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Unser Nachbar Libyen

Nachbarkontinent Afrika – wer erinnert sich noch an diesen ebenso schwammigen wie großspurigen Begriff? Wahrscheinlich kaum jemand. Den Europäern sind in den vergangen Monaten andere Nachbarländer viel drängender ins Bewusstsein gerückt, die Ukraine zum Beispiel.

Dabei ist es nicht einmal sechs Monate her, seit Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen den Begriff Nachbarkontinent in die politische Debatte warf. Am 2. April 2014 veröffentlichte sie gemeinsam mit ihrem französischen Amtskollegen Jean-Yves Le Drian einen Appell in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Darin stand zu lesen: „Fehlende Sicherheit in Afrika bedeutet auch fehlende Sicherheit für Europa.“

Der konkrete Hintergrund des Artikels war die prekäre Lage in Mali, wo französische Truppen Ende 2012 intervenierten, um die Machtausweitung von Islamisten zu stoppen. Deutschland versprach, sich an der Seite Frankreichs stärker zu engagieren und sandte Ausbilder der Bundeswehr nach Bamako, wo es schon seit einiger Zeit ein Kontingent von Bundeswehrsoldaten gibt. Sie sollen helfen, die marode malische Armee zu stärken. Von der Leyen und Le Drian schrieben: „Weder die afrikanischen Staaten, noch die Europäer wollen und werden aber dauerhaft in Mali engagiert bleiben. Deswegen muss es auch hier Ziel sein, den malischen Staat wieder in die Lage zu versetzen, selbst Herrschaft im gesamten Staatsgebiet auszuüben.“

Dieses Ziel freilich – das wussten die Verteidigungsminister gewiss – lag in sehr, sehr weiter Ferne. Zumindest Le Drian wusste noch viel mehr. Nämlich, dass das militärische Engagement in Mali nicht nur länger dauern, sondern dass es nicht beim Einsatz in Mali bleiben würde. Sein Generalstabschef Edouard Guillaud sprach schon im Januar 2014 davon, dass im Süden Libyens ein Militäreinsatz nötig sei. Das Land zeigte Zerfallserscheinungen. Seither hat sich die Lage weiter verschlechtert. Libyen ist de facto von der Außenwelt abgeschnitten und zu einem unübersichtlichen Schlachtfeld geworden.

Le Drian hat in diesen Tagen einen internationalen Militäreinsatz in Libyen gefordert. Die Europäer müssten dabei eine zentrale Rolle spielen. Frankreich fürchtet offenbar, dass von Libyen aus die Staaten im Sahel weiter destabilisiert würden, unter anderem auch Mali.

Libyen, daran besteht kein Zweifel, ist ein Sicherheitsrisiko für Europa und für die Staaten in der Sahelzone. Libyen heute, das ist ein Somalia am Mittelmeer – vor den Toren Europas.

Soll man darauf militärisch reagieren, wie Le Drian es fordert? Jedenfalls muss Libyen auf der Prioritätenliste der dringenden europäischen Aufgaben ganz weit nach oben. Bisher herrscht beim Thema Libyen absolute, lähmende Ratlosigkeit – und ein verschämtes Schweigen. Le Drian hat das mit seinem Vorstoß ein wenig aufgebrochen.

Wenn Ursula von der Leyen es ernst meinte, als sie mit Le Drian ihren Appell für ein stärkeres Engagement in Afrika veröffentlichte, müsste sie sich auch über Libyen Gedanken machen, am besten öffentlich. Von der Leyen weiß mit Sicherheit, dass auch dieses Land zum Nachbarkontinent Afrika gehört.

 

Erst bombardieren, dann wegschauen

Am 20. Oktober 2011 starb Muammar al-Gaddafi. Rebellen hatten den Diktator zu Tode gejagt. An dieser Jagd waren Kampfbomber der Nato beteiligt, bis zur letzten Minute halfen sie mit, Gaddafi zu erlegen.

Niemand weinte Gaddafi eine Träne nach. Libyen war vom Diktator befreit. Die Libyer wählten wenige Monate später ein Parlament. Das allein galt schon als Erfolgsnachweis. Der Westen war zufrieden – und wandte sich ab.

Und heute? Das Unglücksboot, bei dessen Untergang vor zwei Wochen vor der Insel Lampedusa mehr als 300 Menschen ertranken, kam aus Libyen — sehr wahrscheinlich aus der Hafenstadt Misrata. Das ist bemerkenswert. Denn diese Stadt war im Sommer 2011 mehrere Wochen von den Truppen Gaddafis belagert worden. In den westlichen Medien bekam sie wegen ihres Widerstandswillens eine Art Heldenstatuts. Gaddafi gelang die Eroberung Misratas nicht, weil die Nato mit ihren Kampfbomber es nicht zuließ.

Schließlich befreiten sich die Belagerten. Misrata wurde zu einem Symbol für den Aufstand gegen Gaddafi. Heute ist es eine Stadt, in der die Schlepper Millionen mit dem Menschenhandel verdienen können, ohne dass sie dabei gestört würden. Mit einem Schuss Zynismus kann man sagen: Die Nato hat den Gangstern den Weg freigeschossen, damit sie ihr Geschäft betreiben können. Und sie tat dies im Namen der Menschenrechte!

Auch Gaddafi betrieb Menschenhandel, allerdings auf staatlicher Ebene. Das machte ihn ein wenig berechenbarer. Im Jahr 2008 etwa schloss er ein Abkommen mit der damaligen italienischen Regierung, wonach Libyen alle Flüchtlinge, die von seinen Küsten nach Italien aufgebrochen waren, zurückzunehmen bereit war. Gaddafi ließ sich für diese Hilfspolizistendienst fürstlich entlohnen. Dieses Abkommen mit dem Diktator war schändlich und nutzlos.

Die libyschen Behörden setzten damals viele Flüchtlinge einfach in der Sahara aus und überließen sie ihrem Schicksal. Heute jedoch gäbe es niemanden, mit dem man irgendein Abkommen treffen könnte, denn Libyen hat keine zentrale Autorität mehr. Der Staat ist nahe dran, ein failed state zu werden – ein Somalia an der Mittelmeerküste.

Das ist ein Ergebnis des westlichen Zynismus, der im Gewand der Moral daherkommt. Die Nato intervenierte in Libyen unter dem Label der Schutzverantwortung – der Responsibility to Protect (R2P). Demnach darf die internationale Gemeinschaft nicht mehr tatenlos zuschauen, wenn in irgendeinem Land der Welt massiv Menschenrechte verletzt werden. Dann ist sie zum Handeln geradezu gezwungen. Als der Aufstand gegen Gaddafi im Februar 2011 losbrach und dieser hart zurückschlug, da bemühte man das R2P-Prinzip. Die Nato bombte.

Nur, danach tat sie nichts mehr. Der Westen schaute weg. Und was war mit den Menschenrechten? Die mussten jetzt woanders verteidigt werden, in Syrien zum Beispiel. Also zog der Westen weiter, um das nächste Land zu „retten“.

Libyen? War da noch was?

Ja, da war was. Aber wir haben es vergessen. Und jetzt holt es die Europäer ein, wie ein hartnäckiges Gespenst.

 

Kind des Westens

Wenn wir zur Zeit auf die arabischen Länder blicken, dann vor allem nach Ägypten, nach Syrien oder nach Tunesien. Nicht aber nach Libyen. Das ist verständlich, denn Libyen ist für die Zukunft des Arabischen Frühlings nicht entscheidend, Ägypten und Syrien sind es schon.

Dennoch hat der libysche Fall eine Besonderheit, die schwer wiegt: Es ist der einzige Staat, in dem der Westen militärisch aktiv eingegriffen hat. Nato-Kampfbomber waren die Luftwaffe der Rebellen. Sie haben den Diktator Muammar al-Gaddhafi zur Strecke gebracht. Das heutige Libyen ist ein Ergebnis westlicher Intervention — es ist ein Kind des Westens. Schon allein darum gebührte ihm mehr Aufmerksamkeit.

Also schauen wir, wie es dem Land geht, was sich dort in den vergangenen zehn Tagen ereignet hat.

Am 27. Juli erschoss ein Attentäter in der ostlibyschen Stadt Bengasi Abd al-Salam al-Musmari. Der Rechtsanwalt war einer der Führer des Aufstandes gegen Gaddhafi. Nach dessen Sturz wurde Al-Musmari zu einem scharfen Kritiker der bewaffneten Milizen wie auch der Regierung. Nach dem Attentat auf Al-Musmari stürmten Hunderte aufgebrachte Männer das Büro der Muslimbrüder im Bengasi. Am Samstag darauf flohen fast 1.200 Häftlinge aus dem Gefängnis der Stadt, Bewaffnete sollen ihnen die Flucht ermöglicht haben. Am Sonntag explodierten in Bengasi vor zwei Gerichtsgebäuden Kofferbomben und verletzten 43 Menschen.

Nicht viel besser ist es in der Hauptstadt Tripolis. Am Donnerstag gab das Innenministerium bekannt, es habe 12 Bomben vor dem Radisson Hotel entschärft. Am 25. Juli wurde die Botschaft der Vereinigten Arabischen Emirate angegriffen. Zwei Tage davor schlug eine Rakete zwischen einem Appartementhaus und dem Hotel Corinthia ein, wo viele internationale Unternehmen ihren Sitz haben, zudem liegen dort die britische und kanadische Vertretung. Die USA und Großbritannien haben ihr Botschaftspersonal bereits abgezogen. Die Nato bezeichnet Libyen heute als das größte offene Waffenarsenal der Welt.

Es ist also ein Bild des Schreckens, das dieses Land bietet.

Hätte man wissen können, dass es so kommt? Die Antwort lautet leider: ja. Es gab reichlich Stimmen, die davor warnten, dass es bei einem Sturz Gaddhafis zu einer lang anhaltenden Instabilität kommen werde, die in die gesamte Region ausstrahlen wird.

Wäre es also besser, wenn Gaddhafi noch an der Macht wäre? Die Frage zu stellen, ist müßig, denn im Frühjahr 2011 brach ein Aufstand gegen den Diktator aus. Nach mehr als einem halben Jahr des Kampfes stürzte Gaddhafi.

Die Frage, die man sich angesichts der Lage in Libyen aber vorlegen muss, lautet: War die militärische Intervention des Westens sinnvoll? Was kann man daraus für die Zukunft lernen?

Die Befürworter werden sagen: „Ja, sie war sinnvoll, denn es ist Schlimmeres verhindert worden!“ Hätte der Westen nicht interveniert, so das Argument, hätte Gaddhafi den Aufstand niedergeschlagen. Man warf ihm genozidale Absichten vor und zitierte die schuldhafte Untätigkeit des Westens in Ruanda im Jahr 1994. Damals fielen rund 800.000 Menschen einem Völkermord zum Opfer.

Der Vergleich mit Ruanda war immer überzogen. Er sollte aber eine Intervention rechtfertigen. Vermutlich wäre es ohne westliche Intervention zu einem Abnutzungskrieg zwischen Rebellen und Gaddhafi gekommen – so, wie wir ihn jetzt seit mehr als zwei Jahren in Syrien erleben.

Die Gegner einer Intervention sagen: „Nein, die Intervention war nicht sinnvoll, weil sie Libyen in einen gefährliches, instabiles Land verwandelt hat!“ Dieses Argument ist nur teilweise richtig. Sobald der Aufstand ausgebrochen war, konnte Gaddhafi keine Stabilität mehr garantieren.

Aus der schlimmen Lage, in der sich Libyen befindet, muss der Westen folgende Lehre ziehen: Er sollte nur intervenieren, wenn er sicher sein kann, dass er die Folgen seines Handelns einigermaßen kontrollieren und die Zeit nach der Intervention wesentlich mitgestalten kann. Das ist für Libyen offenbar nicht Fall, und für den Irak und Afghanistan auch nicht.

 

Die Perversion einer guten Idee

War der Libyen-Krieg eine humanitäre Intervention? Darüber und über den Einsatz als solchen wird in unserer Redaktion und unter unserer Leserschaft heftig gestritten. Gestern schrieb Jochen Bittner: Mit der Libyen-Intervention der Nato wurde schlimmere Gewalt verhindert. Hier antwortet nun Ulrich Ladurner. Er hat aus allen Kriegen mit westlicher Beteiligung seit 1992 (Bosnien, Kosovo, Mazedonien, Afghanistan, Irak, Libyen) als Reporter berichtet.

Die internationale Gemeinschaft ist dazu verpflichtet, Menschenrechte zu schützen – wo auch immer. Das ist eine schöne, noble Idee. Sie ist bereits in der Charta der Vereinten Nationen festgehalten, wenn auch etwas schwammig. 2005 wurde diese Idee unter der Formel Responsibility to Protect weiter konkretisiert. Seitdem reden wir von „Schutzverantwortung“. Diese Idee war die Grundlage für die Intervention der Nato in Libyen. Die Resolution des Sicherheitsrates 1973 beruft sich auf diese Schutzverantwortung. Mit anderen Worten: Die Libyen-Intervention der Nato gilt unter ihren Befürwortern als lupenreine „humanitäre Intervention“.

Doch leider ist das Gegenteil der Fall: Diese Intervention ist in Wahrheit die Perversion einer guten Idee.

Es ist auffallend, wie Kriegsbefürworter sich darum bemühen, alle Schattenseiten dieses Krieges anzusprechen. Die Menschenrechtskrieger wollen offensichtlich auch im Krieg noch korrekt sein und listen alles penibel auf. Die Nato hat die Resolution 1973 eigenmächtig ausgelegt? Ja, gewiss, aber es war für einen guten Zweck! Die Nato hat sich von Beginn an zur Luftwaffe der Rebellen gemacht? Ja, aber der Zweck war wichtig! Die Rebellen haben sich der Kriegsverbrechen schuldig gemacht? Ja, aber diese Barbarei wird überstrahlt vom hellen Licht unseres Zwecks! Gadhafi ist von einem Mob gelyncht worden unter kräftiger Mithilfe der Nato? Ja, aber der Zweck! Es war für einen guten Zweck! Und so geht es weiter.

Die Befürworter des Krieges kehren all den Schmutz nicht unter den Teppich, sie sammeln ihn. Das ist schlimmer. Sie stellen die Barbarei aus und erklären sie im Lichte des Fortschritts für unerheblich. Auf diese Weise werden die Menschenrechte herabgewürdigt.

Man kann dem Krieg in Libyen zustimmen, nur humanitär sollte man ihn nicht nennen – zum Wohle der Menschenrechte. Die Schutzverantwortung bleibt eine gute, noble Idee. Die Intervention in Libyen beweist aber, dass sie Gefahr läuft, zur Ideologie zu verkommen. Denn das Kennzeichen aller gefährlichen Ideologien ist eben dies: Der Zweck heiligt die Mittel.

Der Dichter Robert Gernhardt hat ein paar schöne Zeilen dafür gefunden:

Mein liebes Kind, wir wollen Dich befreien,
Das heißt: Wir müssen dich zuvor beschießen.
Wenn Du das so verstehst: Als das Begießen
des Pflänzchens Freiheit, wirst du uns verzeihen

 

Der Libyen-Einsatz sollte Gadhafi stürzen

Der Nationale Übergangsrat in Libyen hat jetzt Opferzahlen genannt: 30.000 Tote und 50.000 Verletzte — in knapp sechs Monaten. Man wird die Zahlen schwer überprüfen können, doch sind es die ersten, die von den Rebellen selbst öffentlich gemacht werden. Man sollte diese Zahlen ernst nehmen.

Die Toten sind Opfer des libyschen Bürgerkrieges, gewiss. Doch dieser Bürgerkrieg fand unter kräftiger Beteiligung der Nato statt. Die Nato nennt bis heuten ihren Einsatz „humanitär“, weil er von der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates legitimiert wird. Diese Resolution erlaubt es der Nato, alle „notwendigen Mittel zum Schutze von Zivilisten“ anzuwenden. Aber was ist „notwendig“? Wer entscheidet das?

Als die Nato ihre Kampfjets schickte, begab sie sich auf den Weg der Eskalation. Zuerst schaltete sie die libysche Luftwaffe aus, dann bombardierte sie „Kommandozentralen“, dann griff sie den Sitz des Diktators Gadhafi an. Kurzum: Sie war von Beginn an die Luftwaffe der Rebellen, also eine Bürgerkriegspartei.

Zur Stunde beteiligt sich die Nato an der Belagerung der letzten beiden Städte, die noch in den Händen von Gadhafi-Anhänger sind, Sirte und Bani Walid. Was hat das mit „Schutz der Zivilisten“ zu tun? Warum bombardiert die Nato Städte, die einem Regime anhängen, das längst schon geschlagen ist?

Das Argument der Nato lautet: Wir haben unseren Auftrag erfüllen wollen, das aber führte zwangsläufig dazu, dass wir den Krieg weiterführen mussten. Die Libyer könnten sich nie sicher fühlen, solange Gadhafi an der Macht war. Nur stellt sich hier dann die grundsätzliche Frage: Kann man überhaupt Zivilisten schützen, ohne die Diktatur zu stürzen, in der die Zivilisten leben?

In Libyen hatte die Nato nach rund zwei Wochen ihr Ziel erreicht. Die Flugverbotszone war durchgesetzt, Gadhafis Flieger konnten den Rebellen nicht mehr wirklich gefährlich werden. Die Nato hätte wachsam bleiben müssen, doch sie hätte sich darauf beschränken können, den Flugraum zu überwachen und Verhandlungen zu fördern. Das tat sie aber nicht. Sie führte den Krieg weiter – bis zum finalen Sieg über Gadhafi.

Nein, man sollte ehrlich sein und das Wort „humanitär“ für den Einsatz der Nato in Libyen streichen. Die Intervention zielte unter Führung der Franzosen von Anfang darauf ab, eine Diktatur zu beenden. Eine Diktatur allerdings, die einige Jahre lang vermeintlich nützliche Dienste geleistet hatte. Zum Beispiel, in dem sie im Auftrag westlicher Geheimdienste mutmaßliche Terroristen folterte.

 

Leichen im Keller

Abul Hakim Belhaj (c) Daniel Berehulak/Getty Images
Abul Hakim Belhaj (c) Daniel Berehulak/Getty Images

Der Befreier von Tripolis ist ein alter Bekannter westlicher Geheimdienste. Abul Hakim Belhaj ist nach den Attentaten vom 11. September 2001 von der CIA in Bangkok festgesetzt worden. Der Dschihad-Kämpfer kam gerade aus Afghanistan, er ist ein ehemaliger Al-Qaida-Mann. Belhaj behauptet, von der CIA gefoltert worden zu sein. Nachdem Libyens Gadhafi im Jahr 2003 im Westen wieder hoffähig geworden war, überstellte die CIA Belhaj in sein Heimatland.

Dort wurde er von Gadhafis Folterknechten ausgepresst. Die Ergebnisse dieser Verhöre wurden an die CIA weitergeleitet. Ausgerechnet dieser Mann ist heute der Militärchef des befreiten Tripolis – ohne die Bomben der Nato wäre er es nicht geworden.

Das ist nur eine der Geschichten, die zeigen, wie eng westliche Staaten mit dem Regime kooperiert haben. Waffenlieferungen, Informationsaustausch, Folterdienste, Finanzierung von Universitäten – Gadhafi war sehr präsent im Westen. Er muss überrascht gewesen sein, als allen voran Frankreich die Resolution 1973 im UN-Sicherheitsrat einbrachte, die einen Einsatz der Nato legitimierte und ihn schließlich zu Fall brachte. Ausgerechnet der französische Präsident, der ihm eben noch einen prächtigen Staatsempfang in Paris bereitete hatte, erklärte ihm den Krieg. Das überstieg selbst die Vorstellungskraft des Machtzynikers Gadhafi.

Er hatte die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Frankreich, das während der tunesischen Revolution lange Zeit am Autokraten Ben Ali festgehalten und sich dadurch blamiert hatte, wollte es besser machen. Freiheit – das war das neue Losungswort. Stabilität – das war gestern. Die arabischen Massen haben diesen Gesinnungswandel in den westlichen Staatskanzleien erzwungen. Das ist ein Glück und es ist ein Fortschritt.

Doch sollte man trotzdem einen Augenblick innehalten und sich fragen: Was denken Männer wie Belhaj über diesen Westen, dessen Geheimdienste ihn gestern noch foltern ließen und dessen Kampfjets ihn dann zum Militärchef von Tripolis bombten? Wir werden es vermutlich nicht erfahren, doch eines ist gewiss: Er wird westlichen Vertretern nicht vertrauen.

Wenn sie Freiheit sagen, dann wird er an den Folterkeller denken, in dem er saß; wenn sie sagen: „Jetzt ist aber alles anders, wir sind geläutert!“, dann wird er an Gadhafi denken, dem sie dasselbe gewiss auch gesagt hatten, als sie ihn nach 2003 wieder in die Arme der internationalen Gemeinschaft schlossen. Wenn sie sagen: „Ihr müsst in Libyen die Menschenrechte einhalten!“, dann er wird die Schreie der Gefolterten hören.

Auch das sind Grundlagen, auf denen die Zusammenarbeit zwischen dem Westen und dem neuen Libyen gedeihen soll.