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Verantwortungslos

 

Er äußert sich vulgär und verweigert die Zusammenarbeit. Das Verhalten des italienischen Protestpolitikers Beppe Grillo ist unangebracht.

© Giorgio Perottino/Reuters

Beppe GrilloBeppe Grillo

An das Charisma von Beppe Grillo kommt er nicht ran: Der Sozialdemokrat Pier Luigi Bersani wirkt hölzern und redet umständlich. Er ist ein Mann des Apparates. Das ist einer der Gründe, warum Bersani die Wahlen verloren hat. „Wir sind zwar Erster, aber gewonnen haben wir nicht!“ – auf diese seltsame Formel brachte er das Wahlergebnis des vergangenen Wochenendes. Bersanis PD lag letztlich nur mit hauchdünnem Vorsprung vor Silvio Berlusconis Partei PdL. Dabei hatte sie in den Umfragen vor wenigen Wochen noch weit vorne gelegen.

Bersani ist der Verlierer der Wahl. Doch tut er jetzt, was nötig ist. Er versucht dem wirtschaftlich gebeutelten Italien eine halbwegs stabile Regierung zu geben. Dazu braucht er eine Mehrheit innerhalb des Parlaments. Eine Koalition mit Silvio Berlusconi will er aus verständlichen Gründen nicht eingehen. Darum ist er vom ersten Tag an auf die Movimento 5 Stelle (M5S) von Beppe Grillo zugegangen.

Bersanis Vorschläge: Reform des Wahlgesetzes, Halbierung der Zahl der Parlamentsabgeordneten, tiefe Einschnitte im Militäretat, radikale Senkung der Verwaltungskosten, Gesetz gegen die Interessenkonflikte der Politiker. Dem M5S dürften diese Maßnahmen gefallen – vor allem die Senkung des Militäretats und die Halbierung der Zahl der Parlamentsabgeordneten.

Grillo muss Kompromisse eingehen

Doch was antwortet Beppe Grillo? „Diese Leute sind Arschgesichter! Sie benehmen sich wie vulgäre Verführer!“

Und auch auf die eigenen Leute schimpft er. Innerhalb des M5S sollen einige ihre Bereitschaft signalisiert haben, mit Bersani zusammenzuarbeiten. Grillos Reaktion: „Das sind Infiltrierte“ – das heißt so viel wie: Das sind Agenten des Feindes.

Nun kann Grillo über die Vorschläge anderer denken, was er will. Er darf freilich auch seine üblich vulgäre Sprache pflegen. Doch wenn er seine Bewegung als verantwortungsvollen Akteur versteht, muss er in der Lage sein, Koalitionsverhandlungen zu führen. Er muss Kompromisse eingehen können.

Die italienische Justiz wirft Exministerpräsident Berlusconi vor, beim Handel mit TV-Rechten die Steuerbehörden getäuscht zu haben. Am Donnerstag war zudem ein neuer Korruptionsverdacht gegen ihn laut geworden. [Video kommentieren]

Um eine Regierung zu bilden, braucht es das Vertrauen einer Mehrheit im Parlament. Darum müssen Verhandlungen geführt werden. Grillo hält dies für „Kuhhandel“ und die „übliche Art, Politik nach Nuttenart“ zu betreiben.

Und weil er das so sieht, hat er in den Verhaltenskodex für die Abgeordneten des M5S schreiben lassen: „Die parlamentarischen Gruppen des M5S dürfen mit keinen anderen Parteien zusammengehen noch koalieren, außer bei Abstimmungen über gemeinsame geteilte Programmpunkte.“

Im Klartext: Grillo verbietet seinen Abgeordneten jede Zusammenarbeit, die zur Bildung einer Regierung führen kann. Er will das System sprengen, will sich nicht an die Regeln halten. In seinen Augen ist das alles morsches Zeug, das weggehört. Das mag folgerichtig sein, ist aber verantwortungslos.

 

 

Grillo sollte abtreten, jetzt sind die „Grillini“ dran

Beppe Grillo muss man fürchten, seine Wähler aber nicht. Das ist der erste Schluss, den man aus dem erstaunlichen Erfolg von Grillos Partei Movimento 5 Stelle (M5S) ziehen sollte. Grillo ist ein gnadenloser Populist. Wie ein Rammbock hat er die Türen des Palastes eingetreten. Das ist durchaus ein Verdienst. Denn die politische Kaste Italiens hatte sich vom Volk abgeschottet. Sie kreiste um sich selbst. Was draußen geschah, das verstand sie nicht mehr. Sie hörte weder den Zorn der Massen, noch erkannte sie, was da auf sie zu kam. Sie war blind und taub. Und nun steht der Wüterich Grillo mitten auf der politischen Bühne, geifert, tobt und schreit. Niemand kann ihn mehr ignorieren.

Grillo gibt denen eine Stimme, die nicht gehört wurden. Und er verschaffte ihnen politische Macht. Die „Grillini“ stellen jetzt im italienischen Parlament über einhundert Abgeordnete. Sie sitzen innerhalb der Gemäuer des von Grillo so geschmähten Palastes. Jetzt haben sie die Macht, ihre Pläne umzusetzen. Sie können an einem besseren System mitbauen.

Dass die „Grillini“ das tun wollen, zeigen sie seit einiger Zeit in Sizilien. Dort wurden sie bei den Regionalwahlen im vergangenen Jahr zur stärksten Partei. Die Abgeordneten des Movimento 5 Stelle im sizilianischen Regionalparlament haben umgehend ihr Einkommen radikal gekürzt. Das eingesparte Geld floss in einen Fonds, der Mikrokredite für Unternehmensgründer auszahlte. Das war eine überzeugende Maßnahme. Denn die Italiener sind es leid, eine ebenso teure wie inkompetente politische Kaste zu unterhalten, während gleichzeitig ihre Wirtschaft immer tiefer in die Rezession rutscht.

M5S will keiner Partei ein grundsätzliches Vertrauen aussprechen. Im sizilianischen Parlament unterstützten sie die Regionalregierung von Fall zu Fall. Immer dann, wenn eine Initiative der Regierung ihren Ideen entgegenkommt. So wollten sie es auch im Parlament halten. Dieses Verfahren dient zwar nicht der Bildung einer stabilen Regierung. Denn ohne grundsätzliches Abkommen — ohne formelle Koalition — kann jede Regierung nur Stück für Stück vorankommen. Und sie ist immer in Gefahr, gestürzt zu werden, weil ihr die Grillini die Mehrheit jederzeit entziehen können. Trotzdem: Eine Politik der totalen Blockade ist es nicht.

Die Wähler und die Abgeordneten des M5S wollen also ein besseres Italien schaffen. Sie wollen bauen, nicht zerstören. Ihr Chef Grillo aber ist ein Zerstörer. Er befindet sich im Dauerkrieg mit einem nicht genauer beschriebenen System. Bauen ist seine Sache nicht. Das aber ist jetzt von Nöten. Grillo sollte jetzt abtreten, er hat seine Funktion erfüllt. Jetzt sind die Grillini dran. Zöge er sich zurück, könnte ihm der Staatspräsident sogar eine Medaille verleihen („Verdienste um die Demokratie“) – und Grillo dürfte wieder auf seine angestammte Bühne zurück, auf die des Kabaretts.

 

Was man über Beppe Grillo wissen sollte

Beppe Grillo wird gern ein Komiker genannt. Doch das war er einmal. Jetzt ist er Politiker. Einen Komiker muss man nicht nach seiner Weltanschauung fragen, einen Politiker schon.

Wie also sieht das Weltbild des Beppe Grillo aus? Wohin will er Italien führen? Was sind seine Ideen? Wie setzt er sie um?

Im Jahr 2011 veröffentlichte Grillo zusammen mit Gianroberto Casaleggio ein Buch. Es ist 150 Seiten stark und so etwas wie die weltanschauliche Grundlage der Grillini. Es ist ihre Bibel. Das Buch trägt den martialischen Titel: „Wir sind im Krieg — für eine neue Politik“.

Darin heißt es: „Es handelt sich um einen totalen Krieg, der jeden Aspekt unseres Lebens betrifft und alle ökonomischen und sozialen Strukturen infrage stellt, die seit Jahrhunderten als gegeben hingenommen werden.“

Der Agent dieses radikalen Wandels ist das Internet. Er werde das Neue erzwingen — doch das Alte werde nicht ohne Widerstand weichen. Das Internet ist für Grillo-Casaleggio geradezu ein revolutionäres Subjekt. Es erscheint nicht als Technik, sondern als ein Demiurg, der eine neue Welt gebären wird. „In diesem Krieg wird das Alte sterben, doch es wird nicht vergehen, ohne sich vorher mit allen Mitteln verteidigt zu haben. (…) Der Krieg wird lange dauern. In Italien kontrollieren die Parteien die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Information, den Handel, das Transportwesen, die Gesetze und ihre Umsetzung. Um sich zu schützen, haben sie einen Haufen Gesetze gegen das Netz erlassen. Sie glauben, sie seien unverwundbar, aber die Bürger werden Dank des Netzes in die Paläste der Macht eindringen.“

Es gibt bei Grillo-Casaleggio nur das „Alte“ und das „Neue“, das „Die“ und das „Uns“. Grillo spricht auch gerne von den „Hurensöhnen“. Es ist ein manichäisches Weltbild, das keine Differenzierungen zulässt. Was die Zukunft betrifft, gibt es nur eine Alternative: Mitmachen oder untergehen. „Sozialismus oder der Tod“ wird hier zu „Das Netz oder der Tod“. Es ist beides totalitär.

Grillo und Casaleggio behaupten auch, dass durch das Netz jeder Mensch endlich gleich viel wert sei. „Alle Menschen sind gleich“ – das hat zwar schon Thomas Jefferson bei der Unabhängigkeitserklärung der USA verkündet, doch bei Grillo-Casaleggio hat es eine andere Bedeutung: Jeder kann alles machen, es gibt keine Hierarchien mehr.

Dazu schreiben die beiden: „Wenn jeder gleich viel wert ist, hat es keinen Sinn mehr, von politischen Führern zu sprechen. Dann ist das ein Widerspruch in sich. Die Herren der Vorsehung gehören einer infantilen Vorstellung der Politik an. Wer sich heute als leader bezeichnet, den müsste man zwangsbehandeln.“

Grillo bezeichnet sich denn auch gerne als der Sprecher des Movimento 5 Stelle (M5S). In der Praxis aber sind er und sein Partner Casaleggio die unumstrittenen Anführer. Sie greifen von ganz oben nach ganz unten durch. Das haben verschiedene Grillini schon zu spüren bekommen. Einige sind ausgeschlossen worden, weil sie eigenständige Wege gehen wollten, Interviews und Gespräche müssen vom Chef genehmigt werden. Grillo – der sich auch gegen das Urheberrecht wendet — hat den Namen und das Symbol des M5S patentieren lassen. Jeder, der es verwenden will, braucht seine Erlaubnis. Und nach den Regionalwahlen in Sizilien im Jahr 2012, bei denen M5S zur stärksten Partei wurde, sagte er: „Wir werden über das, was wir nun anpacken, gemeinsam reden, ich aber muss der Chef der Bewegung sein.“

25 Prozent der Italiener haben sich für die Bewegung dieses Mannes entschieden.

 

 

Ein Schein von Staat

Lampedusa

In der unsichtbaren Mauer, die durch das Mittelmeer gezogen wird, ist die Insel Lampedusa ein Festungsturm. Armee, Küstenwache, Finanzpolizei, Carabinieri – Italien und Europa zeigen hier den unerwünschten Ankömmlingen ein grimmiges Gesicht. Alles scheint zu sagen: „Wir kümmern uns. Hier herrschen Recht und Gesetz!“ Diese Botschaft ist nicht nur für Lampedusa gedacht. Im Frühjahr 2011 waren mehr als 7.000 Flüchtlinge auf der Insel untergebracht. Die Lampedusaner waren binnen kürzester Zeit zur Minderheit auf ihrer Insel geworden. Hunderte Flüchtlinge brachen aus dem überfüllten Aufnahmelager aus. Es kam zu einer Rebellion. Dabei verbrüderten sich Insulaner und Flüchtlinge. Sie begehrten gemeinsam gegen die Gleichgültigkeit des Staates auf. Die Bilder beschädigten das Image Italiens und gaben den Populisten Nahrung. Überschwemmung, Invasion, menschlicher Tsunami — Europa wird in Lampedusa überrannt. Damit gingen Parteien wie die rechte Lega Nord auf Stimmenfang. Gleichzeitig hob die Klage gegen Brüssel an. Wo war Europa jetzt, da man es dringend brauchte? War Immigration nicht ein gemeinsames Problem? Lampedusa eignete sich zum Schüren antieuropäischer Ressentiments. Italien erschien in jenem Frühjahr überfordert, unfähig und kaltherzig, und Europa war für die Italiener ein leerer, bedeutungsloser Begriff.

Die Italiener werden bei den bevorstehenden Wahlen nicht nur über das weitere Schicksal ihres Landes entscheiden; ihre Entscheidung könnte weitreichende Konsequenzen für ganz Europa haben. Aber wie europäisch ist Italien, das sich nun als Schlüsselland des Kontinents präsentiert? Wie stark, wie modern ist der Staat, der jetzt unter dem Druck der Euro-KriseReformen durchsetzen soll? Wie ausgeprägt sind Bürgersinn und Respekt vor dem Recht, die für eine Reformpolitik nicht weniger wichtig sind als ökonomische Disziplin?

In Lampedusa zeigt der Staat seit dem Frühjahr 2011 jedenfalls Präsenz. Der Priester, der Lokalpolitiker, die Hoteliers, die Restaurantbesitzer, mit wem man hier auch spricht, jeder bestätigt das. Doch überall ist auch tief verwurzeltes Misstrauen spürbar. „Italien“, sagt Lampedusas Bürgermeisterin Giusi Nicolini, „ist für mich auch die Sehnsucht, zu etwas Größerem zu gehören, zu einer demokratischen Gemeinschaft!“ Aber diese Sehnsucht der Bürgermeisterin wird nicht erfüllt. Der Staat bleibt für die Lampedusaner ein fernes Wesen. An seinen Schaltstellen sitzt eine politische Kaste, die in erster Linie mit sich selbst beschäftig ist. Sie hat Uniformierte geschickt, für Notfälle stehen sie bereit. „Immigration ist keine Ausnahmesituation“, sagt Nicolini, „sie ist ein historischer Prozess, der unsere Insel vor fünfzehn Jahre erfasst hat. Immigration ist unser Alltag, und sie wird unser Alltag bleiben.“ Doch das Alltägliche interessiert den italienischen Staat wenig. Meist überlässt er die Bürger sich selbst.

Die Lampedusaner haben sich darin eingerichtet. Sie pflegen die alte italienische Kunst des Sich-Arrangierens. Die Auswirkungen sind verheerend. Lampedusa hat offiziell Unterkünfte für 2.000 Touristen, in Wahrheit finden im Sommer bis zu 40.000 Platz. Die Insel, gerade mal 22 Quadratkilometer groß, ist übersät mit Häusern. Fast alle wurden illegal gebaut. Bis heute hat die Gemeinde keinen Bebauungsplan. Lampedusa ist so klein, dass jedem einleuchten müsste, wie selbstmörderisch das ist.

Zugleich zeigt sich hier eine perverse Symbiose zwischen Bürgern und Regierenden. Die Illegalität ist für Politiker eine gewaltige Stimmenbeschaffungsmaschine. Condono ist der zentrale Begriff: Strafnachlass. Wer gestern noch illegal gebaut hat, dessen Haus wird heute gegen die Zahlung eines meist geringen Bußgeldes legalisiert, dank der von der Regierung erlassenen Strafe. Das bedeutet nicht das Ende der Illegalität. Es wird weiter wild gebaut. Denn der Staat, der in Lampedusa so stark tut, ist in Wahrheit sehr schwach. Er ist nicht willens oder nicht in der Lage, die Gesetze durchzusetzen. Das weiß jeder Bürger, das erlebt er tagein, tagaus — und er zieht daraus seine Konsequenzen. Je mehr Leute illegal bauen, desto wahrscheinlicher ist ein weiterer Strafnachlass. Silvio Berlusconi ist der Politiker, der im Wahlkampf Sündern aller Art Gnade verspricht. Und die Sünder schenken ihm die Stimme, das ist die Geschäftsgrundlage zwischen dem Patron und seinen Klienten.

Lampedusa ist trotz allem keine Piratenhochburg. Auch hier gibt es aufrechte Kämpfer für Recht und Ordnung. Giovanni Fragapane war zehn Jahre lang Bürgermeister, zwischen 1983 und 1993. Er hat ein Buch mit dem Titel Lampedusa geschrieben. 550 Seiten Geschichte hat Fragapane dem schroffen Stein inmitten des Meeres abgerungen. „Einen Beweis meiner Liebe“ nennt er das Buch.

Doch seine Liebe brennt nur mehr im Verborgenen, denn Fragapane hat sich zurückgezogen, enttäuscht von den Institutionen, enttäuscht auch von den Mitbürgern, die sehenden Auges ihre Heimat plündern. Es war nie jemand da, der die Insel vor Gier und Ausbeutung schützte. Auch dieEuropäische Union blieb untätig. Fragapanes Vater war Fischer, ein guter Fischer, wie der Sohn sagt. Er habe es geschafft, auch bei starkem Gegenwind, in den kleinen Hafen von Lampedusa einzulaufen, was nicht jedem gelinge. Er habe Fische und Schwämme in rauen Mengen aus dem Meer geholt. Doch heute sind die Fischgründe leer gefischt, die Schwämme sind seltener geworden, die Preise verfallen. Gegen die Überfischung, sagt Fragapane, gebe es viele Verordnungen aus Brüssel. Doch geholfen hätten sie nicht, sie seien Papierwerk geblieben. Lampedusa ist eine Außengrenze Europas, sie wird „verteidigt“ – und wenn auch nur gegen Flüchtlinge, die auf überfüllten Booten, geschwächt und halb verdurstet, übers Meer kommen. Der Festungsturm Lampedusa soll durch Wehrhaftigkeit abschrecken, doch im Inneren herrschen Gesetzlosigkeit und Schwäche.

Ventotene

Italien ist ein Geburtsland der Europäischen Union, und das hat mit einer winzigen Insel namens Ventotene zu tun. Im Jahr 1941 beugte sich hier ein Gefangener namens Altiero Spinelli über einen grob zusammengezimmerten Tisch und arbeitete sich schreibend durch die europäische Geschichte. Er analysierte die Gründe für den Aufstieg desFaschismus, er beleuchtete die gesellschaftlichen Kräfte, die dafür verantwortlich waren. Er war 34 Jahre alt und saß schon seit vierzehn Jahren im Gefängnis. Als er verhaftet wurde, war er noch Kommunist gewesen, doch vom Kommunismus hatte er sich gelöst. Die Schrecken des Stalinismus der dreißiger Jahre hatten ihn geläutert. Er suchte einen Weg zwischen den Extremen, die Europa zerrissen.

In der Einsamkeit Ventotenes, während Mussolini Italien beherrschte und sein Verbündeter Adolf Hitler fast ganz Europa unterworfen hatte, notierte Spinelli: „Das Problem, das in erster Linie zu lösen ist, ist die definitive Abschaffung der Nationalstaaten. Wenn das nicht gelingt, ist jeder Fortschritt unmöglich.“ Spinelli entwarf eine europäische Ordnung für die Zeit nach der Niederlage von Faschisten und Nazis, die zu diesem Zeitpunkt alles andere als sicher erschien. Das Dokument wurde aus dem Gefängnis geschmuggelt, es zirkulierte unter Partisanen und prägte ihr Bild von einer friedlichen Zukunft. Noch zerfleischten sich die Europäer gegenseitig, doch das würde bald eine Ende haben. Das Rezept für einen ewigen Frieden auf diesem blutgetränkten Kontinent – das war das Versprechen des Manifests von Ventotene. Darin bestand seine revolutionäre Kraft. Europa als Antwort auf Faschismus und Krieg. 1941 wirkte das Manifest von Ventotene noch wie die Vision eines hoffnungslosen Träumers, geschrieben auf einem Eiland, das schon den alten Römern als Insel der Verbannten bekannt war.

Und heute? 700 Einwohner hat Ventotene im Sommer; im Winter ist es nicht einmal die Hälfte. Der Gründungsmythos der EU hat sich in den Körper Ventotenes eingeschrieben: Plaketten, Inschriften, eine Bibliothek, Tagungen, Veranstaltungen — die winzige Insel will sich eine große Identität verleihen. Sie hat ja auch eine Geschichte voller Pathos zu bieten: Europa wurde in der Gefangenschaft geboren. Die Befreiung gelang. Ein Gebäudeflügel des Europäischen Parlaments in Brüssel ist nach Spinelli benannt.

Doch der Mythos hat seine Kraft verloren. Das Pathos wirkt angesichts der gegenwärtigen Lage schal. Rund 30 Prozent der italienischen Jugendlichen sind arbeitslos. Sie leben in einer anderen europäischen Wirklichkeit, die jenseits der wohltönenden Rhetorik über die Europäische Union liegt. Der Bürgermeister von Ventotene, Giuseppe Assenso, lebt genau auf der Grenze, an der Bruchstelle zwischen diesen beiden Welten. Er steht als Lokalpolitiker mittendrin in dem von der Wirtschaftskrise geschüttelten Italien – und gleichzeitig pflegt und poliert er als Bürgermeister Ventotenes die Oberfläche Europas.

Da das Wetter umzuschlagen droht und die nächsten Fähren wahrscheinlich nicht mehr auslaufen können, ist Assenso von Ventotene auf das Festland in die Stadt Formia gekommen, um zu reden. Im bürgerlichen Café Tirreno spricht er in eleganten Worten von seinen europäischen Überzeugungen. Als aber der Name Mario Monti fällt, des europäischsten aller Spitzenkandidaten bei dieser Wahl, sagt er knapp: „Er hat uns nur gepeinigt! Er hat von uns nur genommen und uns nichts gegeben!“ Monti, der Europäer, ist für Assenso eine Fehlbesetzung. Er bevorzugt offenbar einen anderen Kandidaten: Berlusconi, ausgerechnet den Mann, den Europa am meisten fürchtet.

„Berlusconi ist der einzige Kandidat, der den Italienern Hoffnung gibt!“

Aber er macht seit zwanzig Jahren Versprechungen!

„Alle anderen sprechen nur in düsteren Worten über unsere Lage. Er nicht!“

Berlusconi hat ein großes Publikum, das bereit ist, ihm zu glauben. In dem, was Bürgermeister Assenso sagt, drückt sich auch die politische Kultur des Landes aus. Sie ist geprägt von einer weit verbreiteten Vergesslichkeit. Sie hat die Erinnerung an Berlusconis nicht gehaltene Versprechungen verblassen lassen – genauso wie die Erinnerung an die große europäische Tradition Italiens. Diese Amnesie verbindet sich mit dem Glauben, immer irgendwie durchkommen zu können. Mit Geschick, Schläue und Kreativität lässt sich angeblich jedes Schicksal meistern. Auch das hat mit dem abwesenden, schwachen Staat zu tun, der zwar Regeln setzt, aber sie nicht durchsetzen kann und dies vielleicht auch nicht will. Wo der Staat nicht ist, muss sich der Bürger selbst zu helfen wissen. Die Euro-Krise hat den italienischen Staat zum Handeln gezwungen, angeführt von Mario Monti, griff er in Bereiche ein, die normalerweise unbehelligt blieben: die Steuerhinterziehung zum Beispiel. Die Gegenreaktion aus dem „staatsfreien“ Raum ließ nicht auf sich warten: Sie nahm die Gestalt von Silvio Berlusconi an.

Predappio

Im schummrigen Licht der Krypta für den faschistischen Diktator Benito Mussolini knien Pilger, sie sprechen ein Gebet, verharren in Stille und tragen dann in ein dickes Gästebuch, das auf einer italienischen Nationalflagge aufgeschlagen liegt, ihre Gedanken ein. Was bewegt sie? Wenn man die Summe der vielen Einträge zu ziehen versucht, dann ist es der brennende Wunsch nach klaren Verhältnissen, nach jemandem, der aufräumt und den Weg frei macht, damit wieder Großes unternommen werden kann: „Gott gebe uns einen Mussolini, nur für einen Monat!“

Predappio ist seit vielen Jahrzehnten der Wallfahrtsort für Neofaschisten. In einer ganzen Reihe von Geschäften können sich Mussolinis Anhänger mit Devotionalien eindecken. Büsten des Duce sind der Renner. Auch T-Shirts mit aufgedruckten martialischen Sprüchen verkaufen sich gut. Hier kann man in einem Laden mit dem Namen „Ultima Bandiera“ (Die letzte Fahne) die zweite Ehefrau des jüngsten Sohnes von Mussolini treffen und sich von ihr die Vorzüge des leider, leider verstorbenen Duce darlegen lassen; man kann mit ihr am Grab Mussolinis stehen und ihr zusehen, wie sie betet und sich Tränen aus den Augenwinkeln wischt. In der kalten, düsteren Krypta wirkt sie wie ein Gespenst, wie ein Wesen aus einer anderen Zeit.

Doch diese Zeit will nicht vergehen. Als Berlusconi 1994 in die Politik eintrat, lobte er ausdrücklich die neofaschistische Partei. Später bildete er mit ihr eine Koalition. Mussolini ist ein Untoter, der in seinem Geburtsort Predappio und in ganz Italien seit geraumer Zeit umgeht. Neu ist heute der Kontext. Es herrscht die tiefste Krise der europäischen Nachkriegszeit, und, wie es einer in Predappio ausdrückt: „Krisen kennen wir in Italien viele, sie hatten alle ein Ende. Doch diese hier scheint ohne Ausgang!“ Die empfundene Perspektivlosigkeit lähmt die Gedanken und nährt die Sehnsucht nach einfachen Lösungen. Die durch die Euro-Krise beschleunigte, schmerzhafte Modernisierung Italiens erzeugt einen Fluchtreflex — auch in eine düstere Vergangenheit.

Das hat Silvio Berlusconi verstanden. Ausgerechnet am Holocaust-Gedenktag, bei der Einweihung eines Mahnmals in Mailand, sagte er: „Mussolini hat auch viel Gutes getan!“ Die Empörung war groß, doch die Botschaft war abgesetzt. Sie kommt bei vielen an. Das hat auch der Komiker und Neu-Politiker Beppe Grillo begriffen. Er lud die Aktivisten der neofaschistischen Organisation „Casa Pound“ zur Zusammenarbeit mit seiner Bewegung ein. Benito Mussolini bewegt also immer noch eine ganze Menge Stimmen.

Das Predappio Mussolinis ist kein schöner Ort, doch es gibt noch ein anderes Predappio, das ursprüngliche Dorf, ein paar Häuser auf einem steilen Hügel, die sich im Schatten einer mittelalterlichen Burg ducken. Sympathien für Mussolini äußert hier niemand; tatsächlich hat Predappio mit großer Mehrheit einen linken Bürgermeister gewählt, Giorgio Frassineti vom sozialdemokratischen Partito Democratico. Er ist ein kleiner, kugelrunder Mann, wendig wie eine Katze. Er liebt es, Bürgermeister von Predappio zu sein. Das sei eine besondere Aufgabe. Er muss sich immer nur mit den Worten „Ich bin der Bürgermeister von Predappio“ vorstellen, um entweder eine gewisse Verstörung auszulösen – oder helle Begeisterung. Das Spiel mit den Zuschreibungen amüsiert ihn prächtig.

„Predappio hat nun einmal diese Geschichte, die kann man nicht auslöschen!“ Das sagt er als einer, der in seiner politischen Biografie außen links begann und heute links der Mitte gelandet ist. „Es gibt viele junge Leute, die zur Krypta Mussolinis pilgern. Ich rede mit denen. Ich finde es schrecklich, wenn sie dem Faschismus nachhängen. Doch man muss sie ernst nehmen. Denn sie stellen sehr oft die richtigen Fragen: Warum habe ich keine Arbeit? Warum habe ich keine Zukunft? Warum werden wir betrogen? Warum stiehlt die Elite so schamlos? Warum sollten wir nicht Nationalisten sein? Wozu sind wird überhaupt Europäer, wenn es uns nichts bringt? Wozu taugt diese Demokratie überhaupt?“

Mailand, Bocconi-Universität

Das Gebäude der privaten Wirtschaftsuniversität Bocconi ist ein verschachtelter Bau aus Sichtbeton, der durch viel Glas Transparenz vermittelt, gleichzeitig aber kühle, überlegene Macht ausstrahlt. Hier wird die Elite Italiens ausgebildet. Mario Monti war einmal Rektor der Bocconi-Universität. Als er im Herbst 2011 in äußerster Not zum Ministerpräsidenten ernannt wurde, holte er fast alle seine Minister von dieser Hochschule. „Es ist eine der Stärken der Bocconi“, sagt ihr heutiger Rektor Andrea Sironi, „der öffentlichen Verwaltung Personal zur Verfügung zu stellen.“

Die Welt scheint an der Bocconi noch in Ordnung zu sein. 94 Prozent aller Absolventen finden nach ihrem Abgang Arbeit, auch jetzt, in Zeiten der Krise, sind sie noch begehrt. Die Zahl der Studenten aus aller Welt ist ziemlich hoch, was für italienische Universitäten etwas Besonderes ist. Denn sie haben einen schlechten Ruf, sie sind unterfinanziert, sie haben wenig Lehrpersonal von hoher Qualität, und wer sie absolviert, muss sich häufig in das Heer der jugendlichen Arbeitslosen einreihen – oder er flüchtet ins Ausland. Die besten Köpfe verlassen Italien, das ist bereits seit Jahren ein Problem. Inzwischen gehen viele schon gar nicht mehr an die Universität. Im vergangenen Jahr sank die Zahl der Erstsemesterstudenten landesweit um 58.000. Die Nachricht platzte wie eine Bombe mitten in den Wahlkampf.

Die Bocconi berührt all die Aufregung auf den ersten Blick nicht. „Wir konzentrieren uns darauf, unsere Arbeit so gut wie möglich zu machen“, sagt Rektor Sironi und wirkt dabei wie der Kapitän eines Luxusschiffes, das jeden noch so heftigen Sturm überstehen kann. Dabei ist gewiss auch den Professoren der Bocconi nicht entgangen, dass die einjährige Regentschaft ihres ehemaligen Rektors im besten Falle als durchwachsen betrachtet werden kann. Monti hat erfahren müssen, dass es nicht reicht, sich als ein Techniker zu verstehen und sich nur der Sache verpflichtet zu fühlen.

Je länger Monti regierte, je härter er durchgriff, desto mehr politische Zustimmung benötigte er, im Parlament, aber auch in der Öffentlichkeit. Als guter Politiker hätte er viel Überzeugungsarbeit leisten müssen – doch das tat er nicht, oder er begann zu spät damit. Vermutlich war er von der Richtigkeit seiner Sache zu sehr überzeugt, sie erschien ihm evident. Darin ist auch ein Abglanz einer Eliteuniversität zu erkennen, die mit der Mehrheit der Leute, dem „einfachen Volk“, zumindest fremdelt. Sie spricht die Sprache derer nicht, die draußen vor dieser Zitadelle des Wissens und der Macht versuchen, mit tausend Mühen durch die Krise zu kommen. „Wir sehen die ersten Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung“, sagt Rektor Sironi. Aber selbst wenn er recht hätte – wer hört das draußen auf dem Politbasar, wo der Traumverkäufer Silvio Berlusconi auf der Bühne steht? Vernunft allein schafft keine Mehrheiten.

 

Wider den Afghanistan-Pessimismus

2014 werden die letzten Nato-Kampftruppen Afghanistan verlassen haben. Gerade mal 10.000 Mann wollen die US-Amerikaner im Land belassen. Was wird danach geschehen? Die meisten Szenarien, die derzeit darüber entwickelt werden, sind düster. Sie reichen vom Bürgerkrieg bis zur Rückkehr der Taliban an die Macht.

Es gibt sicher viele gute Gründe daran zu zweifeln, dass Afghanistan nach 2014 Frieden finden wird. Trotzdem ist es schon erstaunlich, wie wenig man den Afghanen selber zutraut. Immerhin ist Afghanistan ihr eigenes Land. Da kann man annehmen, dass sie selbst am besten wissen werden, wie es zu einer Versöhnung unter ihnen kommen kann.

Aber nein: Wir glauben, dass der Abzug der Nato–Soldaten unweigerlich in einer weiteren Katastrophe mündet. Wenn die Eltern aus dem Haus sind, dann streiten sich die Kinder. Das ist eine unverhohlen paternalistische Haltung, die hier zum Ausdruck kommt.

Der Zweck dieser Behauptung ist leicht durchschaubar. Die imaginierte, vorweggenommene Gewalt in Afghanistan dient dazu, den zu Ende gehenden Einsatz zu rechtfertigen. „Seht Ihr, was sie ohne uns machen! Sie schlagen sich tot!“ Das bedeutet im Umkehrschluss: „Als wir noch da waren, war es besser!“ Tatsächlich hat sich die Nato immer gerne als eine Art gütiger Vater dargestellt, der die ungezogenen, gewalttätigen Kinder unter Kontrolle hielt. Nichts liegt der Wahrheit ferner.

Die Nato war immer Kriegspartei, sie unterstützte eine Seite gegen die andere. Und wenn ihre Vertreter auch behaupteten, sie wollten Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte durchsetzen, verfolgten sie dabei doch eigene strategische Interessen. Das ist legitim, nur sollte man es auch aussprechen. Den Krieg hat die Nato jedenfalls nicht beendet, eher hat sie ihn befeuert.

Könnte es aber sein, dass die Afghanen nach 2014 Frieden finden? Möglich ist es, auch wenn es schwierig wird. Hier sind eine paar Argumente dafür, dass es so kommen könnte.

Die afghanische Armee hat bereits in großen Teilen des Landes die Sicherheitsverantwortung übernommen. Sie wird immer wieder in Kämpfe verwickelt und zunehmend mehr ihrer Soldaten kommt dabei ums Leben. Aber insgesamt hat die Anzahl der Anschläge, Attentate und Angriffe abgenommen. Das bedeutet, dass auch die Taliban ihre Strategie verändert haben.

Warum? Viele Taliban haben immer gesagt, dass sie zur Waffe greifen, um gegen die Besatzer zu kämpfen und dafür, dass diese vollständig abziehen. Möglich, dass jetzt eine ganze Reihe von Taliban — immerhin ist das eine sehr heterogene Gruppe — die Waffen schweigen lässt, weil ihnen gelungen ist, was sie erreichen wollten.

Die Geschichte des modernen Afghanistan gibt wenig Anlass zu Optimismus, doch an eines sollte man doch erinnern: Das große Unglück kam für Afghanistan meist von außen.

 

Die simulierte Revolution

Zehntausende Pakistaner demonstrierten in Islamabad gegen die Regierung. Ein charismatischer Prediger verlangte deren Rücktritt. Gleichzeitig ordnete das Oberste Gericht die Verhaftung des Premierministers an. Pakistan schien vor wenigen Tagen am Rande einer Revolution zu stehen – und was ist geschehen? Die Regierung machte dem Prediger Tahir ul Qadri einige Zugeständnisse und dieser schickte darauf seine Anhänger einfach nach Haus. Der Premierminister sitzt nicht in Haft. Die Revolution ist abgesagt, ja nicht einmal die Regierung ist gestürzt.

Das ist auf den ersten Blick erstaunlich. Denn Pakistan ist gezeichnet von extremen sozialen Gegensätzen, die Elite des Landes ist korrupt und die Regierung unfähig. Die Voraussetzungen für eine Revolution wären also da.

Doch was wir in diesen Tagen in Pakistan erlebt haben, war nur die Simulation einer Revolution. Darüber sollte man sich, trotz all des Getöses, nicht wundern. Denn in Pakistan fehlt das revolutionäre Subjekt: das Volk. Jenes schwer zu fassende, aus zig Millionen Menschen bestehende Subjekt, das jede Angst ablegt, ist die einzige Kraft, die eine radikale Veränderung herbeiführen kann.

Das pakistanische Volk aber ist immer nur der Zuschauer eines Machtkampfes, der innerhalb der Elite ausgetragen wird. Militär, Justiz und Regierung bekämpfen sich bis aufs Blut – und einigen sich dann wieder. Was so revolutionär erschien, war nichts anderes als die Balancierung der Machtverhältnisse innerhalb der herrschenden Elite. Sie mussten etwas ins Gleichgewicht bringen. Das wars.

Die Pakistaner sind Statisten, eine andere Rolle ist ihnen nie zugedacht worden, eine andere haben sie für sich bisher nicht gewinnen können.

Warum aber ist die Masse der Pakistaner nicht in der Lage, das Joch dieser zynischen Elite abzuschütteln? Warum kann es nicht ins Zentrum der Geschehnisse rücken und sie vorantreiben? Weil Generäle, Großgrundbesitzer und Mullahs – das Dreigestirn der pakistanischen Macht – es bis zur Perfektion verstehen militärischen Krisen (Indien), religiösen Extremismus und feudale Abhängigkeiten zum eigenen Nutzen einzusetzen. Die Pakistaner bleiben Gefangene dieses dichten Geflechts.

 

Kann Monti Wahlkampf?

Wird Mario Monti in den Ring steigen? Nachdem der italienische Premier am 25. Dezember seinen Rücktritt erklärt hatte, hielt diese Frage die Italiener in Atem. Jetzt hat Monti entschieden. Er will auch nach den Wahlen Ende Februar Premierminister bleiben. Dafür begibt er sich in die gefürchteten Niederungen italienischer Innenpolitik.

Das ist überraschender, als es auf den ersten Blick erscheint. Ein Monti, der sich dem lähmenden innenpolitischen Gezänk aussetzt, war für viele seiner Anhänger kaum vorstellbar. Der distinguierte Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige EU-Bürokrat bezog nämlich einen guten Teil seiner Popularität aus dem Ruf, über dem Parteienstreit zu schweben. Er war de facto der Chef einer Notstandsregierung. Im November 2011 wurde Montiin das Amt des italienischen Premierministers berufen, ohne gewählt worden zu sein. Die Parteien im Parlament unterstützten ihn, weil Italien vor dem Staatsbankrott stand. Zu Monti gab es keine Alternative. Er gab sich als Mann, der nur der Sache verpflichtet war – der Sanierung der maroden Staatsfinanzen. Ein Verwalter und Retter der Nation zugleich.

Diese Zeiten sind vorbei. Jetzt wirbt Monti selbst um Stimmen. Dafür hat er ein Programm, die »Agenda Monti«, veröffentlicht. Klingst alles einfach, ist es aber nicht. Monti selbst kann nicht kandidieren, weil er als Senator auf Lebenszeit bereits in einer der beiden Abgeordnetenkammern sitzt. Die Tatsache, dass er selbst als Person nicht um Stimmen werben muss, versucht er als Vorteil zu nutzen. Er legt den Schwerpunkt auf das Programm seiner »Bewegung«. Sie soll für alle »demokratischen, bürgerlichen und verantwortungsvollen Kräfte« offen sein. Ausdrücklich will Monti seine Lista Monti nicht als eine Bewegung der »Mitte« sehen, denn Kategorien wie »rechts« und »links« sind seiner Meinung nach überholt – Überbleibsel des 20. Jahrhunderts. Es gehe nur um die Sache: die Reform Italiens. Und die sei dringend nötig. Schon das Ergebnis der kommenden Wahlen werde entscheiden, so Monti, ob »Italien weiter eine große Nation im Zentrum europäischer und internationaler Politik sein wird oder ob es in die Isolation und Bedeutungslosigkeit abrutscht«. Dramatischer kann man die Lage kaum beschreiben.

Montis Orientierung an der Sache erinnert an den Satz des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, nach dem es weder eine »rechte oder eine linke Wirtschaftspolitik gibt, sondern nur eine gute und eine schlechte«. Das ist freilich die Reduktion von Politik auf ein technisch–bürokratisches Geschäft. Man müsse die Maschine Italien nur befreien von dem lästigen Gewicht der Parteien, dann würde sie wieder zum Laufen kommen. So lautet die ganz und gar nicht verborgene Botschaft Montis.

Vor fast 20 Jahren betrat in Italien ein Mann mit ähnlichen Ideen die politische Bühne: Silvio Berlusconi. Auch ihm waren Parteien angeblich ein Graus, überholte Apparate allesamt, nur die Sache – behauptete er – zähle. Viele Italiener glaubten Berlusconi damals, weil er ein erfolgreicher Unternehmer war – und daher angeblich politikfern. Heute vertrauen viele Italiener Monti, weil er eine brillante Karriere als Wissenschaftler und Eurokrat hinter sich hat – und auch nach einem Jahr im Amt des Premiers eine angeblich noch politikferne Figur abgibt.

Monti setzt darauf, dass starke Kräfte jenseits der Parteien walten. Sie sollen seine harten Reformen stützen. Doch einstweilen haben sich Männer um die Lista Monti geschart, bei denen viele Italiener das nackte Grauen packen dürfte: Gianfranco Fini und Pier Ferdinando Casini sind nur zwei Beispiele. Beide, der Exfaschist und der ehemalige Parlamentspräsident aus der Ära Berlusconi, sind Prachtexemplare der von den Italienern zutiefst verachteten politischen Klasse.

Monti will nach eigenem Bekunden weder der sozialdemokratischen Partito Democratico noch der Partei Silvio Berlusconis Stimmen abjagen. Er möcht jene Italiener mobilisieren, die, angewidert von der Politik, sich fernhalten. Ihren Anteil schätzt er auf 40 Prozent. Wie Monti aber diese Menschen für sich einnehmen will, wenn er mit Dinosauriern der politische Kaste in den Kampf zieht, bleibt ein Rätsel. Der Mann ist kein Wahlkämpfer – und wird wohl auch keiner mehr werden. Eine relative Mehrheit traut ihm bei den Wahlen keiner zu. Wenn es gut geht, wird er Juniorpartner in einer sozialdemokratisch geführten Koalition.

 

Obama, der Afghanistan-Realist

Wenn Afghanistans Präsident Hamid Karzai sich am Freitag in Washington mit Barack Obama trifft, wird er mit einem US-Präsidenten sprechen, der sich dem Realismus verschrieben hat. Für Afghanistan bedeutet das Treffen das Ende des militärischen Engagements durch den Westen. Barack Obama hatte den Afghanistan-Einsatz immer als einen „notwendigen“ Krieg bezeichnet, im Unterschied zum Irakkrieg, der ein „falscher“ Krieg sei. Notwendig erschien dem US-Präsidenten dieser Krieg, weil er eine Reaktion auf 9/11 war.

Al-Kaida hatte 2001 die USA angegriffen, Al-Kaida musste also zerstört werden — und ihre Basen lagen nun einmal in Afghanistan. Die dort herrschenden Taliban legten ihre schützende Hand über die Terroristen. Also mussten auch die Taliban gestürzt werden. Das war die nachvollziehbare Logik. Nach nicht einmal sechs Wochen Krieg flüchteten die Taliban aus der afghanischen Hauptstadt Kabul. Al-Kaida war zwar nicht vollkommen zerschlagen, aber Afghanistan war keine Basis mehr von der aus sie operieren konnten. Das Ziel des „notwendigen Krieges“ war erreicht.

Aber es gab keinen Rückzug – im Gegenteil. Nachdem die Taliban vertrieben worden waren, engagierten sich die USA und mit ihr die Nato immer stärker. Zuerst waren es ein paar tausend Soldaten, im Jahr 2010 jedoch waren es bereits 130.000, davon 90.000 aus den Vereinigten Staaten. Diese hatten jetzt nicht nur Terroristen zu bekämpfen, sie sollten auch ein zerstörtes Land wieder aufbauen. Doch das war keine klassische Aufgabe für Armeen. Das konnten die Soldaten nicht, sie waren überfordert.

Afghanistan ist daher ein klassischer Fall von „mission creep“ — von einer schleichenden Ausweitung des Einsatzes. Es gab eine klare Begründung für den Krieg, es gab aber keine mehr für das, was nach dem Fall von Kabul im Herbst 2001 folgte. Warum sind westliche Soldaten in Afghanistan? Darauf gab es im Lauf der Jahre viele langatmige Antworten. Sie überzeugten aber nicht, zu widersprüchlich waren sie, zu wolkig.

US-Präsident Barack Obama will jetzt offensichtlich für klare Verhältnisse sorgen. Er spielt mit dem Gedanken nach 2014 sämtliche Truppen aus Afghanistan abzuziehen. Damit kehrte er konzeptionell in den Herbst 2001 zurück. Der afghanische Präsident Hamid Karzai will von einem Komplettabzug aber nichts wissen. Er hat gute Gründe dafür. Es waren US-Truppen, die ihm 2001 den Zugang zur Macht eröffnet hatten. Es ist sehr fraglich, ob er sich ohne US-Soldaten im Amt halten wird.

Kann der Westen es sich denn leisten, ganz aus Afghanistan abzuziehen?

Die Frage muss man anders stellen: Kann der Westen es sich leisten, dort mit vielen tausend Soldaten zu bleiben?

Die Antwort ist: Nein.

Der Afghanistan-Einsatz ist der Bevölkerung in den USA nicht mehr zu vermitteln, in Europa war es immer schon schwierig. Es ist oft davon die Rede, dass die westlichen Völker keine Geduld hätten, dass sie nicht bereit wären, für eine Sache zu kämpfen, dass sie allesamt „postheroische“ Gesellschaften seien (postheroisch ist das Wort, das Akademiker gerne für feige verwenden). Das ist ein unberechtigter Vorwurf. Immerhin haben diese angeblich so postheroischen Gesellschaften mehr als elf Jahre lang einen Krieg unterstützt — wenn auch murrend —, der viele Milliarden Euro verschlang, tausenden Soldaten das Leben gekostet hat und dessen Begründung ziemlich wackelig war. Feigheit sieht anders aus.

Der Abzug ist unvermeidlich, weil dieser Krieg keine Legitimation mehr hat. Trotzdem sollte man das Mögliche tun, damit Afghanistan nicht verloren geht — wobei verloren gehen vor allem eines hieße: Das Land versinkt wieder in Bürgerkrieg und Chaos.

Das wäre in erster Linie bitter für die Afghanen, aber es hätte möglicherweise auch Folgen für den Westen. Worin besteht das Mögliche, das man tun kann? Darin, Hilfe zu leisten. Das geht auch ohne Soldaten.

 

Der Virus der Erregung

Polioimpfung im nordwestlichen Stammesgebiet Pakistans, Juli 2012. © Daniel Berehulak/Getty Images

Die folgende Geschichte handelt von der Ausbreitung eines sehr gefährlichen Virus‘. Aber sie ist keine Medizingeschichte. Es ist ein Bericht über die Folgen und die Natur des Krieges gegen den Terror, der seit mehr als elf Jahren im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet geführt wird. Beginnen wir mit Mohammed Ishak, der in Pakistan Schluckimpfung gegen Polio verteilt hat, eine infektiöse Krankheit, besser bekannt unter dem Namen Kinderlähmung. Zuletzt tat Ishak dies vergangenen Sommer irgendwo in einem Armenviertel namens Gadap in der pakistanischen Millionenstadt Karatschi.

Es war eine besondere Zeit für Männer wie Ishak. Die Weltgesundheitsorganisation WHO stand nach eigener Einschätzung kurz davor, die Polioerkrankungen in Pakistan endgültig auszurotten. Noch ein Prozent der Kinder fehlte, dann wäre die gesamte bedrohte Bevölkerungsgruppe geimpft gewesen. Es wäre ein historisches Ereignis gewesen, denn Pakistan gehört zu den letzten drei Ländern, in denen das Poliovirus noch häufig auftritt, Afghanistan und Nigeria sind die beiden anderen. Polio galt nach Pocken als die zweite Infektionskrankheit, welche die Menschheit ausrotten konnte. Mohammed Ishak durfte sich als Vorkämpfer in einer wahrlich großen Schlacht fühlen.

Doch es kam anders. Mohammed Ishak wurde in Gadap von einem Attentäter angeschossen. Er starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Nach ihm fielen weitere Kollegen Morden zum Opfer. Insgesamt kamen in den vergangenen sechs Monaten neun Impfhelfer ums Leben. Allein an zwei Tagen im Dezember starben sechs Impfhelfer, davon fünf Frauen, zwei weitere wurden verletzt. Anfang Januar starben sieben Impfhelfer an einem Tag im Kugelhagel der Attentäter – sechs davon Frauen.

Die WHO hat inzwischen die Polioimpfkampagne in Karatschi und in den Grenzgebieten zu Afghanistan eingestellt, weil sie die Sicherheit für die Mitglieder der Impfteams nicht mehr garantieren kann. Das Poliovirus wird es also auf absehbare Zeit weiter in Pakistan geben. Das ist nicht nur für Pakistan äußerst problematisch. „Solange es Polio in einem einzigen Land gibt, ist das eine Gefahr für alle Länder in der Welt“, sagt der Brite David Hayman, der lange für das Programm der WHO zur Ausrottung von Polio gearbeitet hat. Tatsächlich sind in China erstmals seit 1999 wieder Kinderlähmungen aufgetreten. Genetische Untersuchungen haben ergeben, dass die Viren aus dem benachbarten Pakistan eingeschleppt wurden. In Afghanistan hat sich die Zahl der Neuinfektionen im Jahr 2011 verdreifacht. Der Infektionsherd: die Grenzgebiete zu Pakistan. Das Land der Taliban erscheint meist als Heimstatt wilder Krieger. Vergessen wird leicht, dass die Menschen dort vor allem in bitterster Armut und Rückständigkeit leben. Polio ist ein Zeichen dafür. Krieg ist also nur eine von mehreren Geißeln, unter denen die Bewohner Waziristans zu leiden haben.

Wer aber könnte ein Interesse daran haben, Impfhelfer zu töten? Wer ermordet Menschen, die Kinder vor einer schlimmen Krankheit bewahren wollen? Bis heute hat niemand für die Attentate auf die Impfhelfer die Verantwortung übernommen, doch die Vermutung liegt nahe, dass es die Taliban waren. In den vergangenen Jahren haben sie mehrmals die Impfaktionen denunziert – mit abstrusen Behauptungen, zum Beispiel der, dass die Impfhelfer in Wahrheit den HI-Virus verbreiteten oder dass die Impfung das Ziel habe, muslimische Frauen unfruchtbar zu machen.

Das ließ sich in der westlichen Öffentlichkeit leicht als Obskurantismus abtun. Doch man vergisst dabei leicht: Die Taliban befinden sich in einem Krieg, der mit allen Mitteln ausgefochten wird, und zwar von allen Seiten. Anschläge, Folter, Selbstmordattentate, Drohnenangriffe, Spionage, Betrug. 2011 verhafteten die pakistanischen Geheimdienste einen Arzt namens Shakil Afridi. Er hatte scheinbar auf eigene Faust eine Impfaktion in der Stadt Abbottabad begonnen – nicht gegen Polio, sondern gegen Hepatitis B. Doch die Impfungen waren nur ein Vorwand. In Wahrheit sammelte Afridi genetisches Material, das auf die Spur des damals meistgesuchten Mannes der Welt führen sollte: Osama bin Laden. Die amerikanischen Ermittler vermuteten, dass Bin Laden in einem Haus in Abbottabad lebte. Afridi versuchte, dort wohnende Kinder zu impfen und über diesen Weg genetisches Material zu sammeln. Wenn sie mit Osama verwandt waren, hätte man das nachweisen können; dann wäre das zumindest ein Hinweis darauf gewesen, dass der Gesuchte auch im Haus leben könnte.

Am 2. Mai 2011 drang eine US-Spezialeinheit in das betreffende Haus in Abbottabad ein und tötete Bin Laden. Wie wichtig war dabei die Rolle des Arztes Afridi? Washington schwieg lange dazu, aber als die britische Zeitung The Guardian Shakil Afridis Geschichte öffentlich machte, sah man sich zu einer Stellungnahme gezwungen: „Sein Beitrag war nicht entscheidend, aber sehr wichtig.“ Die pakistanischen Behörden verhafteten Afridi und stellten ihn vor Gericht. Er wurde zu 33 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Ironie daran: Afridi wurde nicht nach dem pakistanischen Staatsgesetzen verurteilt, sondern nach den in den Stammesgebieten geltenden Sondergesetzen – sie sind drakonisch und stammen aus der Zeit, als der indische Subkontinent noch britische Kolonie war.

Aus Washington gab es heftigen Protest gegen das Urteil. Verteidigungsminister Leon Panetta setzte sich für Afridi ein: „Dieser Arzt hat nicht gegen Pakistan gearbeitet. Er hat gegen Al-Kaida gearbeitet, und ich hoffe, dass Pakistan das versteht.“ Doch es half nichts. Afridi sitzt immer noch in Haft. Der Fall Afridi belastet nicht nur die Beziehungen zu den USA, er hat unter den Hilfsorganisationen Alarm ausgelöst. Sie fürchten um ihren Ruf. Im Februar des Jahres 2012 schrieb InterAction, der größte Dachverband amerikanischer Nichtregierungsorganisationen, einen Offenen Brief an den damaligen Chef der CIA, David Petraeus: „Die Tatsache, dass die CIA humanitäre Arbeit als Tarnung benutzt, untergräbt die Glaubwürdigkeit und die Integrität aller humanitären Organisationen in Pakistan.“ Diese harsche Beschwerde ist nachvollziehbar. Das ist keine kleine Sache. Denn nur wenn den Helfern geglaubt wird, dass sie unabhängig sind, können sie ihrer Arbeit wirkungsvoll nachgehen.

Die Toten der vergangenen Wochen belegen die geäußerten Befürchtungen: Die Impfhelfer sind zu Zielscheiben geworden. Kaum war Afridi aufgeflogen, ließen die Taliban aus der Region Waziristan verlauten, dass sie in dem von ihnen kontrollierten Gebiet keine Impfaktionen mehr zulassen würden. Das hatte zur Folge, dass allein in Waziristan 280.000 Kinder ohne Impfung blieben. Der Infektionsherd bleibt bestehen, mit gefährlichen Folgen für alle. Zu der Zeit, als Afridi enttarnt wurde, hatte US-Präsident Barack Obama den Drohnenkrieg im Grenzgebiet bereits intensiviert. Fast täglich feuerten die unbemannten Angriffsflieger Raketen in der Gegend ab. Viele wichtige Kommandeure der Taliban und von Al-Kaida kamen ums Leben, mit ihnen aber auch Hunderte unbeteiligte Zivilisten.

So technisch überlegen Drohnen auch sein mögen, ihr Erfolg hängt von der Qualität der Informationen ab, die sie über mutmaßliche Terroristen sammeln. Je mehr Drohnen im Einsatz waren, je mehr Islamisten sie töteten, desto misstrauischer wurden die Taliban gegen jeden Auswärtigen, der sich in ihrem Gebiet aufhielt: Dazu gehören auch die Mitglieder der Impfteams. Die Taliban verdächtigen sie, die Informationen zu liefern, welche die Raketen der Drohnen letztendlich zu ihrem Ziel führen. Das kann man für paranoid halten, doch zeigt es nur, wie der Krieg gegen den Terror sich in diesen Jahren buchstäblich entgrenzt hat.

Jeder ist zum potenziellen Feind geworden. Selbst die Gesundheit von Kindern fällt dem gewaltsamen Kampf des Westens gegen Islamismus zum Opfer. Eine Forderung der Taliban aus Waziristan macht das deutlich: Sie verlangen die Einstellung der Drohnenangriffe – nur dann würden sie die Impfteams wieder arbeiten lassen. Militärexperten würden diese Drohung der Taliban als ein klassisches Beispiel für asymmetrische Kriegführung bezeichnen. Ihre waffentechnische Unterlegenheit kompensieren die Taliban mit absoluter Rücksichtlosigkeit. Der waffentechnisch Überlegene steht ihnen freilich in nichts nach. Die CIA trug den Krieg selbst in die Schlafzimmer der Afghanen. Die Washington Post berichtete im Jahr 2008, dass die CIA Viagra-Tabletten an afghanische Warlords verteilte, damit sie sie mit Informationen über die Taliban versorgten. Die Kriegsherren sollen sehr zufrieden gewesen sein, die CIA auch – die Meinung der Frauen dieser Kriegsherren ist nicht überliefert; viele von ihnen sind minderjährig.

 

Das Gift des Diktators

Der syrische Diktator Baschar al-Assad kämpft gnadenlos um seine Macht— aber wird er auch mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln kämpfen? Amerikanische Geheimdienste wollen erfahren haben, dass die syrische Armee Chemiewaffen für einen möglichen Einsatz vorbereitet. Allerdings hätten sie nicht das gesamte Arsenal »scharf« gemacht, sondern nur einen »sehr geringen« Teil davon. Aber, so ließen Geheimdienstmitarbeiter über die Presse streuen: »Wir wissen nicht, welche Absicht dahintersteckt.«

Obwohl die Aussagen recht nebulös und Geheimdienstinformationen notorisch unzuverlässig sind, trat US–Präsident Barack Obama vor die Presse und warnte Assad: »Wenn Sie den tragischen Fehler begehen, diese Waffen einzusetzen, wird dies Konsequenzen haben, und sie werden dafür zur Verantwortung gezogen.« Eine ähnliche Warnung hatte Obama im August ausgesprochen. Der Einsatz von Chemiewaffen sei die »rote Linie«. Das syrische Regime hatte den Rückgriff auf Chemiewaffen ausgeschlossen, mit einer Ausnahme: Wenn »ausländische« Kräfte sich militärisch in Syrieneinmischten, sei dieses Mittel nicht ausgeschlossen.

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TV-Reporter mit Gasmasken

Chemiewaffen und Diktatoren – das ist eine schaurige Geschichte, voll realer und imaginierter Gefahren. Wenn in der letzten Zeit ein nahöstlicher Diktator stürzte, kam meist diese Massenvernichtungswaffe als ultimatives Schreckbild ins Spiel. Als der Libyer Muammar al-Gaddafi sich im Sommer 2011 in der Hauptstadt Tripolis gerade noch halten konnte, fragte man sich bang: Wird er Chemiewaffen einsetzen? Als die US-Armee in Frühjahr 2003 auf Bagdad zumarschierte, sah man TV-Reporter mit am Gürtel pendelnden Gasmasken. Diese Bilder hinterließen beim Publikum einen bleibenden Eindruck.

Weder Gaddafi noch Saddam Hussein haben kurz vor ihrem Fall diese fürchterlichen Waffen eingesetzt. Wir wissen nicht, ob sie es nicht taten, weil sie dazu nicht mehr in der Lage waren oder weil sie es nicht wollten. Wir wissen aber, dass beide Chemiewaffen besaßen. Saddam Hussein hatte sie tatsächlich eingesetzt. Während des Krieges mit dem Iran (1980 bis 1988) ließ er iranische Truppen mit Chemiewaffen beschießen. Im Jahr 1988 richtete er unter irakischen Kurden ein Massaker an. In der kurdischen Stadt Halabdscha starben mehr als 5.000 kurdische Zivilisten einen qualvollen Tod, weil Saddam Hussein Behälter mit den Nervengiften Tabun und Sarin über der Stadt abwerfen ließ.

Ein Patt, den keiner anerkennen will

Chemiewaffen und Diktatoren – das ist eine gefährliche Kombination; gleichzeitig bieten die Massenvernichtungswaffen auch die Möglichkeit, einen Herrscher endgültig zu delegitimieren. Einer, der um den Preis des Machterhalts in Kauf nimmt, Tausende zu vergiften, stellt sich außerhalb der Zivilisation. Der kann kein Partner mehr sein, für nichts und niemanden. Das ist die politische Bedeutung der Debatte um einen möglichen Einsatz von Chemiewaffen. Trotzdem bleibt die Frage: Ist Assad so eine Tat zuzutrauen?

Eine Antwort darauf wird weniger in der Person zu finden sein als im militärischen und politischen Kontext, in dem sich der Diktator bewegt.

Die besondere Tragik des seit eineinhalb Jahren andauernden syrischen Bürgerkrieges besteht darin, dass zwar bisher keine der beiden Seiten in der Lage war, die andere militärisch zu besiegen, dass aber gleichzeitig beide glauben, dass dies möglich sei. Es besteht de facto ein Patt, das keiner anerkennen will. Das gilt nicht nur für die in Syrien Kämpfenden, es gilt auch für die ausländischen Mächte, die mitmischen. Die TürkeiSaudi-Arabien und Katar unterstützen die Aufständischen in dem Glauben, dass mittels Gewalt ihre Interessen gewahrt werden können; der Iran unterstützt Assad, weil der Sturz des Diktators iranische strategische Interessen beschädigen würde. Aus all diesen Gründen gibt es keinen politischen Spielraum für eine Lösung.

Das Bild, das sich auf dem Schlachtfeld bietet, ist das einer zunehmenden »Beirutisierung« Syriens. So wie der libanesische Bürgerkrieg (1975 bis 1990) Beirut über viele Jahre in eine mehrfach geteilte Stadt verwandelte, so zerbröselt auch Syrien zusehends unter den Schlägen und Gegenschlägen der Kriegsparteien. Die Rebellen kontrollieren Teile des Grenzgebietes zur Türkei und zum Libanon, das Regime behält in den größeren Städten mehr oder weniger die Oberhand. Spätestens seit die Aufständischen im Sommer 2012 – damals überraschend – Offensiven in Aleppo und Damaskus begannen, wechselte die syrische Armee ihre Taktik. Sie verzichtete darauf, die von Rebellen gehaltenen Stadtteile zurückzuerobern, und setzte auf ihre Waffenüberlegenheit. Kampfbomber, Artillerie und Raketen richten seither schlimme Verheerungen an. Die Armee schlägt ohne Rücksicht zu. Wo immer sich eine Menschenansammlung im Rebellengebiet bildet, läuft sie Gefahr, bombardiert zu werden. Assad ist nicht mehr der unumschränkte Herrscher Syriens, aber in der Luft ist seine Macht ungebrochen. Solange das so bleibt, wird sich die Pattsituation nicht auflösen.

Syrien ist nicht Afghanistan

Die Rebellen versuchen daher aus guten Gründen, die Lufthoheit Assads zu brechen. Sie greifen den Flughafen von Damaskus an, auch andere Flughäfen, von denen nicht nur Kampfjets aufsteigen, sondern wohin auch die Verbündeten Assads Nachschub schicken. Vor wenigen Tagen haben die Rebellen zum ersten Mal einen Kampfjet abgeschossen. Dabei haben sie angeblich von der Armee erbeutete Luftabwehrraketen russischer Bauart eingesetzt; möglich ist aber auch, dass die Waffen aus dem Ausland geliefert worden sind. Luftabwehrraketen haben in jüngerer Zeit schon einmal einen Krieg entschieden: in Afghanistan. Die sowjetischen Besatzer des Landes (1979 bis1989) hatten durch ihre Luftüberlegenheit die Mudschahedin an den Rand einer Niederlage gebracht. Doch dann bekamen die Rebellen die hypermoderne, leicht zu bedienende Abwehrrakete Stinger von der CIA geliefert. Die Sowjets verloren die Herrschaft über die Lüfte und bald darauf den Krieg.

Syrien ist nicht Afghanistan, doch der Rückgriff auf die afghanische Erfahrung öffnet den Blick für einen möglichen weiteren Verlauf des syrischen Bürgerkrieges. Die Aufständischen schießen Flugzeuge ab – damit zerbricht Assads stärkste Waffe. Was bleibt ihm also? Könnte Assad dann zum letzten Mittel greifen? Die Antwort muss offen bleiben. Die nicht zu überprüfende Geheimdienstnachricht, wonach Assads Armee begonnen habe, Chemiewaffen abzumischen, passt zu den ersten Nachrichten von abgeschossenen Kampfbombern. Was Kampfbomber nicht mehr schaffen, das könnte sich das Regime von chemischen Kampfstoffen erhoffen: die Aufständischen einzudämmen. Den Preis dafür hat Obama benannt. Das Pentagon hat bereits Berechnungen angestellt: 75.000 US-Soldaten bräuchte es für eine Intervention.