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Optimismus sieht anders aus

Den Verlautbarungen der Nato und der westlichen Regierungen zu Folge hat Afghanistan gute Chancen nach dem Abzug 2014 stabil zu bleiben. Aber was ist dann von diesen Stellungnahmen zu halten?

„Mit Sorge schauen die afghanischen Übersetzer, die in Diensten der Bundeswehr stehen, auf den Abzug. Weil sie fürchten, nach dem Abzug als Kollaborateure verfolgt zu werden, haben einige von ihnen eine Petition eingereicht – mit der Bitte um Arbeitserlaubnis in Deutschland. Die Angst kommt nicht von ungefähr. Übersetzer kriegen Interna der Alliierten mit. Sie gelten bei den Taliban als Augen und Ohren der verhassten Isaf-Truppen, als ihre Helfershelfer.

SPD-Verteidigungsexperte Rainer Arnold schließt sich dem Begehren der Afghanen an. „Ich sehe eindeutig eine Verantwortung Deutschlands, den afghanischen Mitarbeitern der Bundeswehr bei uns Schutz zu gewähren, wenn sie in Afghanistan gefährdet sind“, sagte er. „Man kann sie nach dem Abzug nicht einfach sich selbst überlassen.“

Sein grüner Kollege Omid Nouripour erklärte: „Nicht nur die Übersetzer sind in Lebensgefahr, wenn die Bundeswehr raus ist, sondern auch die Fahrer. Die Bundesregierung muss dringend sagen, was sie mit ihnen vorhat. Den größten Schutz hätten diese Menschen, wenn sie nach Deutschland kämen.“ Nouripour schätzt die Zahl der Betroffenen auf bis zu 3 000. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums betonte hingegen: „Für uns ist das zurzeit kein Thema. Denn wir wollen bis 2014 ein sicheres Umfeld für alle.“

 

 

Italiens Parteien sind hässlich, aber notwendig

Italien ist das schönste Land der Erde mit den hässlichsten Parteien der Welt – gut, das mag wie eine Übertreibung klingen, aber die Italiener selbst würden es nicht für eine solche halten. Nur vier Prozent aller italienischen Bürger haben laut Umfragen noch Vertrauen in die Parteien. Das muss einen nicht wundern, denn die Parteien haben das Land bis an den Rand des Abgrunds geführt. Das Ausmaß ihres Versagens wird erst richtig deutlich, seit der Parteilose Mario Monti Premierminister Italiens geworden ist. Monti genießt eine Zustimmung von mehr als sechzig Prozent, obwohl er sehr schmerzhafte Reformen durchsetzt. Das Volk ist offenbar bereit, sich ohne großes Murren von diesem Mann quälen zu lassen, während es derzeit allein bei dem Wort »Partei« schon aufschreit. Unter der Herrschaft der Parteien haben die Italiener wahrlich lange gelitten, sie haben ihre Eigensucht kennengelernt, ihre Machtgier, ihre Korrumpiertheit und ihre Unfähigkeit. Eine knappe Mehrheit (52 Prozent) glaubt inzwischen, dass »die Demokratie auch ohne Parteien funktionieren kann«. Worauf also warten? Auf den Müllhaufen der Geschichte mit diesen Parteien! Her mit Technokraten wie Monti! Ein dreifaches Hoch auf die graue Maus!

Einfach klingt das – gefährlich verlockend. Darum sollen an dieser Stelle die schrecklichen italienischen Parteien verteidigt werden.

Fangen wir gleich mit einer der fürchterlichsten an, mit der Lega Nord. Ihr Chef Umberto Bossi ist eben erst zurückgetreten, weil sich Leute in seinem engsten Umfeld die Taschen mit Geld gefüllt haben. Ausgerechnet die Lega, die sich als Verein der Saubermänner aufführte und immerzu gegen die korrupten Parteien aus Rom wetterte. »Roma ladrona!«, »Diebisches Rom!«, das war ein populärer Kampfruf Bossis. Nun hat er die Diebe im eigenen Haus. Außerdem ist zur Lega Nord noch zu sagen, dass sie rassistisch, vulgär, borniert, populistisch, islamfeindlich ist. Es gibt also nichts, was an ihr zu verteidigen wäre, nur eben das eine: dass sie eine Partei ist. Ein freier Zusammenschluss von Menschen, die in die Politik eintreten, um etwas zu ändern. Die Lega hat die Menschen in die Arena der Politik gebracht, die sich nicht vertreten fühlten. Als sie auf diese Bühne traten, zeterten, maulten, schimpften und spuckten wie die Berserker – alles sehr unappetitlich. Aber sie waren da, sichtbar, mit einem Anliegen: Wir wollen mitreden! Ihr Vehikel dafür war die Partei. Wäre etwas anderes besser gewesen: das aggressive Schweigen Hunderttausender etwa, die ressentimentgeladene Verbarrikadierung im Privaten oder der Protest auf der Straße?

Auch der unsägliche Silvio Berlusconi hat Millionen von Menschen in die Politik geführt oder sie in ihr gehalten. Sicher, Berlusconi hat Politik simuliert, während er sich bereicherte und Rom in ein Bordell verwandelte. Seine Partei heißt Popolo della Libertà – Partei der Freiheit. Wobei sie unter Freiheit verstand, alles zu tun, was ihr beliebte, ungeachtet aller Gesetze und Sitten. Auch an dieser Partei gibt es nichts, was man gut finden könnte, außer der Tatsache, dass Menschen sich zusammenfanden, um ihre Vorstellungen und Interessen gemeinsam durchzusetzen.

Das ist nicht immer schön, mitunter sogar abstoßend, das kann gefährlich und bedrohlich für die Demokratie sein – nur welches sind die Alternativen? Eine Lichtfigur wie Mario Monti. Aber der »Montismus«, der Glaube also, dass man ohne Parteien und ohne vom Volk gewählt werden zu müssen, das Beste für ebendieses Volk tun könne, ist eine Illusion. Monti selbst weiß das. Er wiederholt immer wieder, dass er nur auf Zeit bleiben werde, bis der Karren aus dem Dreck gezogen sei. Dann seien wieder die Parteien dran. Das heißt, es sind dann wieder die Italiener dran. Monti kann nur Übergang sein, das muss so sein, denn die Demokratie braucht den Machtwechsel, wenn sie Demokratie bleiben will.

Parteien kommen im Übrigen nicht aus dem Nichts. Sie sind so gut und so schlecht wie die Bürger, die sich in ihnen engagieren. Gewiss, auf die Lega Nord, auf Berlusconi hätte die Kulturnation Italien verzichten können, doch sie hat es nicht getan.

All die Hässlichkeiten der Parteien loszuwerden ist ein mühsamer Prozess, da müssen viele Räder ineinandergreifen. Eine debattenfreudige Öffentlichkeit, starke Institutionen, wacher Bürgersinn – das sind die Kräfte, die das Bedrohliche an den Parteien abschleifen können. Mailand macht es vor. Dort haben Bürgerkomitees jüngst die Wahl eines Reformbürgermeisters ermöglicht. Diese Komitees verstehen sich nicht als Ersatz für Parteien, sondern als deren Antrieb, als Stachel in ihrem Fleisch. Reform der Parteien ist die Aufgabe, nicht deren Abschaffung. Dann nämlich wäre eine Grundlage der repräsentativen Demokratie zerstört.

 

Wer kommt nach 2014?

Die Nato will aus Afghanistan ihre Truppen bis 2014 abgezogen haben. Die interessante Frage ist: WER kommt danach? Denn sicher wird Afghanistan nicht in Ruhe gelassen werden, dafür ist seine strategische Lage zu bedeutend. Afghanistan liegt an der Grenze zu den ölreichen zentralasiatischen Staaten. Und der Energiehunger der Welt wächst -besonders der Chinas und Indiens.

Also WER kommt nach der Nato nach Afghanistan?

Zum Beispiel die Inder.

Die afghanische Regierung hat im Herbst des vergangenen Jahres dem indischen Stahlriesen Hajigak Lizenzen zur Ausbeutung von Eisenerzminen erteilt. Die indische Regierung hat bei der Zustande kommen dieses Abkommens einen wichtige Rolle gespielt. Warum? Hier die Begründung

„India’s government backed the group (Hajikag), led by state-owned Steel Authority of India Ltd. (SAIL)and NMDCLtd. (NMDC), to widen the country’s strategic presence in Afghanistan, which Prime Minister Manmohan Singh has said is essential for Indian security.“

 

Stimmen aus dem Iran zum Krieg

In der Debatte um einen möglichen Krieg gegen den Iran fehlen allzu oft Stimmen aus dem Iran selbst, Stimmen von Oppositionellen. Die NGO International Campaign for Human Rights in Iran hat einen Bericht veröffentlicht, in dem 35 führenden Menschenrechtsaktivisten, Intellektuelle und Künstler zu einen militärischen Intervention befragt haben. Die Meinungen sind ziemlich einhellig:

„… Overwhelmingly, from the perspective of those interviewed for this report, military action against Iran by the

United States or Israel would be futile, counterproductive and irrational. Accordingly, while achieving none of the goals used to justify such action, a strike would lead to further political regression and repression, deeper enmity between the Iranian people and the United States, and severe humanitarian problems.

Much of the analysis and insight offered by Iranian civil society actors surveyed in this report thus bolsters existing arguments against military action made by the American and other international commentators.

An attack would further militarize the state, exacerbate the human rights crisis in Iran, and undermine Iranian civil society and the pro-democracy movement. Iranians interviewed by the Campaign said a military strike would lead to full militarization of the Iranian state and serve as a pretext for increased civil and political repression. A leading journalist said that given the Islamic Republic’s ongoing repression against alleged “soft war” tactics, a “real war” would lead to the complete elimination of the freedom of expression. A military strike would likely lead to an upsurge of political violence, threatening all those considered enemies of the government. Given the mass executions of numerous political prisoners during the Iran-Iraq War, strong fears were expressed about the fate of hundreds of current political prisoners in the event of a conflict with the United States.

A war with Iran would strengthen the current regime by stoking nationalism and dividing the opposition, and undercut the Iranian public’s goodwill toward the United States. While some proponents of a conflict with Iran have suggested that Iranians would turn on their own government in the event of an attack, the report’s interviewees argued that, given the extent and power of Iranian nationalism, a military strike would, on the contrary, strengthen the regime by bringing even some dissenters to its side. This tendency would be reinforced by memories of the US role in the fall of the Mossadeq government in 1953; a screenwriter said that in the event of a war against Iran, “the United States’ image will be more tarnished than ever for Iranians.”

Interlocutors rejected any possible use of the assault on human rights in Iran and democracy as a pretext for a US attack. Iranian experts referred to events in Iraq and Afghanistan, which they said showed the impossibility of successfully importing human rights and democracy after a military attack. They said an attack would undermine Iran’s long trajectory of internal political development.

Finally, some interviewees expressed serious concerns that a US military strike would have ruinous humanitarian, economic and environmental consequences. Iranians referenced their memories of the destructiveness of the Iran-Iraq War in expressing their fears that, in addition to leading to the loss of innocent civilian lives, a military strike would be a major setback to Iran’s economic development for many years, given its likely toll on the country’s economy and infrastructure.

Others argued that military action against Iran would likely be illegal under international law, and that a strike on Iran would lead to regional instability and encourage the regime to build nuclear weapons…“

Wichtig erscheint mir die Tatsache, dass diese Interviews zwei Jahre NACH der gewaltsamen Unterdrückung der Oppositionsbewegung im Jahr 2009 geführt  worden sind. Eine Intervention, so glauben alle, würde die Repression des Regimes nicht schwächen sondern noch verstärken.

 

 

 

 

Alternativen zum Krieg

Soll der Westen einen Krieg führen, um einen nuklear bewaffneten Iran zu verhindern? Nein. Denn ein Krieg kann den Bau einer iranischen Bombe nur verzögern, aber nicht verhindern. Darüber sind sich alle Experten einig, auch die Kriegsbefürworter unter ihnen.

Wenn das Regime in Teheran die Bombe bauen will, dann wird es dies tun. Es gibt Beispiele dafür, wie Staaten auch unter schwierigsten Bedingungen und gegen den Willen der ganzen Welt in den Besitz von Atombomben kommen konnten: Pakistan und Nordkorea. Was diesen beiden gelang, wird Iran auch gelingen. Früher oder später. Wenn es sich dazu entschieden hat.

Warum nun sollte Teheran eine Bombe wollen?

Erstens: Das Regime will sich gegen jeden Angriff absichern. Wer nämlich eine Atombombe hat, immunisiert sich gegen militärische Interventionen. Der Wille zur Bombe ist in diesem Fall Ausdruck von Unsicherheit und damit eher defensiver Natur.

Zweitens: Das Regime will die Bombe dazu benutzen, um eine hegemoniale Stellung in der Region zu erreichen und seine Ziele durchzusetzen. Sie wäre in diesem Fall der Ausdruck eines Strebens nach regionaler Vorherrschaft und damit offensiver Natur.

In Wirklichkeit lassen sich die Gründe nicht so sauber trennen. Denn wer einmal eine Bombe besitzt, der kann beides: Sich absichern und dominieren. Trotzdem wird man einen nuklear bewaffneten Iran nur verhindern können, wenn man an den möglichen Motiven Teherans arbeitet. Das heißt man sollte sie zunächst einmal sortieren.

Hat das Regime Grund dazu, sich bedroht zu fühlen?

Ganz gewiss, und das schon seit Jahrzehnten. Die Islamische Republik Iran ist insbesondere von den USA nie akzeptiert worden. Ein Regimewechsel in Teheran, das ist ein altes Ziel. Innerhalb des Regimes gibt es gewiss eine Fraktion, die der Meinung ist, dass die Islamische Republik Iran in den Augen des Westens ohnehin keine Existenzberechtigung hat – wie auch immer sie sich verhalten mag. Für diese Fraktion wäre die Bombe die finale Immunisierung gegen ein feindliches Umfeld. Doch wir wissen bis heute nicht, ob sich diese Fraktion durchgesetzt hat. Denn es gibt keinerlei stichhaltige Beweise dafür, dass Iran die Bombe baut. Verdachtsmomente gibt es allerdings viele.

Es gibt eine zweite Fraktion im Regime, die deutlich erkennt, wie hoch der Preis für den Bau eine Bombe ist – die völlige Isolation. Das Ziel des jüngst beschlossenen Ölembargos der USA und Europas gegen Iran ist es, diesen Preis noch einmal deutlich zu erhöhen. Diese „weichere“ Fraktion wäre vielleicht bereit einzulenken, doch kann sie es nur unter bestimmten Bedingungen tun. Iran muss für eine Abkehr von seiner dubiosen Atompolitik etwas bekommen. Dieses Etwas müsste beiden Fraktionen wertvoll sein, für die Falken wie für die Tauben.

Dieses Etwas sind zum Beispiel Sicherheitsgarantien in Form eines Nichtangriffsangebots für die Islamische Republik Iran.

 

Der Libyen-Krieg ist noch nicht zu Ende

Ein Krieg ist noch lange nicht zu Ende, wenn ein Diktator stürzt. Das zeigt sich in Libyen. Anhänger des alten Regimes haben die Wüstenstadt Bani Walid erobert. Im Kampf um diese Stadt werden Panzer und Flugzeuge eingesetzt. Aus Tripolis eilen Kämpfer in die Wüste. Man fühlt sich an den Sommer des vergangenen Jahres erinnert. Damals strömten Aufständische mal hierhin, mal dorthin – immer auf der Jagd nach Diktator Muammar al-Gaddafi. Schließlich wurden sie seiner habhaft und lynchten ihn. Das sollte der Endpunkt des Krieges sein.

Doch vielleicht war es erst der Beginn einer neuen Runde. Vor wenigen Tagen stürmte in Bengasi eine aufgebrachte Menge das Gebäude des Übergangsrates. Der Vorsitzende des Rates Abdel Jalil sagte: „Wir haben nur zwei sehr bittere Optionen. Entweder begegnen wir dieser Gewalt mit harter Hand. Das würde zu einer militärischen Konfrontation führen, die wir nicht wollen. Oder wir trennen uns, und es wird zu einem Bürgerkrieg kommen!“

Nun, das muss alles nicht so kommen. Die Libyer müssen erst einmal eine neue Balance herstellen. Nach mehr als vierzig Jahren Diktatur ist das nur allzu verständlich.

Doch was ist, wenn Jalils „Optionen“ tatsächlich eintreten? Wen wird die Nato im Falle eines ausbrechenden Bürgerkrieges bombardieren? Keine der Parteien? Das wäre klug.

Und wenn es zu Massakern unter Zivilisten kommt? Sollte dann das Argument der „humanitären Intervention“ nicht gelten? Wahrscheinlich nicht. Denn das Risiko in einen komplexen, langwierigen Konflikt mit unübersichtlichen Fronten hineingezogen zu werden, ist zu groß. Die selbst ernannten Krieger für die Menschenrechte, wie der französische Präsident Nicolas Sarkozy und der britische Premier David Cameron, werden sich sehr schnell als kaltschnäuzige Realpolitiker erweisen.

Doch sollte Libyen wirklich in einen Bürgerkrieg versinken, dann wird Zusehen keine Option sein. Denn Libyen liegt in unmittelbarer Nachbarschaft Europas – es ist nur wenige Kilometer von Italien entfernt. Und könnte man an der nordafrikanischen Küste einen zerfallenen Staat nach dem Beispiel von Somalia tolerieren? Nein, das wäre nicht möglich.

Also müsste es zu einem Engagement in Libyen kommen, und es wird auch ein militärisches sein. Das wäre dann die bittere Spätfolge eines Krieges, den der Westen so leichtfertig vom Zaun gebrochen hat.

Wie gesagt: Es muss nicht so kommen. Und hoffentlich kommt es so auch nicht. Doch es kann. Und das allein sollte genügen, um das nächste Mal etwas länger nachzudenken, bevor man interveniert – zu welchem Zweck auch immer.

 

Nicht die Party ist zu Ende, sondern die Normalität

Jetzt ist er weg – endlich. Silvio Berlusconi ist zurückgetreten, und Italien hat sich damit von einem Mann getrennt, der zu einem Alptraum geworden war. Welch eine Erleichterung!

Doch wie nach einem Alptraum fragt man sich: Ist das wirklich geschehen? Hat dieser Mann wirklich 17 Jahre lang hat die italienische Politik dominiert? War er wirklich zehn Jahre lang Premierminister Italiens? Ja, das war er!

Es ist einfach, sich über ihn lustig zu machen. Denn er selbst machte sich zu einer Witzfigur, dessen Scherze Italien allerdings nahe an den Abgrund führten. Nun, da seine Ära vorüber ist, fehlt es nicht an Spott und Häme. Schwerer schon ist es zu verstehen, wie das alles möglich war.

Berlusconi verfügt über außergewöhnliche Verführungskünste. Er konnte Träume verkaufen, Träume, die niemals Realität werden konnten. Ziemlich genau ein Viertel der Italiener glaubte ihm trotzdem. So viele wählten Berlusconis Partei Forza Italia.

Doch die Macht seiner Verführung wirkte weit darüber hinaus. Viele Italiener wollten gerne glauben, dass man reich werden konnte, ohne sich an irgendwelche Regeln zu halten. Berlusconi lebte ihnen vor, dass Gesetze nur für die Dummen da sind. Er lebte es ihnen sehr erfolgreich vor, immerhin wurde er zum reichsten und mächtigsten Mann des Landes.

In Berlusconi drückte sich das in Italien weit verbreitete Ressentiment gegenüber dem Staat aus. Dieser Widerwille sehr vieler Bürger gegenüber den Institutionen ist viel älter als Berlusconis politische Erfolge. Er ist so alt wie der italienische Staat selbst: 150 Jahre.

Berlusconis Aufstieg ist der Beweis dafür, dass der italienische Staat sich bis heute nicht mit seinen Bürgern versöhnt hat. Das ist eines der grundlegenden Probleme, die auch nach dem Rücktritt Berlusconis bleiben werden.

Die Opposition ihrerseits hat nichts dafür getan, das Ansehen des Staates zu stärken. Im Gegenteil. Sie hat sich zusammen mit Berlusconi im Palazzo vor dem eigenen Volk verschanzt. Manchmal hatte man sogar den Eindruck als hätten sich Berlusconi und die Opposition gegen die eigenen Bürger verschworen. Anders ist nicht erklärbar, dass eine Mitte-Links-Regierung zwei Mal die Chance hatte, Berlusconis Medienmacht zu begrenzen – und es zweimal unterließ. Italien heute wird von einer Politikerkaste regiert, die sich abgekoppelt hat von ihrem Land.

Es funktionierte nur deswegen so lange, weil man Schulden machen konnte. Drinnen feierte man buchstäblich rauschende Feste, die Klienten draußen hielt man mit Geldgeschenken bei Laune – und mit viel Show.

Man mag über Berlusconi lachen, doch seine Performance war sehr systemkonform. Er war keine ungewöhnliche Figur in diesem System. Er war nur der vulgärste Ausdruck einer pervertierten Beziehung zwischen Politikern und Bürgern. Berlusconi war die schrillste Normalität Italiens. Nicht die rauschende Party ist jetzt zu Ende, sondern das Normale.

Nur mit Schulden konnte dieses System aufrecht erhalten werden. Die Schuldenkrise ist deshalb im Kern keine wirtschaftliche, sondern eine politische Krise – sie kann nur politisch gelöst werden.

Man muss hoffen, dass nun eine Öffnung des Systems erzwungen wird. Der Palazzo der Macht muss durchlässiger werden, damit würde er auch funktionaler. Und in einem allerdings sehr langfristigen Prozess könnte endlich das Problem verschwinden, welches allen anderen zu Grunde liegt: die gestörte Beziehung zwischen den Italienern und ihrem Staat.

 

Die Perversion einer guten Idee

War der Libyen-Krieg eine humanitäre Intervention? Darüber und über den Einsatz als solchen wird in unserer Redaktion und unter unserer Leserschaft heftig gestritten. Gestern schrieb Jochen Bittner: Mit der Libyen-Intervention der Nato wurde schlimmere Gewalt verhindert. Hier antwortet nun Ulrich Ladurner. Er hat aus allen Kriegen mit westlicher Beteiligung seit 1992 (Bosnien, Kosovo, Mazedonien, Afghanistan, Irak, Libyen) als Reporter berichtet.

Die internationale Gemeinschaft ist dazu verpflichtet, Menschenrechte zu schützen – wo auch immer. Das ist eine schöne, noble Idee. Sie ist bereits in der Charta der Vereinten Nationen festgehalten, wenn auch etwas schwammig. 2005 wurde diese Idee unter der Formel Responsibility to Protect weiter konkretisiert. Seitdem reden wir von „Schutzverantwortung“. Diese Idee war die Grundlage für die Intervention der Nato in Libyen. Die Resolution des Sicherheitsrates 1973 beruft sich auf diese Schutzverantwortung. Mit anderen Worten: Die Libyen-Intervention der Nato gilt unter ihren Befürwortern als lupenreine „humanitäre Intervention“.

Doch leider ist das Gegenteil der Fall: Diese Intervention ist in Wahrheit die Perversion einer guten Idee.

Es ist auffallend, wie Kriegsbefürworter sich darum bemühen, alle Schattenseiten dieses Krieges anzusprechen. Die Menschenrechtskrieger wollen offensichtlich auch im Krieg noch korrekt sein und listen alles penibel auf. Die Nato hat die Resolution 1973 eigenmächtig ausgelegt? Ja, gewiss, aber es war für einen guten Zweck! Die Nato hat sich von Beginn an zur Luftwaffe der Rebellen gemacht? Ja, aber der Zweck war wichtig! Die Rebellen haben sich der Kriegsverbrechen schuldig gemacht? Ja, aber diese Barbarei wird überstrahlt vom hellen Licht unseres Zwecks! Gadhafi ist von einem Mob gelyncht worden unter kräftiger Mithilfe der Nato? Ja, aber der Zweck! Es war für einen guten Zweck! Und so geht es weiter.

Die Befürworter des Krieges kehren all den Schmutz nicht unter den Teppich, sie sammeln ihn. Das ist schlimmer. Sie stellen die Barbarei aus und erklären sie im Lichte des Fortschritts für unerheblich. Auf diese Weise werden die Menschenrechte herabgewürdigt.

Man kann dem Krieg in Libyen zustimmen, nur humanitär sollte man ihn nicht nennen – zum Wohle der Menschenrechte. Die Schutzverantwortung bleibt eine gute, noble Idee. Die Intervention in Libyen beweist aber, dass sie Gefahr läuft, zur Ideologie zu verkommen. Denn das Kennzeichen aller gefährlichen Ideologien ist eben dies: Der Zweck heiligt die Mittel.

Der Dichter Robert Gernhardt hat ein paar schöne Zeilen dafür gefunden:

Mein liebes Kind, wir wollen Dich befreien,
Das heißt: Wir müssen dich zuvor beschießen.
Wenn Du das so verstehst: Als das Begießen
des Pflänzchens Freiheit, wirst du uns verzeihen

 

Abschied von einem Krisengebiet

In Pakistan sind fünf Millionen Menschen vor der Monsunflut auf der Flucht, in Kabul attackieren die Taliban 20 Stunden lang das Diplomatenviertel im Zentrum der Stadt. Wenn auch auf den ersten Blick nicht ersichtlich, bestehen zwischen beiden Ereignissen Zusammenhänge. Nicht nur, dass beide Länder heute vom Westen als eine Krisenregion – Afpak – vereint worden sind. Wichtiger im Moment ist der Zusammenhang des Vergessens.

Das lässt sich an der Gewichtung und Interpretation dieser beiden Ereignisse erkennen. Die Flut in Pakistan schafft es kaum in die Schlagzeilen. Dabei ist sie nicht nur eine humanitäre Katastrophe. Sie ist auch eine politische. Denn ein ohnehin fragiles Land wird erneut auf eine harte Probe gestellt. Die letzte Flut liegt nicht einmal ein Jahr zurück. Damals mussten 20 Millionen Menschen ihre Häuser verlassen. Die Zeitungen waren voller Geschichten darüber.

Eine bange Frage wurde dabei immer wieder gestellt: Wenn wir, sprich der Westen, nicht helfen, dann tun es die Taliban. Dann, so hieß es weiter, würden sie noch mehr Sympathisanten in Pakistan gewinnen. Das Land rutschte noch weiter an den Abgrund heran. Das ist eine verquere Logik, denn sie unterstellt, dass jemand, der sich in der Not von den Taliban helfen lässt, automatisch die politischen Ziele der Taliban unterstützt.

So seltsam das Argument von der Talibanisierung durch die Flut war, so hatte sie doch ihr Gutes: Die Flut wurde als politische Herausforderung verstanden. Davon ist heute nicht mehr die Rede. Wenn, dann findet eine solche Debatte in einem unbeachteten Winkel der Öffentlichkeit statt. Flut in Pakistan? Nein, wir haben andere Sorgen.

Der Angriff von Kabul erfuhr zwar größere mediale Aufmerksamkeit, doch die Reaktionen darauf sind verblüffend. Da kämpfen Taliban im Herzen der afghanischen Hauptstadt in Kabul 20 Stunden lang mit den Sicherheitskräften, beschießen die US–Botschaft und das Hauptquartier der Nato, und was hören wir von der Nato? Eine „lästige“ Sache sei das, ganz gewiss, aber eine Bedrohung der Sicherheit sei das nicht. Alles unter Kontrolle! Das ist eine bewusste Verdrängung der Wirklichkeit. Denn einen Angriff wie diesen hat es in Kabul seit den achtziger Jahren, den Jahren des Bürgerkrieges, nicht gegeben. Die Reaktion der Nato zeigt nur eines: Sie will raus aus Afghanistan.

Der Abzug der Nato-Soldaten ist nach zehn Jahren Einsatz geboten. Er ist unvermeidlich. Doch das bedeutet nicht, dass man sich von der Region völlig loslösen muss. Der Westen hat dort nach wie vor strategische Interessen. US-Präsident Barack Obama hatte mit der Formel Afpak die gesamte Region bereits in das Zentrum westlicher Außen- und Sicherheitspolitik gerückt.

Doch das, was jetzt gerade stattfindet, ist die mentale Abkoppelung des Westens aus dem Krisengebiet. Zehn Jahre nach dem 11. September heißt es: Der Spuk ist vorbei. Die Seiten in diesem Geschichtsbuch werden umgeschlagen. Afpak? Wer weiß noch, was das bedeuten sollte? Dabei ist der Schrecken nicht vorbei, im Gegenteil, er erreicht gerade einen neuen Höhepunkt: in Afghanistan und in Pakistan.