistan nicht zerbricht. Denn die Risiken eines Zerfalls dieses Landes sind unkalkulierbar.

Wie kann man Druck auf Pakistan ausüben?

Die Drohnenangriffe müssen eingestellt werden, weil ihr politischer Preis zu hoch ist. Kurzfristig können sie Taliban- und Al-Qaida-Führer ausschalten, aber langfristig untergraben sie die Legitimität des Einsatzes des Westens in der Region. Und sie geben den radikalen Kräften Aufschwung, die die Grundlagen Pakistans unterminieren.

Wenn einmal ein Grundbedürfnis an Sicherheit hergestellt ist, dann lässt sich auch leichter Druck auf Pakistan ausüben. Die Milliarden Dollar, die jedes Jahr Richtung Islamabad fließen, müssen zweckgebunden werden – und vor allem sollen sie nicht allein dem pakistanischen Militär zu gute kommen. Die USA haben seit 2001 finanziell und politisch  vor allem das Militär unterstützt – jenen Akteur,  der eine böses Doppelspiel trieb und treibt. Das pakistanische Militär reagiert nur auf Druck – und Geld ist das beste Mittel dazu.

Die USA und Europa müssten gemeinsam auf Indien und Pakistan einwirken, damit es in Kaschmir zu einer Lösung kommt. Denn dieser Konflikt ist zentral für die ganze Region.

 

Warum die Nato so zerstritten ist

1999 führte die Nato als Bündnis ihren ersten Krieg gegen das Jugoslawien Slobodan Milosevic’s. Auch damals – wie heute in Libyen – begründete die Nato ihren Einsatz mit humanitären Argumenten. Es galt, die Kosovaren vor der serbischen Repression zu schützen. Der Einsatz dauerte 78 Tage. Über die ganze Zeit hinweg trat das Bündnis nach außen geschlossen auf, die USA hatten die Führungsrolle. Es gab gewiss Streit zwischen den einzelnen Bündnispartnern, doch im Unterschied zum Libyen-Einsatz taten sich keine Risse im Bündnis auf.

Dennoch gibt es heute mehrere Parallelen zum Kosovo-Krieg. Die Nato rechnete seinerzeit damit, dass Milosevic sehr schnell klein beigeben würde. Doch das tat er nicht. Nach zwei Wochen waren der Nato die Ziele für ihre Bomben ausgegangen. Ähnliches kann man heute für Libyen sagen. Nachdem Nato-Kampfflugzeuge die Truppen Gadhafis daran gehindert haben, Bengasi einzunehmen, und nachdem es den Rebellen nicht gelungen ist, Gadhafi zu stürzen, herrscht Ratlosigkeit. In Berlin wollten die Nato-Außenminister nun mit einer Tagung zum Libyen-Einsatz Geschlossenheit demonstrieren. Doch die wichtigste Frage ließen sie weiter unbeantwortet: Wie weit kann und darf die Allianz in Libyen eingreifen?

Auch im Kosovo-Krieg wusste man seinerzeit zwei Wochen nach Beginn der Bombenkampagne nicht recht weiter. Milosevic saß ungerührt in Belgrad, so wie es heute Gadhafi tut. Man begann deshalb 1999 über eine Invasion mit Bodentruppen zu sprechen, und sie auch zu planen. Das ist im Libyen-Krieg nicht der Fall. Denn eine Entsendung von Bodentruppen wird von der UN-Resolution 1973 ausdrücklich ausgeschlossen (für den Kosovo gab es kein ausdrückliches UN-Mandat).

Die Stillstand an der libyschen Front ist der Anlass für den heftigen Streit in der Nato. Der Grund ist die fehlende Strategie. Das Hauptproblem dabei ist, dass man laut UN-Resolution intervenierte, um die libyschen Zivilisten vor Gadhafis Rache zu schützen. Die Resolution erteilt aber keinen Freibrief zum Sturz Gadhafis. Nur, wie können die oppositionellen Libyer sicher sein, solange der Diktator an der Macht ist? Müsste man nicht den ganzen Weg gehen? Müsste man nicht bis nach Tripolis marschieren?

Die Rebellen haben es versucht, aber sie können es nicht – jedenfalls noch nicht. Wer aber kann es dann? Die Nato? Über diese Frage würde sie sich noch mehr zerstreiten, bis zur Lähmung. Und was muss man tun, um Zivilisten zu schützen? „Responsibility to protect“ – die Pflicht der internationalen Gemeinschaft, verfolgte Zivilisten zu schützen, gibt theoretisch den Rahmen her. Ein Prinzip, zu dem sich die UN-Vollversammlung im Jahre 2005 bekannte. Der Libyen-Krieg soll ein Testfall dafür sein. Doch wie bewerkstelligt man das? Mit welchen Mitteln? Kampfbomber haben die Menschen in Bengasi geschützt, kein Zweifel. Doch jetzt? Die Franzosen und die Engländer kritisieren die Nato, sie tue zu wenig, sie bombardiere nicht genug. Doch was soll sie bombardieren? Die Straßenzüge von Misrata, in denen sich Gadhafis Truppen und Panzer verschanzen?

Oder soll man die Rebellen doch bewaffnen? Die Italiener haben dies gefordert, die Belgier haben es ausgeschlossen. Die Briten wollen Geld schicken, nicht aber für Waffen, sondern dafür, dass man in Bengasi die Müllentsorgung weiter bezahlen kann und ähnliche kommunale Dienstleistung aufrechterhalten werden können  – was zugegebenermaßen etwas seltsam klingt.

Der Grund für diese Verwirrung ist, dass die internationale „Pflicht zum Schutz“ von Zivilisten ein Prinzip ist, das nicht eingrenzbar ist. Wenn überall auf der Welt dieses Prinzip gelten soll, dann droht ein permanenter Kriegszustand. Wenn es nur selektiv gelten soll, wenn man also nur dort intervenieren soll, wo es möglich ist, dann wird das Prinzip selbst geschwächt.

Und es bleibt immer noch die Frage der Umsetzung. Wenn man auch nur im Einzelfall interveniert, wie in Libyen oder im Kosovo, wie weit geht man dann mit dem Schutz? Bis zum äußersten? Das heißt, bis zur Besetzung eines Landes? Wenn die Antwort: „ja“ lautet, dann taucht schon gleich die nächste Frage auf: Wer kann sich die Besetzung leisten? Die am Randes des Bankrott wandelnden USA?

 

Der Libyen-Krieg ist festgefahren

Schnell wird ein Krieg selten entschieden — das ist auch in Libyen der Fall. Nach dem militärischen wie politischen Hin und Her herrscht jetzt eine Art Stillstand. Das wirft ein paar Fragen auf.

Warum kann sich Gadhafi halten?

Als Mitte Februar der Aufstand gegen den Diktator ausbrach, marschierten die Rebellen sehr zügig auf Tripolis zu. Es schien nur mehr eine Frage von Tagen zu sein, bis Muammar al-Gadhafi stürzt. Doch er hält sich. Das ist möglich, weil er Geld und Waffen hat. Und er muss auch über eine gewisse Unterstützung in der Bevölkerung verfügen. Es hieß immer, dass Gadhafi hauptsächlich Söldner auf die Rebellen losgelassen habe. Darüber gibt es viele glaubwürdige Berichte. Doch alleine mit Söldnern könnte sich Gadhafi nicht halten.

Die Wahrheit ist, dass wir sehr wenig darüber wissen, wer Gadhafi unterstützt. Es wäre aber für die Beendigung des Krieges entscheidend,  die Interessen der Gadhafi-Anhänger zu kennen. Dann könnte man Angebote formulieren. Solange aber Gadhafi nur als Psychopath beschrieben wird, bleibt der Blick auf die Interessenslage seiner Unterstützer vernebelt

Was ist, wenn die De-Facto-Teilung des Landes zementiert wird?

Es ist möglich, dass es zu einer dauerhaften Teilung Libyens kommt. Es gibt dafür ein vergleichbares Ereignis: Der Irak nach dem ersten Golfkrieg 1991. Nachdem Saddam Hussein in der Folge des Krieges grausam gegen die aufbegehrenden irakischen Kurden vorgegangen war, richteten die USA eine Flugverbotszone ein. Das führte zu einer über die Jahre sich verstärkenden Loslösung Kurdistans vom Irak. Doch Saddam Hussein blieb in Bagdad an der Macht.

„Wir halten ihn in seinem Käfig“, sagte später der britische Premier Tony Blair. Der Käfig wurde immer wieder mal bombardiert, um das „Monster“ – so wurde er beschrieben — nieder zu halten. Doch Saddam stürzte nicht. Er blieb eine erratische Figur, die für Unruhe sorgte. Auf Dauer wollte Amerika mit ihm nicht leben. 2003 schließlich entschloss sich Präsident George W. Bush zur Invasion des Irak. Begründet wurde der Krieg mit eklatanten Lügen.

Das Modell Irak ist für Libyen nicht ausgeschlossen. Möglich, dass sich Gadhafi lange halten kann, und das Land geteilt bleibt. Und es ist durchaus auch möglich, dass sich der Westen – insbesondere die Franzosen – mit einem solch dunklen Reich vor der Haustür nicht zufrieden geben will.

Wird der Westen tiefer in den Krieg hineingezogen?

Je länger dieser Krieg dauert, desto wahrscheinlicher ist das. Fast alle möglichen Szenarien weisen darauf hin. Es wird zum Beispiel der Frage nachgegangen, ob man den Rebellen Waffen liefern soll. Das geschieht bereits, wenn auch auf einem etwas niedrigeren, unauffälligerem Niveau. Doch wer Waffen liefert, der muss auch Ausbilder schicken, die die Aufständischen im Gebrauch dieser Waffen unterrichten.

Inzwischen wird entgegen aller Versprechen und entgegen der UN-Resolution 1973 auch die Entsendung von Bodentruppen diskutiert. Die militärische Situation in Libyen sei festgefahren, stellte US-General Carter Ham, der Chef des US-Afrika-Kommandos (Africom), dazu fest. Um Luftschlägen der Nato aus dem Weg zu gehen, operierten Gadhafis Truppen nun zu großen Teilen in zivilen Fahrzeugen, sagte er in Washington. Das mache sie als Ziele schwerer erkennbar und sie können mit den Oppositionstruppen verwechselt werden. Auch über Bodeneinsätze würde man daher wohl nachdenken.

Nach Irak und Afghanistan wäre das erneut eine Invasion in einem muslimischen Land. Und schließlich gibt es noch einen weiteren Punkt: Nato-Kampfflieger haben schon zweimal versehentlich Rebellen bombardiert und getötet. Das hat zu heftigen Protesten unter den Aufständischen geführt. Wenn es noch mehr solcher  „Kollateralschäden“ geben wird – und davon kann man ausgehen – wird die Intervention unter den Libyern an Popularität verlieren.

Auch dafür gibt es ein Modell: Afghanistan. Dort haben die Luftschläge der Nato immer wieder unbeteiligte Zivilisten getötet. Das hat ganz entscheidend dazu beigetragen, dass die Nato als Besatzungsmacht wahrgenommen wird. Diese Entwicklung ist auch in Libyen möglich.

 

Eine Intervention voller Widersprüche

Die Nachrichten aus Libyen überschlagen sich. Bengasi verteidigt, Adschabija, Marsa Brega eingenommen, Sirte umkämpft. Nach Tripolis sollen es die Rebellen nicht mehr weit haben. Eine fiebrige Atemlosigkeit liegt in der Luft. Zeit, ein paar Fragen über den Krieg zu stellen.

Ist die Intervention von der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates noch gedeckt?

Die Antwort ist: Nein. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschloss am 17. März die Einrichtung einer Flugverbotszone über Libyen. Der Einsatz der Nato – Briten und Franzosen vorneweg – geht längst darüber hinaus. Die westlichen Kampfflugzeuge haben nicht nur die Luftwaffe von Muammar al-Gadhafi ausgeschaltet. Sie bombardieren Panzer, Artillerie und anderes militärisches Gerät des Diktators. Ein Indiz für die gewandelte Ausrichtung des Einsatzes ist das eingesetzte Gerät: Die Amerikaner sind inzwischen auch mit tieffliegenden A-130-Bombern unterwegs, Flugzeuge, die dafür da sind, feindliche Stellungen zu beschießen. Zahlen über Opfer dieser Angriffe gibt es nicht. Mit den Bombardements wird der Vormarsch der Rebellen ermöglicht. Oder anders gesagt: Die Rebellen haben sich eine mächtige Luftwaffe zugelegt, die ihren Interessen dient.

Diese Konstellation kennen wir aus dem Afghanistan-Krieg. Die USA bombardierten zu Beginn des Einsatzes die Taliban – in ihrer Mehrheit Paschtunen – aus der Luft, während die von den Tadschiken dominierte Nordallianz am Boden Richtung Kabul vorrückte.

Ist die Einhaltung der UN-Resolution wichtig? Ist es nicht entscheidend, dass der Einsatz des Westens einen schlimmen Diktator zu Fall bringt?

Da die Interventionsmächte die Resolution des Sicherheitsrates eigenmächtig erweitern, verliert der gesamte Einsatz rechtliche wie moralische Legitimität. Solange „Siegesmeldungen“ von der Front alles übertönen, wird das keine große Rolle spielen. Aber sobald sich der Nebel des Krieges verflüchtigt, können die Interventionsmächte wegen ihrer Eigenmächtigkeit schnell in die Kritik geraten. Vor allem von Seiten der Arabischen Liga, die sich zwar grundsätzlich für eine Flugverbotszone ausgesprochen hat, sich an ihrer Durchsetzung aber so gut wie nicht beteiligt. Immerhin bomben in erster Linie Briten und Franzosen, die alten Kolonialmächte, die in dieser Region schon viel Unheil angerichtet haben.

Doch die eigenwillige Auslegung der Resolution 1973 durch die Interventionsmächte kann auch noch gravierende politische und militärische Folgen haben. Ein Vergleich mit Afghanistan ist hier ebenfalls erhellend.

Als die Taliban unter dem Druck amerikanischer Bomben Kabul im Herbst 2001 über Nacht verließen, warnte George W. Bush die Nordallianz öffentlich ausdrücklich davor, schnell in Kabul einzumarschieren. Man wollte vorher mit den Paschtunen, die eine Einnahme Kabuls durch die Nordallianz mit Argwohn sahen, eine Verständigung herbeiführen. Die von den Tadschiken dominierte Nordallianz kümmerte sich jedoch nicht um Bush. Er hatte ihnen den Weg freigebombt. Die USA hatten ihre Schuldigkeit getan. Die Milizionäre der Nordallianz eilten nach Kabul und besetzten alle wichtigen Stellen des Staates. Viele Paschtunen trieb das in die Arme der Taliban — zumindest aber in Opposition zu dem neuen, befreiten Afghanistan.

Was passiert, wenn Tripolis wie Kabul schnellt fällt?

Libyen hat kaum funktionierende staatliche Institutionen. Nach Beendigung der Kriegshandlungen werden die Menschen in Libyen vor allem Sicherheit wollen und brauchen. Die kann nur von einer funktionierenden Polizei und einer schlagkräftigen Armee kommen. Wer soll die aufbauen? Die Libyer alleine werden dazu nicht in der Lage sein. Sie werden Hilfe brauchen. Sie wird aus dem Westen kommen müssen. Denn wie soll man erklären, dass man zwar geholfen hat Gadhafi wegzubomben, aber danach nicht mithelfen will, Libyen halbwegs sicher zu machen.

Bald werden die westlichen Regierungen also vor der Frage stehen, ob sie Soldaten und Polizisten als Ausbilder nach Libyen schicken sollen. So, wie sie es in Afghanistan taten, wo es ebenfalls kaum Staat gab, wenn auch aus anderen Gründen. In Afghanistan begann der Einsatz mit wenigen Tausend Mann, heute stehen dort 140.000 Soldaten. Für private Sicherheitsfirmen eröffnen sich jedenfalls riesige Geschäftsmöglichkeiten. Libyen bezieht Milliarden aus dem Ölgeschäft. So, wie Gadhafi Söldner mit diesem Geld bezahlte, werden auch die Repräsentanten des neuen Libyens Geld für die Sicherheit ausgeben — nur hoffentlich für einen anderen Zweck, also für den Aufbau ziviler Institutionen oder die Ausbildung von Polizisten.

Was ist das Kriegsziel der USA?

US-Präsident Barack Obama hat neun Tage nach Beginn der Kriegshandlungen versucht, in einer Rede die Kriegsziele der USA zum umreißen. Wirklich gelungen ist ihm das nicht. Die Intervention bleibt voller Widersprüche. Die Interventionsmächte bombardieren zwar Gadhafis Truppen, doch dessen Sturz streben sie nicht an. Man will die Libyer vor der Rache des Diktators schützen, aber sie von ihm befreien will man nicht – jedenfalls nicht offiziell. Das sollen die Rebellen selber besorgen, aber freilich können sie das nur mit westlichen Kampfbombern.

Die Zurückhaltung Obamas ist verständlich. Die USA haben zwei Kriege am Hals. Kriege, die ganz entscheidend für den Schuldenberg der USA von 14 Billionen Dollar verantwortlich sind. Doch im Ergebnis bedeutet es, dass Obama die USA in eine sehr ungewohnte Rolle bringen wird. Nicht als bestimmende Macht sollen sie handeln, sondern als eine Macht unter mehreren. Die USA sind in Libyen ein „Ermöglicher“ kein „Entscheider“. Das werden viele Amerikaner nicht akzeptieren. Außerdem blieb Obama eine Antwort schuldig: Liegt Libyen im nationalen Interesse der USA oder nicht?

Was sind die Kriegsziele der Europäer?

Obamas Bescheidenheit hat eine Ergebnis: Die Europäer müssen an die Front. Dem Franzosen Nicolas Sarkozy kommt das gerade recht, denn er ist auf der Suche nach einem Erfolg. In Brüssel sagte er in Bezug auf Libyen: „Jeder Herrscher muss verstehen, und vor allem jeder arabische Herrscher muss verstehen, dass die Reaktion der internationalen Gemeinschaft und Europas von nun an jedes Mal die gleiche sein wird“.

Heißt das nun, dass die Europäer auch in Saudi-Arabien, in Syrien, im Jemen, in Algerien intervenieren wollen? Überall dort, wo Menschen gegen ein autokratisches Regime auf die Straße gehen? Ist dieser neue Interventionismus die Position der Europäischen Union? Vermutlich nicht. Aber was ist dann die Position der EU? Welches Ziel hat sie sich für Libyen gesetzt? Sicher ist nur, dass trotz der starken Worte Sarkozys Frankreich allein nicht einmal die militärischen Kapazitäten hat, Libyen zu befrieden.

 

Warum ist der Westen so gespalten?

Die Amerikaner drohen ihre Beteiligung am Libyen-Krieg „nicht in Wochen, sondern in Tagen“ zu beenden. Warum? Barack Obama wollte diesen Einsatz nicht, aus guten Gründen. Er steckt mitten im Afghanistan-Krieg, im Irak stehen noch US-Soldaten, und auch wegen dieser beiden Kriege hat sein Land in den vergangenen Jahrzehnten den unglaublichen Schuldenberg von 14 Billionen Dollar angehäuft. Nationbuilding will Obama zu Hause betreiben, nicht auch noch in Libyen. Hinzu kommt die Warnung seiner Militärs: „Wir wissen nicht, wie diese Sache enden wird!“, sagte Generalstabschef Mike Mullen über Libyen.

Frankreich gibt sich entschlossen, weil Nicolas Sarkozy auf dem Tiefpunkt seiner Popularität (25 Prozent) versucht, sich als Kriegsherr zu profilieren. Wer schneller schießt, der wird auch wieder gewählt — das glaubt Sarkozy offensichtlich. 2012 will er es wieder schaffen.

Deutschland hält sich raus. Dafür wird die Regierung viel gescholten. Ihr werden bei der Entscheidung, sich nicht an der Intervention zu beteiligen, vor allem innenpolitischen Motive unterstellt. Ein richtiger Vorwurf? Mag sein, doch trifft er alle anderen auch, Frankreichs Regierung vorneweg. Außerdem: Deutschland ist mit seiner Abstinenz nicht allein, Brasilien — allseits gefeierte und gelobte Demokratie und aufsteigenden Supermacht – enthielt sich der Stimme.

Doch auch Nato-Bündnispartner Italien, dessen Premier Silvio Berlusconi ein intimer Gadhafi-Freund ist, will nicht richtig mitziehen. Es schickt zwar Bomber, aber bombardieren tun sie nicht. Diese Gesellschaft – und die Chinas, Indiens und Russlands — macht die deutsche Position weder richtiger noch falscher, doch nimmt sie Deutschland etwas von seiner Einsamkeit.

Warum gibt es eine Intervention in Libyen – aber Zustimmung zur Repression in Bahrain?

Im kleinen Scheichtum am Persischen Golf gab es in den letzten Wochen massive Demonstrationen. Die Protestler forderten dasselbe wie Millionen Menschen in den arabischen Staaten: Reformen und Demokratie. Der Scheich reagierte mit harter Repression. Der saudische König schickte 1000 Soldaten zur Unterstützung. Und was macht der Westen? Wenn er nicht schweigt, dann findet er zustimmende Worte. Der engste außenpolitische Berater der EU–Außenbeauftragen Catherine Ashton, Robert Cooper, signalisierte sogar Verständnis für die blutige Niederschlagung der Demonstrationen, die 21 Menschen das Leben kostete.

Das ist nur dadurch zu erklären, dass der Westen mit doppelten Standards misst. Freilich, es ist eine Doppelmoral mit Gründen: In Bahrain befindet sich das Hauptquartier der Fünften Amerikanischen Flotte, der wichtigste Militärstützpunkt der USA im Nahen Osten. Die Bevölkerungsmehrheit Bahrains sind Schiiten, die Mehrheit der Demonstranten sind Schiiten. Auch wenn sie Demokratie und Reformen fordern, werden sie verdächtigt, die Sache des schiitischen Iran zu vertreten. Und Iran ist für den Westen DER Gegner in der Region. Gleichzeitig ist Saudi Arabien DER Verbündete des Westens gegenüber Teheran. Deswegen schwieg man auch, als die Saudis ihre Soldaten nach Bahrain schickten. Und wegen der Feindschaft zu Iran kauft Riad so viele Waffen wie nie zuvor — das Geschäftsvolumen für 2011: 70 Milliarden Dollar. Auch dazu gibt es keine Kritik, nicht einmal jetzt, da man im Zuge des Krieges in Libyen sieht, wohin es führt, wenn der Westen nahezu bedenken- und rücksichtslos Waffen exportiert.

Warum stimmt die Arabische Liga dem Einsatz zu und lässt gleichzeitig Zweifel über ihre Zustimmung aufkommen?

Die Mitglieder der Arabischen Liga hassen Muammar al-Gadhafi. Er hat sie über Jahre genarrt und verspottet, manchem Staatsoberhaupt sogar nach dem Leben getrachtet. Jetzt können sie ihn loswerden. Doch gleichzeitig sehen sie die Intervention des Westens mit großer Sorge. Je länger die Intervention dauert, desto mehr könnte sie in den Augen vieler Araber als kolonialistischer Feldzug des Westens erscheinen. Doch je kürzer sie ist, desto größer die Gefahr, dass eine Intervention dieser Art als Modell für den Sturz autokratischer Regime dienen könnte. Und solche Regime gibt es in der Arabischen Liga noch genug.

Hat Gadhafi eine Strategie oder ist er wirklich verrückt?

Muammar al-Gadhafi hat die seltene Ehre, dass ihn ein deutscher Bundespräsident öffentlich als Psychopathen abgestempelt hat. Doch selbst wenn die Ferndiagnose von Christian Wulff stimmt, verhält sich Gadhafi im jetzigen Krieg durchaus rational. Er läuft nicht weg (wer sollte ihm auch Asyl bieten?), sondern kämpft hart und gnadenlos um die Macht. Dabei setzt er auf Zeit. Je länger die Intervention dauert, desto schwächer und uneiniger könnte die westliche Kriegskoalition werden, desto unruhiger die „arabische Straße“.

Niemand im Nahen Osten hat Sympathien für Gadhafi. Doch er spekuliert darauf, dass die militärische Intervention des Westens früher oder später zu vielen zivilen Opfern führt — grausame Bilder wären die Folge. Bilder, die den Diktator Gadhafi etwas weniger grausam erscheinen ließen.

 

Menschenrechtsbewegt und kaltherzig

Die Europäische Union hat sich auf die Seite der arabischen Freiheitsbewegungen gestellt — nicht auf die Seite aller Araber, die sich nach Freiheit sehnen. Robert Cooper, politischer Berater von EU-Außenministerin Lady Asthon, kommentierte die blutige Repression der Demonstrationen in Bahrain mit den Worten: „I’m not sure if the police have had to deal with these public order questions before. It’s not easy dealing with large demonstrations in which there may be violence. It’s a difficult task for policemen. It’s not something that we always get right in the best western countries and accidents happen.“
Das ist eine recht kaltherzige Aussage für einen hochrangigen Vertreter der Europäischen Union, die sich in diesen Tagen menschenrechtsbewegt gibt. Bei der Niederschlagung der Proteste sind 21 Menschen ums Leben gekommen. Außerdem intervenierte Saudi Arabien mit 1000 Soldaten.

 

Kopflos in den Krieg

Es ist leicht einen Krieg zu beginnen und sehr schwer ihn wieder zu beenden. Das gilt auch für Libyen — der Westen wird es noch erfahren. Dieser hat sich dazu entschlossen, die libyschen Rebellen militärisch zu unterstützen. Doch die Interventionisten unter uns lassen eine Reihe von Fragen unbeantwortet. Hier sind fünf davon.

Was ist, wenn die Flugverbotszone nicht funktioniert?

Der gesamte Einsatz beruht offiziell auf dem Gedanken, dass man Diktator Muammar al-Gadhafi in den Arm fallen muss. Deshalb hat die UN eine Flugverbotszone eingerichtet. Sie soll die Rebellen vor Gadhafis Kampfflugzeugen schützen. Doch was geschieht, wenn Gadhafi auch ohne seine Kampfflugzeuge die Rebellenhauptstadt Bengasi erobert? Eine Flugverbotszone allein wird dann ein Massaker nicht verhindern können. Wird man aus der Luft zuschauen? Wird man Bengasi bombardieren, eine dicht bevölkert Stadt? Oder wird man dann nicht doch Bodentruppen schicken müssen?

Auch wenn das von der UN–Resolution ausdrücklich ausgeschlossen wird, läge es in der Logik der Begründung des Militäreinsatzes gegen Libyen — Schutz der Menschen vor einem Diktator. Wenn Kampfflugzeuge es allein nicht schaffen, dann müssen es eben Infanteristen tun. Libyen könnte so zu einem neuen Afghanistan werden.

Was geschieht, wenn die Rebellen gewinnen und ein Massaker anrichten?

Die Aufständischen sind gegen Muammar al-Gadhafi. Viel mehr wissen wir über sie nicht. Das liegt zum Teil in der Natur der Sache, doch wird diese Unübersichtlichkeit in dem Moment, da man militärisch interveniert, zu einem großen Problem. Sicher ist, dass der Aufstand in Libyen – im Gegensatz zu den Rebellionen in Tunesien und Ägypten – von Beginn an kriegerisch war. Das ist gewiss Gadhafis Schuld. Doch ändert es nichts daran, dass wir es mit einem Bürgerkrieg oder vielleicht einem Stammeskrieg zu tun haben. Genau wissen wir es nicht. Doch ist es denkbar, dass die Rebellen bei einem Sieg an Gadhafis Anhängern blutig Rache nehmen werden.

Niemand kann garantieren, dass es nicht zu Massakern in Tripolis kommen wird, wenn die Rebellen die Stadt einnehmen. Wie wird sich die UN dann verhalten? Eine Resolution verabschieden, die diese Libyer schützt? Was wird die Nato tun? Zugunsten von Gadhafis Anhängern intervenieren?

Das klingt wie eine Denunziation. Aber es soll daran erinnert werden, dass wir ein solches Szenario bereits einmal erlebt haben: im Kosovo 1999. Damals intervenierte die Nato, um die Kosovaren vor dem serbischen Autokraten Milosevic zu schützen. Kaum waren die Serben geschlagen, gingen die Kosovaren unter der Führung der Kosovarischen Befreiungsarmee (UCK) daran, die Serben aus dem Land zu vertreiben. Die Nato, die als Beschützer der Menschenrechte gekommen war, schaute tatenlos zu. Nebenbei gesagt: Es stellte sich bald heraus, dass die UCK eine von der Mafia durchsetzte Organisation war.

Und es soll auch daran erinnert werden, dass der Westen schon einmal im Namen der Freiheit recht hässliche Figuren unterstützt hatte: Die Mudschahedin in Afghanistan. Sie wurden als Helden der Freiheit mit Geld und Waffen unterstützt, solange sie gegen die Sowjets kämpften. Nachdem die Sowjets geschlagen abzogen, dauerte es nicht lang und die Mudschahedin stürzten das Land in einen fürchterlichen Bürgerkrieg.

Was geschieht bei einem militärischen Patt?

Wenn der Einsatz des Westens zu einem militärischen Patt führt, dann könnte das Land sich in zwei Hälften teilen. Gadhafi würde Tripolis und den Westen des Landes kontrollieren, die Rebellen Bengasi und den Osten. Aber wird ein Diktator Gadhafi tolerierbar, wenn er nur die Hälfte des Landes kontrolliert und sich ansonsten „ruhig“ verhält? Wird man ihn nicht dauernd „überwachen“ müssen? Oder wird man nicht doch versuchen müssen, ihn endgültig zu vertreiben? Und wenn die Rebellen das nicht allein schaffen, wer dann? Der Westen und seine militärischen Fähigkeiten wären wieder gefragt. Er würde tiefer in den libyschen Konflikt hineingezogen

Was ist, wenn Libyen in Anarchie zerfällt?

Libyen könnte zerfallen wie Afghanistan zwischen 1992 und 1996. Die Folge wäre ein schwarzes Loch, in dem sich extremistische Kräfte frei bewegen können, so wie das in Afghanistan der Fall war. Wird Europa mit einem solchen Land in seiner unmittelbaren Nachbarschaft leben können? Wahrscheinlich nicht. Sehr bald wird sich die Frage stellen, wer denn Libyen wieder aufbaut. Der Westen, der heute nur eine Flugverbotszone durchsetzen will, könnte schnell zum Nationbuilder werden müssen. Was das bedeutet und wie gut er das kann, zeigt ein Blick auf Afghanistan, wo der Westen 140.000 Soldaten stehen hat.

Wer ist eigentlich für diesen Krieg?

Nicht einmal auf diese Frage gibt es eine klare Antwort. Die 28 Mitglieder der Nato streiten. Die USA sagen ausdrücklich, dass sie keine Führungsrolle übernehmen wollen. Die Deutschen halten sich ganz raus. Das Nato Mitglied Türkei ist gegen eine Flugverbotszone. Von den Mitgliedern der arabischen Liga hat sich die „Großmacht“ Katar entschlossen, vier Flugzeuge zu schicken — sie sind aber noch nicht aufgetaucht. Die Arabische Liga, die angeblich eine „Feuer Frei“ gegeben hat, kritisiert schon am ersten Tag des Bombardements den gesamten Einsatz als „falsch“. Nur der französische Präsidenten Nicolas Sarkozy und der britische Premier David Cameron wollen diesen Krieg unbedingt führen. Eine wahrlich schmalbrüstige Kriegskoalition.

Da es bislang auf diese fünf Fragen keine befriedigenden, klaren Antworten gibt, könnte der Westen seinen Einsatz in Libyen noch bitter bereuen.

 

Tunesien, Ägypten, Libyen – drei Szenarien

Der Freiheitsvirus hat die arabischen Staaten erfasst – doch das macht sie nicht gleich. Im Gegenteil, ohne die Autokraten werden ihre Unterschiede erst sichtbar. Ein Blick in die nahe Zukunft

Ägyptens „Pharao“ Hosni Mubarak ist nach wenigen Wochen massenhaften Protestes gestürzt. Das war nur möglich, weil die Armee Mubarak aus dem Amt gedrängt hat und die USA dabei kräftig mitgeholfen haben. Im Augenblick regiert ein Militärrat das Land bis zu den versprochenen Wahlen. Die entscheidende Frage aber ist: Wird die Armee Macht abgeben? Und will das eine Mehrheit der Ägypter überhaupt?

Die Armee war seit der Geburt der ägyptischen Republik im Jahr 1952 das Rückgrat des Landes. Sämtliche Präsidenten des modernen Ägyptens waren Generäle, auch Hosni Mubarak war einer. Es ist schwer vorstellbar, dass die Armee in Zukunft auf ihre traditionelle politische Rolle verzichten wird. Ob das ägyptische Volk das weiter akzeptieren wird, wissen wir heute nicht. Den Sturz Mubaraks hat die Armee nicht gewollt, doch als er unvermeidbar war, hat sie den Übergang relativ friedlich organisiert. Viele Ägypter sind ihnen dafür dankbar.

Es ist daher sehr wohl möglich, dass der Sturz Mubaraks nur eine Episode bleibt und sich das Regime der Generäle in einer abgemilderten Form stabilisiert. Wenn man nach Modellen für Ägypten sucht, dann erscheint Pakistan als ein mögliches. Dort gibt es Präsidenten, Regierung und Parlament, alle einwandfrei demokratische gewählt – doch in den wesentlichen Fragen entscheidet die Armee. Sie agiert dabei hinter den Kulissen. Das macht sie weniger verwundbar.

Der tunesische Dikator Ben Ali floh wie ein ertappter Dieb aus seinem Land. Der Kleptokrat stützte sich vor allem auf eine hoch gerüstete Polizei. Die tunesische Armee ist klein und schwach. Beim Sturz Ben Alis konnte sie zwar eine entscheidende Rolle spielen, aber im Unterschied zu Ägyptens Armee hat sie nicht das nötige Gewicht, um die Zukunft des Landes zu gestalten. Eine ganze Reihe von Gruppen konkurrieren derzeit in Tunesien um die Macht. Sie sind alle mehr oder weniger gleich stark, oder vielleicht müsste man besser sagen: gleich schwach. Das kann zu einer dauerhaften Instabilität führen.

Dagegen spricht jedoch, dass Tunesien eine relativ starke, gebildete Mittelschicht hat. Wenn sie eine politische Rolle findet, könnte sich das Land schnell stabilisieren. Noch dazu ist Tunesien sehr klein. Hilfe aus Europa kann schneller wirken als in dem riesenhaften Ägypten. Tunesien, ein kleiner, an Europa in irgendeiner Form angebundener Staat. Das ist eine Möglichkeit.

In Libyen ist der Blick in die Zukunft hingegen durchweg düster. Wir sehen im Moment ein Land, das zwischen Clans und Stämmen tief zerklüftet ist. Was die Brutalisierungsmaschine Muammar al-Ghadhafis noch alles anrichten wird, kann keiner sagen, doch die Verheerungen, die er immer noch anordnet, sind immens. Die Tage Ghadhafis als unumschränkter Herrscher des Landes sind zwar gezählt, doch wird es nach seinem endgültigen Abgang schwer sein, ein Gleichgewicht zwischen den einzelnen Gruppen herzustellen.

Ein innerlich zerfallenes, schwaches Land könnte das Ergebnis des Umsturzes sein. Eine Art von Afghanistan oder Somalia vor den Toren Europas. Von einer möglichen militärischen Intervention wird schon gesprochen. Keine beruhigende Aussicht.

 

Vorsicht, Generäle

Die ägyptische Revolution ist herzergreifend. Die Sehnsucht nach Freiheit der Ägypter hat sich gegen den Autokraten Hosni Mubarak durchgesetzt, der sich bis zum letzten Augenblick gegen seinen Sturz wehrte. In Kairo herrscht  Feststimmung. Die Europäer sollten mitfeiern, denn es ist eine wunderbare Nachricht, dass das Volk sich gegen seinen Herrscher im Namen der Freiheit durchgesetzt hat. Und sie sollten die Ägypter nach Kräften unterstützen.

Die ägyptische Armee hat eine entscheidende Rolle beim Sturz Mubaraks gespielt. Es waren die Generäle, die Mubarak am Ende zum Aufgeben gedrängt haben, es waren die Generäle und die vielen einfachen Soldaten auf den Straßen Kairos, die ein Blutvergießen verhindert haben. Dafür gebührt ihnen Lob.

Doch sollte man sich bei aller Freude jetzt dringend Gedanken über die Motive der Armee machen. Was hat sie eigentlich getan? Sie hat einen der ihren, den ehemaligen  General Mubarak, in die Wüste geschickt, weil er in den Augen des Volkes nicht mehr tragbar war. Ob die Armee damit auch die weiteren Forderungen des ägyptischen Volkes nach Demokratie und Freiheit erfüllen wird,  ist sehr fraglich. Mubarak war der Repräsentant eines Systems, in dessen Zentrum die Armee steht. Sie ist das Rückgrat des Landes, politisch, militärisch und wirtschaftlich. Im Moment erscheint die Armee wie die Retterin der Nation, eine Rolle, in der sie sich gefällt. Sie steht ihr in diesen Tagen auch zu. Doch sie ist auch eine mächtige Partei, eine Interessengemeinschaft, die ihre Pfründe verteidigen wird.

Ägyptens Armee ist vergleichbar mit der Pakistans. Auch in Ägypten ist sie ein Staat im Staat. Die pakistanische Armee hat die Demokratie in Pakistan nach Kräften unterminiert. Auch diese Armee hat immer wieder Krisen durchlebt. Auch sie musste immer wieder mal vor ihrem Volk zurückweichen. Zuletzt musste sie sich 2008 von ihrem Präsidenten Pervez Musharraf trennen, der, wie Mubarak, eine General war, weil das pakistanische Volk sich nach Freiheit und Demokratie sehnte. Doch nicht einmal zwei Jahre später bestimmen die pakistanischen Generäle de facto wieder die Politik des Landes. Der demokratisch gewählte Präsident ist nicht viel mehr als Staffage.

Dasselbe Schicksal könnte nun Ägypten erwarten. Eine wunderbare Revolution, ein Moment der Freiheit,  dann die Restauration. Damit dies nicht geschieht, möchte man den Ägyptern, die ihre Soldaten zu Recht umarmen,  trotzdem zurufen: „Vorsicht, Generäle!“

 

Der Gewinner Iran

Der Freiheitskampf des ägyptischen Volkes hat viele Gewinner. Doch unter ihnen befindet sich paradoxerweise ein Feind der Freiheit: Die Islamische Republik Iran. Das ist vielleicht schwer zu ertragen, doch es ist nicht von der Hand zu weisen. Der ägyptische „Pharao“ Hosni Mubarak stand 30 Jahre lang in fester Gegnerschaft zum Iran und diente damit westlichen Interessen. Das entschuldigt seine Schandtaten nicht, ebenso wenig rechtfertig es die Toleranz des Westens gegenüber der Unterdrückung des ägyptischen  Volkes.

Doch Mubarak war ein zentraler Baustein in der Abwehrfront gegen die Islamisten aus Teheran. Wer immer in Ägypten nach ihm an die Macht kommt, wird in jedem Fall religiöser sein als es der Pharao je war – und israelfeindlicher. Beides liegt im Interesse des Regimes in Teheran. Beides spielt Männern wie dem iranischen Präsidenten Machmud Achmadineschad in die Hände.

Der Westen will Iran isolieren. Es gelingt ihm tatsächlich, mehr oder weniger wirksame Sanktionsbeschlüsse im UN–Sicherheitsrat gegen Iran durchzudrücken, doch ein Blick auf die regionale Landkarte zeigt, dass Iran viel Freunde hat. Irak, Syrien, Katar, Libanon und die Türkei pflegen beste Beziehungen mit Teheran. In Zukunft vielleicht auch Ägypten. Eine Isolation Irans sieht anders aus.

Freilich, es könnte sein, dass der Funke der arabischen Revolution auch in den Iran überspringt. Vielleicht raffen sich die Menschen auf und trotzen erfolgreich der ausgeklügelten Unterdrückungsmaschinerie. Sie haben es im Sommer 2009 mit Demonstrationen versucht. Doch diese sind hart niedergeschlagen worden. Nein, eine Freiheitsrevolution in Iran ist bisher – und die Betonung liegt auf bisher – ein frommer Wunsch. Vorerst wird man sich also mit dem Machtzuwachs Irans abfinden müssen.

Das hat erhebliche Konsequenzen für den Versuch, die nukleare Bewaffnung Irans zu verhindern. Wie soll ein durch die Wechselfälle der jüngeren Geschichte gestärkter Iran daran gehindert werden, seinen eigenen Weg zu gehen? Warum sollte er die Sanktionen des Westens fürchten, wenn er doch so viel alte neue Freunde in der Nachbarschaft hat?

In der Frage der atomaren Bewaffnung könnte die neue Macht Irans durchaus eine positive Konsequenz haben. Es könnte sein, dass dieser Iran die Bombe gar nicht will, weil er sich auch ohne sie stark genug fühlt.