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Wider den Revolutionskonformismus

Was würden Sie von einem Politiker halten, der dreißig Jahre lang eine bestimmte Position vertreten hat und sie plötzlich über Nacht wechselt? Vermutlich nicht viel. Würden Sie einen Politiker wählen, der sagt: „Also, was wir da dreißig Jahre lang gemacht haben war völliger Unsinn! Aber morgen, ab morgen machen wir es anders, nämlich ganz richtig!“ Nein, Sie würden solche Politiker nicht wählen. Denn Sie würden zu Recht sagen, er sei unglaubwürdig.

Und doch wird derzeit von den westlichen Politikern genau diese Wetterwendigkeit verlangt — und zwar im Namen der revolutionären Moral. Sie sollen für ihre unmögliche Ägypten-Politik Abbitte leisten. Möglichst schnell, möglichst öffentlichkeitswirksam. Desaster, Bankrott, Dummheit. Das sind die Vokabeln, die man jetzt von ihnen hören möchte.

Man muss kein Mitleid haben mit Politikern, die einen Autokraten wie Mubarak über Jahrzehnte gehätschelt haben. Und die ägyptischen Demonstranten, die um ihre Freiheit und ihre Würde kämpfen, und dafür ihre Leben riskieren, haben alles Recht, dem Westen seine verfehlte, doppelzüngige Politik vorzuwerfen. Sie haben auch ein Recht auf Ehrlichkeit.

Doch ein lautes Mea Culpa, das die Öffentlichkeit im Westen nun fordert, hat mir Ehrlichkeit wenig zu tun – aber viel mit Konformismus.  Die Menschen auf dem Tahrir-Platz sind im buchstäblichen Sinne Revolutionäre, ihren Mut, ihre Tapferkeit sind bewundernswert. Doch wir im Westen imitieren nur die Revolution. Die Menschen in Kairo und anderen Städten haben genug von den Lügen ihres Regimes und von der Doppelzüngigkeit westlicher Politik. Sie haben es satt. Und wir im Westen? Wir sollten ihnen Ehrlichkeit bieten. Dazu gehört Selbstkritik, dazu gehört aber nicht die einfache Verdammnis von dreißig Jahren Nahostpolitik. Es gab gute Gründe dafür, Stabilität in einer notorisch instabilen Regionen zu suchen. Israels Sicherheit ist einer davon. Nun einfach alles in die Tonne zu treten, das ist nicht Ehrlichkeit, das ist Flucht vor der Verantwortung.

 

Rouseffs guter Kurswechsel

BRIC — das steht für Brasilien, Russland, Indien China. BRIC – das ist eine Abkürzung, mit der die Zukunft der Welt etwas greifbarer gemacht werden sollte, eine Zukunft, die nicht mehr von einer geschwächten Weltmacht USA dominiert werden wird.  Der Volkswirt Jim O´Neill prägte die Abkürzung im Jahr 2001. O´Neill legte dabei die Zuwachsraten dieser Länder zu Grunde und rechnete aus, dass diese vier Staaten zusammengenommen 2050 eine größere Wirtschaftskraft erreichen würden als die G-8-Staaten.  Wenn es aber stimmt, dass BRIC für die Geschicke der Welt ebenso bedeutend sein wird wie die G 8, dann muss man sich fragen, ob diese Welt dann auch eine bessere sein wird.

Mit Blick auf die Menschenrechte ist die Antwort klar: Nein. Die BRIC-Welt wird wohl keine bessere Welt werden.

Chinas Haltung ist bekannt. Das Regime sperrte den Menschenrechtler Liao Xiabo ein. Als er 2011 den Nobelpreis verliehen bekam, protestierte Peking heftig. Indien ist zwar zu Recht stolz darauf, die größte Demokratie auf Erden zu sein, doch in Kaschmir verübt die indische Armee seit Jahren schwere Menschenrechtsverletzungen.  Indien schweigt auch zu der blutigen Repression der Generäle in Birma. Dabei hätte Indien Einfluss auf den Nachbarn. Und Russland tritt in Sachen Menschenrechten auch nicht unbedingt positiv in Erscheinung.

Nur vom vierten Land der BRIC-Staaten, Brasilien, konnte man erwarten, dass es in Sachen Menschenrechte eine höhere Sensibilität hat als die anderen. Immerhin hat Brasilien eine Militärdiktatur überwunden, immerhin saß ein Teil ihrer gegenwärtigen politischen Elite zur Zeit der Diktatur in Gefängnis. Doch überraschenderweise hielt sich Brasilien in Sachen Menschenrechte zurück, jedenfalls unter der Regentschaft des allseits beliebten Präsidenten Lula. Er empfing zum Beispiel den iranischen Präsidenten Machmud Achmadineschad mit den höchsten Ehren des Staatsgastes. Als 2009 zehntausende Iraner auf die Straße gingen, um gegen den Wahlbetrug zu protestierten und das Regime die Demonstrationen niederknüppeln ließ, da schwieg Lula. Selbst als bekannt wurde, dass die iranischen Oppositionellen in den Gefängnissen gefoltert wurden, kam ihn kein Wort der Kritik über die Lippen.

Für einen Mann, der selber in den Verließen einer Diktatur saß, war das zumindest erstaunlich. Doch vermutlich war Lulas erratische Iran-Politik Teil des Versuches, das erstarkende Brasilien auf der Weltbühne als eigenständigen Akteur zu etablieren. Das ist verständlich, doch blieben Lulas Annäherungen an den Iran immer eine Bizarrerie. Warum sollte Brasilien engste freundschaftliche Kontakte mit Teheran pflegen? Nur um den großen Bruder USA zu ärgern? Das ist es nicht wert. Denn die USA sind für Brasilien ungleich wichtiger als Iran.

Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff hat dies erkannt und auf unspektakuläre, aber doch entschiedene Weise korrigiert. In eine Rede vor Holocaust-Überlebenden in Rio Grande do Sul sagte sie: „Meine Regierung wird unermüdlicher Verteidiger der Gleichheit und der Menschenrechte in jedem Ort der Welt sein“. Und sie fuhr fort: „Das jüdische Volk hat nach Jahrhunderten eine Heimstatt gefunden. Ein Recht, das man keinem Volk der Welt verleugnen kann!“ Das sind klare Signale Richtung Achmadineschad, der Israel immer wieder das Existenzrecht abspricht. Schon bei ihrem Amtsantritt hatte Dilma Rousseff einen Kurswechsel angekündigt. Ihre  Rede am Tage der Erinnerung an den Holocaust war ein weiterer Schritt in diese Richtung.

Auch mit einer Präsidenten Dilma Rousseff werden die BRIC-Staaten wohl weiter eine Art Einheit bilden. Allerdings nur, wenn man die Wirtschaftsdaten zu Grunde legt. In Sachen Menschenrechten ist Brasilien eindeutig aus BRIC ausgeschert. Zum Glück.

 

Ein Lob der Anarchie

Julian Assange ist viel gescholten worden für sein Dogma, alles müsse transparent sein. Kindisch, sei das, und unanständig. Freilich, an den Vorwürfen ist was dran. Doch man stelle sich einmal vor, Assanges Wikileaks hätte vor dem Irakkrieg Dokumente aus dem Weißen Haus veröffentlicht. Wir hätten lesen können, wie George W. Bushs Männer die Öffentlichkeit schamlos belogen, wie sie Informationen manipulierten, ja wie sie vor nichts zurückschreckten, um nur diesen Krieg gegen den verhassten Saddam Hussein vom Zaun zu brechen. Hätte der Irakkrieg im Lichte solcher Enthüllungen stattfinden können? Wahrscheinlich nicht. Der viel gescholtene „Kindskopf“  Assange also hätte einen Krieg verhindert, der hunderttausenden Menschen das Leben kostete. Er wäre ein Kandidat für den Friedensnobelpreis gewesen.

Alles Spekulation, gewiss. Doch ist sie ein starkes Argument gegen den Vorwurf der Kindsköpfigkeit Assanges. Nein, Kinder sollten gewiss nicht an die Macht! Auch nicht Assange. Doch – wer kennt es nicht?  –  Kinder verfügen über Zauberkräfte. Sie sie sind es, die in ihrer naiven Unschuld sagen: Der Kaiser ist nackt! Jeder kennt das Befreiende dieses Satzes.

Genau darin besteht das Gute des anarchistischen Aktes: Er ist befreiend. Für einen Moment nur, aber es ist ein Moment, der das Leben dessen, der ihn bewusst erlebt, für immer verändern kann. Auch Günther Schabowski handelte im besten Sinne anarchistisch, als er im November völlig unerwartet den DDR-Bürgern die Ausreise erlaubte. Die Folge: Die Mauer fiel. Die Welt war eine andere.

Sicher, Assange muss sich messen lassen an den Kategorien, die ein Erwachsenenleben strukturieren. Vertraulichkeit, Verantwortung gehören dazu. Doch das ist nicht der Punkt.

Wirklich interessant an Assange sind die Reaktionen auf ihn. Wie schnell man doch den Stab über ihn gebrochen hat! Freilich, er ist der Mann, der in den gepflegtesten Garten gepinkelt hat, den die Welt zu bieten hat: die Diplomatie. So einen muss man rauswerfen, und möglichst draußen halten. Alles nachvollziehbar.

Trotzdem ist zu hoffen, dass es immer wieder einen geben wird, der wie eine Wildsau den Zaun niederreißt und einbricht in die Welt der geföhnten Vertraulichkeit – denn es ist nun einmal so: Hinter diesem Zaun werden auch Verbrechen ausgeheckt.

Und selbst wenn man durch den Blick hinter den Zaun nur erführe, dass man dort sehr gesittet und in bester Absicht miteinander umgeht, wäre das beruhigend. Wir wüssten, dass die Welt der Diplomaten und Staatenlenker so ist wie wir: stinknormal.

 

Das Italien, das wir liebten

Berlusconi bleibt im Amt, und wir fragen uns wieder einmal mit Schaudern: Wie ist das möglich? Ein Mann wie dieser? Der Skandale in Serie produziert. Der Politik als billige Show und sein Amt als Schutz vor juristischer Verfolgung versteht. Eigentlich indiskutabel!

Tatsächlich sollten wir uns über uns selbst wundern. Denn Berlusconi ist seit 1994 die dominierende politische Figur Italiens, drei Mal ist er zum Ministerpräsidenten gewählt worden. Und immer haben wir gedacht: Unmöglich! Einfach unmöglich! Geholfen hat unser entsetztes Kopfschütteln nichts. 15 Jahre lange haben wir uns geweigert, ihn zu verstehen, weil er uns zu „unappetitlich“ erscheint. Wir verstehen Berlusconi nicht, weil wir Italien lieben. Wir hängen an einem Trugbild.

Das wirkliche Italien ist das Italien Berlusconis.

Man sollte damit anfangen zu akzeptieren, was Sache ist. Berlusconi ist der Meister Italiens, weil er Italien besser als jeder seiner Konkurrenten repräsentiert, vor allem aber besser als jeder andere versteht. Natürlich, wir reden von dem Italien, das er in den letzten 30 Jahren mit seinen Fernsehsendern und seiner Politik geformt hat. Doch bleibt es das offene Geheimnis seines Erfolges, dass er um den zynischen Realismus vieler Italiener weiß. Sie glauben nicht an schöne Worte, sondern an Fakten, sie können zwischen dem schönen Schein und der tatsächlichen Macht genau unterscheiden. Sie wissen, was nützlich ist und was nicht.

Gianfranco Fini, der Herausforderer Berlusconis, ist an diesem ausgeprägten Realitätssinn Italiens gescheitert. Er konnte zwar schöne, hehre Reden halten, doch wirkliche Macht hatte er nicht. Er war immer nur Kronprinz, nie König. Zuerst von seinem politischen Ziehvater, dem Neofaschisten Giorgio Almirante, dann von Silvio Berlusconi, den er jetzt vergeblich zu stürzen versuchte. Fini ist eine traurige Gestalt, die ein grelles Licht wirft.

Was wir sehen, mag erschütternd sein. Doch ist es Zeit, sich zu verabschieden von einem Italien, das wir liebten. Längst schon. Denn eines steht fest: Selbst wenn Berlusconi stürzen wird, und das wird irgendwann geschehen, selbst dann werden Zynismus und Egoismus nicht aus Italiens Politik und seiner Gesellschaft verschwinden.

 

Armes Pakistan

Versetzen Sie sich mal in die Perspektive eines Pakistaners. Da lesen Sie – dank der Enthüllungen von Wikileaks -, dass der saudische König Abdullah den pakistanischen Präsidenten Asif Ali Zardari eine „verfaulte“ Persönlichkeit nennt. Derselbe Abdullah, der keine Gelegenheit ausließ, Zardari bei öffentlichen Auftritten zu herzen und zu loben. Nun ja, könnte man sagen, so ist es nun einmal, in der Politik, wie im Leben. Was wir präsentiert bekommen, sagt nichts über die wahren Verhältnisse aus.

Doch hier liegen die Sache etwas anders. Denn Saudi-Arabien und Pakistan sind enge Verbündete, seit Jahrzehnten. Milliarden sind aus Riad nach Pakistan geflossen, zuerst um den Kampf der afghanischen Mudschaheddin gegen die sowjetischen Besatzer zu unterstützen, dann auch um die Taliban aufzupäppeln, die in Afghanistan Stabilität herstellen sollten. Auch haben die Saudis mit Blick auf den Gegner Iran immer wieder mal Interesse daran gezeigt, die Atommacht Pakistan als Instrument zur Eindämmung Irans in Spiel zu bringen. Mit anderen Worten: Zwischen Pakistan und den Saudis gibt es einen strategische Partnerschaft, die für beide von großer Bedeutung ist.

Dabei ist diese Partnerschaft für die Pakistaner wichtiger als für Saudis, denn sie haben in der Welt nicht sehr viele Freunde. Die wenigen Verbündeten, die sie haben, sind es meist nur aus Zwang. Die USA zum Beispiel. Nur weil die Amerikaner sich vor einem Zerfall der Atommacht Pakistan fürchten, nur weil sie verstehen, dass sie ohne Pakistan Afghanistan nicht befrieden können, nur deswegen halten sie den Pakistanern die Stange. Doch sie vertrauen ihnen nicht. Auch das ist aus den Enthüllungen von Wikilieaks hervorgegangen.

2009 haben die Amerikaner versucht, das angereicherte Uran aus Pakistan herauszuschaffen. Die Lage schien ihnen zu instabil. Die Furcht, dass dieses Material, oder sogar Atomwaffen, in die Hände von Extremisten geraten könnte, war zu groß. Die Pakistaner wehrten sich mit Erfolg. Das Argument der pakistanischen Regierung: „Wenn herauskommt, dass Ihr unser Uran außer Landes schafft, dann wird uns das die Öffentlichkeit nicht verzeihen!“ Das ist wohl ein richtiges Argument. Denn Pakistans Nuklearprogramm ist eine Frage des Nationalstolzes. Es ist das Symbol der wehrhaften Unabhängigkeit. Wer sich daran vergreift, der vergreift sich im pakistanischen Verständnis an dem einem zentralen Bestandteil der Nation.

Was für ein Gefühl mag man angesichts dieser Nachrichtenlage als Pakistaner haben? Wohl ein Gefühl der Einsamkeit, der Isolation und der Bedrohung.

 

Tod eines Partners

Die deutsche Bundesregierung redet nicht gerne über Afghanistan. Erst recht spricht sie nicht gerne über die Lage im Norden des Landes. Dort hat die Bundeswehr die Verantwortung, dort verschlechtert sich die Sicherheitslage seit rund zwei Jahren. Der Gouverneur von Kundus, Mohammed Omar, ließ keine Gelegenheit aus dies zu beklagen. Er forderte seit geraumer Zeit ein härteres Auftreten der Bundeswehr. Sonst, so Omar, drohe die gesamte Region in die Hände der Taliban zu fallen. Jetzt ist er tot. Ein Selbstmordattentäter zündete in einer Moschee eine Bombe. Omar und zwanzig weitere Menschen starben. Einen Tag zuvor kam ein deutscher Soldat bei einem Selbstmordattentat ums Leben. Vierzehn weitere wurde verletzt.

Nun ist Omar in mancher Hinsicht eine problematische Figur gewesen. Er stand im Ruf korrupt zu sein. In den Straßen von Kundus war wenig Gutes über ihn zu hören. Doch für die Bundeswehr war er der zentrale Ansprechpartner in der Region. Die Deutschen arbeiteten mit ihm eng zusammen, nicht so sehr weil sie im vertrauten, sondern weil sie glaubten keine Alternative zu haben. Omar war ein Mann des afghanischen Präsidenten Hamid Karzai. Und wann immer schwere Vorwürfe erhoben wurden, hielt Karzai seine schützende Hand über ihn. Die Botschaft aus Kabul war einfach: Ihr müsst mit Omar zusammenarbeiten. Diese Treue, so besagen es die Gerüchte in Kundus, hat Omar mit Koffern voller Geld bezahlt, die er alle paar Monate nach Kabul brachte. Und so blieb er der zentrale Mann über den viele Fäden zusammenliefen. Darum hat der Attentäter, der ihn umbrachte, eine Lücke gerissen, die vor allem den Deutschen große Sorge bereiten muss. Es fehlt nun der Ansprechpartner.

Omar wird ersetzt werden, sicher. Doch das ist nicht der Punkt. Sein Tod zeigt nicht nur wie schlecht die Sicherheitslage geworden ist. Er gibt auch den Blick frei auf ein beängstigendes Szenario.

Es kann gut sein, dass die Deutschen im Norden ihre Partner nach und nach verlieren. Entweder werden sie wie  Gouverneur Omar ermordet oder sie gehen auf Distanz aus Furcht vor den Taliban oder aus mangelndem Vertrauen an die Durchsetzungsfähigkeit der Bundeswehr. Dann würde es zwischen den Aufständischen und der Bundeswehr keinen „afghanischen Puffer“ mehr geben. Die Konfrontation würde direkter und härter werden. Zöge die Bundeswehr derart unter Beschuss gekommen ab, dann sähe es nach einer verheerenden Niederlage aus. Das freilich würde sie vermeiden wollen, auch um den Preis steigender Opfer in den eigenen Reihen. Mit andere Worten: Die Bundeswehr steckte in Afghanistan fest, während rund um sie der afghanische Bürgerkrieg sich weiter ausbreitet.

Ein zu spekulatives Szenario? Nein. Der Tod Omars und die Ratlosigkeit in Berlin weisen in diese Richtung. Auch  Verteidigungsminister Guttenberg kann mit forschen Sprüchen diesen sich auftuenden Abgrund nicht verbergen

Ulrich Ladurner, Eine Nacht in Kabul, Residenzverlag, EURO 21,90

 

Ein Krieg zwischen Pakistan und den USA?

Die Nato hat Afghanistan nicht aufgegeben, aber in den Köpfen von Generälen und Politikern hat die Abwicklung des Einsatzes schon begonnen. Noch ist alles etwas schwammig, Zeitpunkt wie Bedingungen, unter denen das Militärbündnis Afghanistan verlassen wird. Es ist nicht einmal klar, was genau eigentlich Abzug bedeutet. Werden alle Soldaten gehen? Bleiben einige? Und wenn ja, wie viele und aus welchen Ländern?

Trotzdem ist klar: Die Nato will raus aus diesem Krieg. Sie hat dafür gewiss den Segen der Öffentlichkeit, denn die Intervention findet schon seit geraumer Zeit in keinem der Nato-Mitgliedsländer eine Mehrheit. Die Frage, die sich aber stellt ist eine ganz andere: Kommt die Nato denn überhaupt aus Afghanistan so leicht raus?

In diesen Tagen wird sie jedenfalls noch tiefer in den Krieg hineingezogen – und zwar nicht mehr nur in Afghanistan, sondern vor allem in Pakistan. Aufständische haben zuletzt mehrmals die Nachschubrouten der Nato in Pakistan angegriffen.

70 Prozent der gesamten Versorgung für die mehr als 130.000 Soldaten kommt über Pakistan. Die wichtigste Verbindung führt von der pakistanischen Grenzstadt Peshawar über den Khyberpass nach Kabul. Das macht die Nato verwundbar für die Attacken der Aufständischen. Zwar hat es solche Angriffe in den vergangenen Jahren manchmal gegeben, die Intensität ist jedoch neu.

Die wirklich beängstigende Neuigkeit aber kommt nicht von Aufständischen, sie kommt von einem alten Verbündeten: Erstmals hat die pakistanische Regierung vergangene Woche den Khyberpass für den Nato-Nachschub sperren lassen. Sie tat dies, um gegen einen Zwischenfall zu protestieren, bei dem ein Hubschrauber der Nato drei pakistanische Grenzsoldaten auf pakistanischem Staatsgebiet unter Feuer genommen und getötet hatte. Die Internationale Schutztruppe Isaf bestritt den Vorfall, doch es half nichts. Islamabad entschloss sich zu diesem dramatischen Schritt.

Der Unmut über die Nato ist in Pakistan in den vergangenen Jahren beträchtlich gewachsen. Schuld daran sind vor allem die stark zunehmenden Drohnenangriffe der USA. Immer häufiger werden diese Waffen eingesetzt, um Terroristen und Taliban auf pakistanischem Staatsgebiet zu töten. Dabei sind zwischen 2004 und September 2010 rund 1800 Menschen ums Leben gekommen. Mehr als 30 Prozent der Todesopfer waren Schätzungen zufolge nicht beteiligte Zivilisten.

Viele Pakistaner, längst nicht nur extremistische Islamisten, fordern seit geraumer Zeit, die Regierung müsse sich gegen die fortwährende Verletzung der pakistanischen Souveränität durch die Drohnenangriffe mit wirksamen Mitteln wehren. Die Schließung der Nachschubroute ist eines davon. Es ist der einfachste Weg für Pakistan die Nato hart zu treffen, ohne selbst einen hohen Preis zahlen zu müssen. Auf den ersten Blick jedenfalls.

Es mag unwahrscheinlich erscheinen, dass es zu einem militärischen Konflikt zwischen Pakistan und den USA kommt, doch die Schließung des Khyberpasses ist ein weiterer Schritt in der Spirale des Krieges. Er weitet sich nicht nur aus, sondern es ist jetzt zumindest denkbar und sichtbar geworden, dass eine neue Kriegspartei dazukommt: das bisher offizielle neutrale Pakistan.

Sicher ist jedenfalls, dass der Anlass für den Konflikt nicht beseitigt werden wird: Auch weiterhin werden die USA ferngesteuerte Drohnen mit Bomben an Bord Richtung Pakistan schicken – mit dem Segen aller ihrer Verbündeten.

Es scheint so, dass die Terrorgefahr aus jener Gegend größer geworden ist – wenn man den Geheimdiensten glauben will, dann sind größere Anschläge in Europa geplant. Nun, da die Nato sich mit dem Rückzug aus Afghanistan beschäftigt, steht sie einer Ausweitung und einer Vertiefung des Krieges gegenüber. Sie droht in dem afghanisch-pakistanischen Treibsand zu versinken.

Eine Nacht in Kabul, Residenzverlag, EUR 21, 90

 

Vier Szenarien für Afghanistan

Ein Sieg in Afghanistan? Davon haben sich die Militärs schon längst verabschiedet. Aber haben sie deshalb, die Vorstellung ins Auge gefasst, dass es eine Niederlage geben könnte? ISAF-Kommandeur David Petraeus sagte jüngst in einem Interview mit Le Figaro: „Bei der Aufstandsbekämpfung ist es schwer, mit Begriffen wie Sieg und Niederlage zu operieren“. Mit anderen Worten: Es wird in Afghanistan weder das eine noch das andere geben. Aber was dann?

Einen Modus Vivendi mit einem schwierigen, einem gefährdeten Land. Dafür gibt es vier Szenarien, die man ins Auge fassen sollte:

1. Die Nato-Soldaten werden sich innerhalb der nächsten fünf Jahre komplett aus Afghanistan zurückziehen. Das Land versinkt wieder in einen Bürgerkrieg wie in den Jahren nach dem Rückzug der sowjetischen Truppen im Jahr 1989. Die Mujaheddin, die noch am Tag zuvor gemeinsam gegen die Sowjets gekämpft hatten, fielen übereinander her und zerstörten das ohnehin schon in weiten Teilen verwüstete Land. Dieser Bürgerkrieg endete erst, nachdem die Taliban 1996 Kabul eroberten hatten und eine Schreckensherrschaft errichteten.

2. Die Nato wird mit Zehntausenden Soldaten länger bleiben, als sie eigentlich will, weil sie meint, es sich nicht erlauben zu können, dass Szenario 1.  eintritt. Sie wird mit Mühe und Not eine Form von Stabilität aufrechterhalten können. Dabei versinkt sie noch tiefer in den afghanischen Treibsand, ohne dass ein Bürgerkrieg gestoppt werden könnte.

3. Die Nato-Länder ziehen nach und nach die Soldaten ab, die USA aber behalten ihre großen Militärbasen in Bagram und Kandahar. Einer robusten afghanischen Regierung mit einer schlagkräftigen Armee gelingt es zwar nicht, das Land komplett zu befrieden, aber der Konflikt wird auf kleiner Flamme gehalten. Die USA schwärmen mit Kampfflugzeugen, Drohnen und Spezialeinheiten immer dann aus ihren Militärbasen aus, wenn al-Qaida irgendwo im Land das Haupt erhebt.

4. Der afghanische Präsident Hamid Karsai schließt mit den Taliban ein Abkommen. Dazu gehört die Forderung, dass alle fremden Truppen das Land verlassen müssen. Die Nato lässt sich darauf ein, wenn sie im Gegenzug das verbindliche Versprechen erhält, dass diese neue afghanische Regierung mit Beteiligung der Taliban keine Terrororganisationen im Land dulden wird.

Von diesen vier Szenarien erscheint mir die dritte am wahrscheinlichsten. Warum? Weil Afghanistan für die USA aus strategischen und sicherheitspolitischen Gründen zu wichtig ist, als dass sie sich komplett zurückziehen könnten. Weil die afghanische Regierung unter Hamid Karsai an der Macht bleiben will, und das nur mit der Unterstützung der USA kann. Gemessen an den pompösen Versprechen, mit denen der Westen in Afghanistan interveniert hat, ist das eine bittere Bilanz und zwar vor allem für die Afghanen.

Übrigens ist gerade mein neues Buch über Afghanistan erschienen:

Lesungen aus dem Buch gibt es hier:

In Berlin
Mittwoch 29. September 2010 | 19:00
Ort: Martin-Gropius-Bau, Kinosaal
Moderation: Michael Naumann

In der Stadtbibliothek Perleberg
30. September 2010
Zeit:      19.00 Uhr

In Hamburg
Werkstatt 3
Freitag, 1. Oktober 2010 um 19:30 Uhr

 

Pakistans Anti-Präsident

Es ist leicht, über Pakistans Präsidenten Asif Ali Zardari herzuziehen.
Und es ist auch richtig, ihn zu kritisieren. Zardari ist nämlich ein
unglaublich schlechter Präsident, ja, er ist sogar ein Mann, der sich für
sein eigenes Land nicht interessiert. Während Millionen vor den Fluten
flüchteten, tourte er durch Europa, so, als sei gar nichts geschehen. Jetzt
sagt er bei einer Pressekonferenz in Islamabad: „Ich glaube nicht, dass sich
Pakistan jemals vollständig erholt, aber wir werden vorankommen.“

Selbst wenn er Recht haben sollte, als Präsident darf er das nicht sagen, denn
so nimmt er den Menschen in ihrer Not auch noch das letzte: die Hoffnung.

Man könnte also weiter über Zardari schimpfen. Irgendwann aber wird man
damit durch sein und nichts ist danach erklärt. Das ist schade. Denn
Zardari eignet sich sehr wohl, um Pakistan zu verstehen. Die politische
Tragödie dieses Landes spiegelt sich nämlich in seiner Person wider.

Zardari ist im Jahr 2008 nur deshalb Präsident geworden, weil seine Frau –
Benazir Bhutto – ein paar Monate vor den Wahlen einem Attentat zum Opfer
fiel. Ein politischer Mord stand also am Anfang seiner Karriere. Niemand
erwartete von Zardari, dass er ein guter Präsident werden würde, doch gab es
keinen anderen Kandidaten, der die Lücke nach Bhuttos Tod hätte füllen
können.

Die Pakistaner wählten Bhuttos Partei, die Pakistans Peoples Party (PPP), im
Winter 2008 mit großer Mehrheit. Dieser Wahl waren monatelange
Massenproteste auf der Straße und ein jahrelanger politischer Kampf gegen
das Regime des Generals Pervez Musharraf vorausgegangen. Zardari wurde auf
einen Tsunami der Demokratie ins Amt gespült, doch er wusste damit wenig
anzufangen.

Wie auch? Er ist ein Mann, der sich sein Leben lang damit beschäftigte,
Reichtümer anzuhäufen – häufig wohl auf illegalem Weg. Recht? Gesetz?
Verantwortung? Pflicht? Das ist nicht Zardaris Sache. Sie war es nie. Er war
immer schon der Anti-Staat. Als es dem pakistanische Volk nach vielen
Entbehrungen endlich gelungen war, den Staat von den Generälen wieder zu
erobern, bekamen sie ausgerechnet einen Mann wie diesen zum Präsidenten. Das
ist wahrlich tragisch.

 

Die Spendendebatte ist irreführend

Die große Regenflut: Der Ort Bassera im Punjab. (c) GETTY-Images

Wenn „wir“ nicht helfen, dann helfen die Taliban. Das ist ein Argument, das man in diesen Tagen und Wochen, da große Teile Pakistans in den Fluten versinken, immer wieder hört. Es soll die Menschen im Westen dazu motivieren, Geld an die notleidenden Pakistaner zu spenden.

Diese Logik hebelt das Grundprinzip humanitärer Hilfe aus: Neutralität. Man hilft Menschen in Not, egal welchen Überzeugungen sie anhängen mögen. Oder sollen wir etwa nicht spenden, weil die Ertrinkenden islamistischem Gedankengut anhängen?

Der Wettlauf mit den Taliban, der mutwillig in den westlichen Medien
ausgerufen wird, ist irreführend und gefährlich. Irreführend ist der
Gedanke, weil er jede Differenzierung a priori ausschließt. Jede islamische Organisation wird schnell zum Taliban deklariert.

Es besteht kein Zweifel darüber, dass sich unter den helfenden Händen zahlreiche befinden, die an anderen Tagen gerne Bomben schmeißen. Da darf nichts verharmlost werden.

Doch wieviele sind es? Wer ist es? Vor allem aber: Man gewinnt den Eindruck als gäbe es in Pakistan nur die Taliban, die helfen. Unter der
Wettkampfbrille der Medien verschwinden alle andere Organisationen, die es durchaus gibt, ja selbst die pakistanische Armee taucht kaum mehr auf. Dabei ist sie eine der wichtigsten Helfer in der Not.

Die Taliban selbst freuen sich über den in den Medien hinausposaunten Wettkampf — selten haben sie so viel Aufmerksamkeit bekommen, selten erschienen sie wie ein ebenbürtiger Gegner. Ihre Bedeutung wird so unverhältnismäßig gesteigert.  Zudem sind viele Pakistaner sehr religiös und bei nicht wenigen haben die USA einen sehr schlechten Ruf. Doch deswegen müssen diese Pakistaner im Umkehrschluss nicht gleich mit islamistischem Extremismus sympathisieren oder, mehr noch, selbst Extremisten sein.

Schließlich verrät das Argument von dem „wir oder sie“, dass die Pakistaner wie Stimmvieh betrachtet werden. Es wird morgen blind dem nachlaufen, der ihn heute buchstäblich über Wasser hält. Der Pakistaner als selbstständig denkendes, rationales Subjekt taucht nicht auf. Dabei haben die Pakistaner immer wieder bewiesen, dass sie sehr wohl wissen, was sie von Extremisten zu erwarten haben.

Islamistische, extremistische Parteien sind in der gesamten Geschichte Pakistans bei Wahlen nie weiter als über insgesamt zwölf Prozent der Stimmen gekommen. 2004 haben sie in der Region Pakhtunwha – die heute von den Fluten schwer getroffen ist – in einer Koalition aus islamistischen Parteien zwar die Wahlen gewonnen. Doch vier Jahre später wurden sie abgewählt. Die Wähler hatten sie für ihre Unfähigkeit bestraft.