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Kurz und klein (8): Osama, Atomkraft, Urheberrecht

+++Osama+++
Skrupel gibt es keine. Der Erfolg des Tötungskommandos wird bejubelt. Eine Selbstverständlichkeit. Menschenrechte und internationale Gerichtshöfe gehören in manchen Fällen offenbar zur Völkerrechtsfolklore. Mehr nicht. Während wir uns noch etwas verwundert die Augen reiben, mit welcher Kaltschnäuzigkeit Spitzenpolitiker der sogenannten zivilisierten Welt die gezielte Tötung mit einem Gefühl der Erleichterung empfinden oder von einem Tag der Genugtuung sprechen, berichtet der britische Telegraph, dass der meistgesuchte Terrorist offenbar unter dem Schutz pakistanischer Sicherheitskräfte stand. Immer wenn US-Kommandos ihm zu nahe kamen, scheint der US-Staatsfeind Nummer 1 einen Tipp aus pakistanischen Sicherheitskreisen bekommen zu haben. Das jedenfalls legen US-Botschaftsdepeschen nahe, die WikiLeaks veröffentlichte. Wer solche Freunde im Kampf gegen den Terror hat, braucht keine Feinde.

+++Atomkraft+++
Während sich das Portal für Leaks im Ökobereich, GreenLeaks.com, noch vor wenigen Wochen mit einem Leak zu den juristischen Fragen rund um den Schwenk der Bundesregierung nach der Atomkatastrophe von Fukushima und dessen Auswirkungen auf das deutsche Wettbewerbsrecht beschränken musste (Stichworte gesetzliche Grundlage, Laufzeitverlängerung), landete die Schweizer WOZ, Die Wochenzeitung, jetzt einen richtigen Coup.
Unter dem Vorwand möglicher Terror- oder Sabotageakte hatten die zuständigen Behörden in der Schweiz, Atomkraftgegnern lange die Einsicht in diverse Akten zu dem umstrittenen Atomkraftwerk Mühleberg verweigert. Nun leakte die WOZ (in etwa die schweizerische Entsprechung der deutschen taz als Wochenzeitung) ihr zugespielte Dokumente (Link zum PDF), die die fragwürdigen Zustände im AKW dokumentieren.

+++Urheberrecht+++
Intellectual Property Action Plan. So nannten einige US-Diplomaten 2007 ein Strategiepapier, mit dem sie die aus ihrer Sicht unhaltbaren Zustände im Nachbarland Kanada ändern wollten. Es ging um das Urheberrecht und dessen vermeintlich zu nachlässige Handhabung beim nördlichen Nachbarn. In ihren Klagen waren die Diplomaten nicht zimperlich und sorgten schon mal dafür, dass Kanada zwischenzeitlich auf der sogenannten Special 301 Liste landete. Eine Art Achse des Bösen in Sachen Copyright. Das berichtet aktuell Ars Technica und verweist auf diverse frisch publizierte Depeschen durch WikiLeaks.

 

Der Jesus von Guantànamo

Er hat nur eine entfernte Ähnlichkeit. Vollbart und langes Haar. Mehr nicht. Er ist deutlich kräftiger als Jesus von Nazareth. Als bekennender Moslem hat er ein anderes Glaubensbekenntnis. Und er lebt in Bremen, nicht in Palästina. Aber dennoch könnte auch er zur Symbolfigur werden. Mehr noch als er es bereits heute ist.

Der in Bremen geborene Türke Murat Kurnaz saß jahrelang unschuldig in Guantànamo. Sein Sicherheitsstufe war die höchste. Grundlage der Einkerkerung waren fragwürdige Reisebewegungen und Aufenthalte in Pakistan. Im Jahr der al Qaida-Anschläge auf das World Trade Center. Sonst nichts.

Die von der New York Times hervorragend aufbereiteten Guantànamo-Files liefern einen tiefen Einblick in die brüchigen Einschätzungen der Inhaftierten durch den amerikanischen Verfolgungsapparat. Und sie liefern das Anschauungsmaterial für ein in sich selbst zurückgekrümmtes System, bestehend aus Paranoia, Folter und eines gut funktionierenden Selbstbestätigungsmechanismus. Denn die Akte Kurnaz belegt eines eindeutig: Der Verdächtige war ganz offenbar nie mehr als ein Verdächtiger und selbst der Verdacht scheint konstruiert gewesen zu sein. Beweise gab es nicht. Lediglich die Aussage des Mitinhaftierten Mohammed al-Qahtani hatte kurzzeitig den Anschein eines Belegs. In Verhören hatte der ebenfalls inhaftierte Kombattant bestätigt, Murat Kurnaz in Tora Bora 2001 als al Qaida-Kämpfer gesehen zu haben. Doch der Anschein hielt nicht lang. Die Verhörergebnisse waren unter Folter entstanden. Vermutlich hätte Mohammed al-Qahtani auch Prinz Charles oder Lady Gaga in Tora Bora indentifiziert, um sich selbst von Water-Boarding und anderen in Guantànamo üblichen Freizeitbeschäftigungen zu erlösen.

Dass es keinerlei Beweise für eine Verbindung von Murat Kurnaz zur al Qaida gab, stellte die US-Richterin Joyce Hens Green bereit im Januar 2005 fest. Entlassen wurde Kurnaz im August 2006. Auch alle Verfahren deutscher Behörden sind längst eingestellt.

Zwar gab es mittlerweile zahlreiche Medienberichte über die Willkür, mit der amerikanische Behörden, das amerikanische Militär und die amerikanische Gefängnisleitung in Guantànamo vermeintliche Kombattanten inhaftierten und folterten, doch scheint es, als könne die Debatte noch weitere Symbolfiguren brauchen. Denn die Zustände in Guantànamo sind weiterhin unerträglich. Eine Schließung ist nicht absehbar.

Und jeder weitere Tag unterminiert die Glaubwürdigkeit der USA und des gesamten Westens weiter. Natürlich geht es in erster Linie um die Wiederherstellung der Menschenwürde grundlos Inhaftierter. Aber auch aus politischem Eigennutz müssen sich die Regierungen des Westens endlich noch deutlicher und noch lauter bei Obama für die Schließung des Guantànamos einzusetzen.

Amen.

 

Das letzte Lebenszeichen? WikiLeaks und die Guantànamo-Files

Totgesagte leben länger. Angeblich. WikiLeaks jedenfalls hat sich mit einem Lebenszeichen der heftigeren Art zurückgemeldet. Die gerade veröffentlichten Guantànamo-Dokumente sind jedenfalls der berühmte Paukenschlag, mit dem nicht mehr jeder Beobachter der Szene gerechnet hatte. Die Wucht der Veröffentlichung reicht zwar nicht an die Beben heran, die die War-Logs und die US-Botschaftsdepeschen auslösten, aber sie treffen die amerikanische Administration empfindlich. Unschuldige und Kinder sollen im Militärgefängnis gesessen haben. Mit Wissen der Militärs. Der Druck auf Präsident Obama, sein Wahlversprechen, die Schließung Guantànamos doch noch zu halten, wird wieder wachsen. Und das ist wichtig. Sehr wichtig. Und es ist ein Verdienst von WikiLeaks. Auch wenn WikiLeaks offenbar nicht ganz Herr der Lage war in den letzten Tagen. Denn die Veröffentlichung der Guantànamo-Dokumente durch die New York Times und den Guardian war nicht geplant. Jedenfalls beschuldigte WikiLeaks Daniel Domscheit-Berg, den WikiLeaks-Dissidenten und OpenLeaks-Gründer, gestern via Twitter, unbefugterweise Dokumente an die New York Times weitergegeben zu haben.

Aber trotz aller Unfreiwilligkeit, mit der WikiLeaks und Partner jetzt mit ihren Auswertungen der Dokumente an die Öffentlichkeit gehen mussten: WikiLeaks ist wieder in den Medien. Weltweit. Die Washington Post berichtet in ihren Auswertungen über die Strategien der Strategen des 11. September, der Guardian mahnt zur Skepsis und verweist darauf, dass viele Verhörergebnisse unter folterartigen Bedingungen entstanden sind, dass ein Verdächtiger auch schon mal für den britischen MI6 gearbeitet hatte und dass es nur eines verdammt schlechten Timings bedurfte, um schon mal als Terrorverdächtiger in Guantànamo zu landen. The Australian erklärt uns mal ganz nebenbei, dass al-Qaida eigentlich auch einen nuklearen Höllensturm zu entfesseln gedachte. Die New York Times beschäftigt sich mit den Konjunkturverläufen des Terrors nach den Attacken vom 11. September 2001. Alle sind sie wieder da. Und profitieren mit Seite-Eins-Geschichten von der Existenz der Leaking-Plattform.

Die Artikel sprechen vom Terror, von der schwer kalkulierbaren Größe al-Qaida, von der kompromittierten amerikanischen Regierung, und immer auch von WikiLeaks. Die Leaking-Plattform hat es wieder in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit geschafft. Trotz defekter Leaking-Infrastruktur (denn der Uploadmechanismus liegt seit Monaten brach), trotz vielfacher Abgesänge, trotz wachsender Konkurrenz. Und sie hat demonstriert, wie wichtig das Leaken kritischer Dokumente ist. Denn jetzt besteht zum Beispiel wieder Hoffnung, dass die amerikanische Administration Guantànamo doch noch schließen wird und in absehbarer Zeit gezwungen ist, diesen finsteren Teil ihrer Geschichte juristisch aufzuarbeiten.

Die Bedeutung des Leakens jedenfalls ist ein weiteres Mal sichtbar geworden. Bleibt zu hoffen, dass es nicht der letzte Coup war.

 

Asymmetrische Rache

Gewaltige Wut. Tief sitzende Frustration. Anders ist die Heftigkeit nicht zu erklären. Nachdem WikiLeaks-Gründer Julian Assange juristisch nicht zu fassen war, richtete sich das Bedürfnis nach Vergeltung offenbar ausschließlich auf den mutmaßlichen WikiLeaks-Informanten. Anders sind die Eskalationen der US-Justiz und die wiederholten Verschärfungen der Haftbedingungen des ehemaligen Army-Gefreiten Bradley Manning nicht zu erklären.

Fast schon verzweifelt richtete Amnesty International gestern einen offenen Brief an US-Präsident Obama, um auf die untragbaren Zustände hinzuweisen. Die britische BBC stellt in einem langen Feature hartnäckig die Frage, ob Manning nicht schon längst vor Beginn des Prozesses vielfach bestraft ist.

Es scheint ganz so, als hätte sich die Weltmacht USA in Afghanistan und im Irak in asymmertrischen Kriegen verfangen und übertrage jetzt das Prinzip des Asymmetrie auf die eigene Strafverfolgung. In Guantanamo sitzen entrechtete Kombattanten und im Hochsicherheitstrakt eines Militärgefängnisses in Virginia sitzt der vermeintliche Whistleblower Manning. Er ist es, der als menschlicher Blitzableiter die aufgestauten Energien jetzt absorbieren muss. Etwas viel Asymmetrie für einen Rechtsstaat.

 

Kurz und klein (2): Beleidigte, Gefürchtete, Verhörte, Zaudernde

+++Beleidigte+++

Die Liebe war intensiv, aber schon damals nicht ohne Probleme. Jetzt ist sie erloschen und die Verschmähten schmähen einander.

So muss man die mittlerweile erkaltete Beziehung zwischen Wikileaks und den ehedem exklusiv berichtenden Medien New York Times und The Guardian beschreiben. Bill Keller, Chefredakteur der New York Times hatte erst vor wenigen Tagen in einem längeren Essay mit Wikileaks-Gründer Assange abgerechnet. Der Guardian brachte am Wochenende den Netzkritiker Evgeny Morozov in Stellung, um die Bedeutung von Wikileaks zu relativieren. Auch Ian Katz, Deputy Editor des Guardian, breitete am Samstag seine Version der beendeten Kooperation aus. Sensationeller Weise verwies er ausführlich auf die Bedeutung der journalistische Kompetenz des Guardian und seiner Partner, ohne die die publizistischen Erdstöße des letzten Jahres nicht denkbar gewesen wären. In ihrem Artikel Übernachtet und unrasiert beschreibt ZEIT-Autorin Khue Pham übrigens ausführlich, wie die Redakteure der ehemals exklusiven Medienpartner nun in Büchern ihre Versionen der Wikileaks-Saga erzählen.

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Nichts bis gar nichts

Bradley Manning ist für viele US-Amerikaner schon jetzt des Hochverrats schuldig. Ganz gleich, ob irgendein ein Gericht der Welt ihm bisher etwas Derartiges nachgewiesen hat oder nicht. Für die US-Regierung aber war der Gefreite Bradley Manning nicht nur ein Verdächtiger, er war auch eine der letzten großen Hoffnungen im juristischen Kampf gegen Wikileaks und Julian Assange. Bis heute. Denn wie Guardian und NBC berichten, müssen die Ermittlungsbehörden mittlerweile einräumen, dass es keine Beweise für eine direkte Verbindung zwischen Manning und Assange gibt.

Diese direkte Verbindung hätte ein juristischer Ansatzpunkt sein können. Hätte Assange Mannings Daten, wenn er denn der vermeintliche Whistleblower sein sollte, persönlich entgegen genommen, hätte sich vielleicht eine Anklage konstruieren lassen, die Assange vorwirft, er habe Manning verleitet, aufgefordert, eventuell sogar genötigt oder gezwungen, die Daten herauszugeben. Bis zur Spionage ist es dann nicht mehr weit. Doch nichts dergleichen lässt sich nachweisen.

Zuletzt hatte die US-Regierung den Druck auf den Obergefreiten Manning in der Untersuchungshaft erhöht. Unter anderem soll er als Insasse derart überwacht worden sein, wie üblicherweise nur Suizid gefährdete Insassen überwacht werden. Die US-Sektion von Amnesty International hatte zwischenzeitlich Protest eingelegt.

In den zurückliegenden Wochen hatte die US-Regierung auch zahlreiche weitere Anstrengungen unternommen, um eine Anklage gegen Assange zu konstruieren beziehungsweise den Druck auf Wikileaks zu verstärken. So hatte sie unter anderem erwogen den Espionage Act, ein Gesetz von 1917, zu nutzen. Sie nötigte diverse Firmen ihre Geschäftsbeziehungen zu Wikileaks zu kappen. Sie zwang Twitter und vermutlich zahlreiche andere Betreiber von Social Networks und anderen Onlinediensten, persönliche Daten von tatsächlichen oder vermeintlichen Wikileaks-Machern herauszugeben. Das Ergebnis ist gleich null. Anders gesagt, es gibt bis heute keine konkreten Vorwürfe. Keine juristisch verwertbaren Beweise für Spionageaktivitäten. Keine Anklage. Nichts. Genauer: Gar nichts. Aber das Stochern im Nebel wird weitergehen. So viel scheint sicher.

 

Das Jahr eins nach Wikileaks. Was bisher geschah und aktuell geschieht

Wikileaks hat der Weltmacht USA auf’s Maul gehauen. Und zwar mehrfach. Mit Vorsatz. 2010 war ein Jahr digitaler Erdbeben. Und jetzt ist nichts mehr so, wie es noch ein Jahr zuvor war. Politik und Öffentlichkeit haben sich fundamental verändert. Es ist längst bekannt und tausendfach diskutiert, aber zum Start dieses Blogs muss es noch einmal ausgesprochen werden. Wikileaks hat mit der konzertierten Veröffentlichung der Afghanistanprotokolle, der Iraq War Logs und der US-Botschaftsdepeschen in Kooperation mit den Redaktionen der New York Times, des britischen Guardian, des deutschen Spiegel und einiger anderer unsere Einschätzung der aktuellen Kriege und der politischen Diplomatie ebenso gravierend verändert, wie unsere Vorstellung von investigativem Journalismus und (digitaler) Öffentlichkeit. Die ZEIT ONLINE Themenseite liefert hierzu einen Überblick.

Während Geheimnisse in einem nie zuvor gesehenen Ausmaß ans Tageslicht kommen, diplomatische Verwicklungen in Serie entstehen (die amerikanische Außenministerin ist gerade auf Abbittetour im arabischen Raum), das politische Establishment wiederholt kompromittiert wird, entstehen neue Formen der journalistischen Berichterstattung. Datenjournalismus, interaktive Grafiken, Visualisierungen, neue Formen des Prozessjournalismus, interaktive Tools. Der britische Guardian etwa fordet seine Leser auf, bei der Recherche in den Dokumenten mitzuwirken.

Unterdessen sind nicht nur konventionelle Redaktionen aktiv, sondern auch Tausende Wikileaks-Sympathisanten im Netz. Sie haben die von Amazon vor die Tür gesetzte Wikileaks-Seite weltweit hundertfach gespiegelt, also auf Hunderte dezentrale Server kopiert. Unter CrowdLeak.net ist eines von vielen Crowdsourcing-Portalen ins Leben gerufen worden, um den Schwarm unabhängig von Zeitungsredaktionen in den Dokumenten suchen zu lassen. Auch Onlinespiele wie Cablegame und Co zeigen: Wikileaks hat eine breite Basis unter den Netzbewohnern.

Gleichzeitig steht die breite Öffentlichkeit der Fülle neuer Informationen über das schmutzige Gesicht des Krieges und der Radikalität des diplomatischen Tons jenseits des berühmten diplomatischen Parketts überwältigt, irritiert und verunsichtert gegenüber. Verblüfft warten Leser und User auf den nächsten großen Coup.

Das Ringen zwischen der US-Regierung und den Wikileaks-Aktivisten und ihren Sympathisanten setzt sich dabei im Hintergrund fort. Das US-Justizministerium sucht seit Monaten fieberhaft nach Gründen für eine Anklage Assanges, während die Geldflüsse an Wikileaks in den USA massiv behindert werden. Seit einigen Tagen ist nun öffentlich, dass der Dienstleister Twitter zur Herausgabe persönlicher Daten von tatsächlichen oder vermeintlichen Wikileaks-Akteuren gezwungen wurde. Die Justizbehörden sind offenbar noch nicht besonders weit in ihren Ermittlungen.

Aber der Geist will nicht mehr zurück in die Flasche. Eine juristische Handhabe gegen die Whistleblowingplattform ist mehr als fraglich. Der Freedom of Information Act sollte Wikileaks und Assange schützen. Auch wenn sich amerikanische Journalistenorganisationen vielfach distanziert haben, wie der Miami Herald berichtet:

“The freedom of the press committee of the Overseas Press Club of America in New York City declared him “not one of us.”…

Nicht gerade das, was man von den Vertretern der sogenannten vierten Gewalt in stürmischen Zeiten erwartet.

Aber die Lecks sind geschlagen. Auch komplett neue Whistleblowingplattformen werden angekündigt oder sind im Entstehen. OpenLeaks.org steht in den Startlöchern (Interview mit Daniel Domscheit-Berg, einem der früheren Wikileaks-Sprecher und Initiatoren der neuen Plattform, im Digital Planet der BBC).

Dazu kommen die täglichen neuen Storys aus den circa 250.000 Depeschen auf. Geheime Satellitenprogramme, Spekulationen über den Verlust der deutschen Führungsrolle beim Thema Klimawandelbekämpfung, Staatsgeheimnisse des Vatikan, versunkene Schätze …

Die Auseinandersetzung wird von Dauer sein. Die Fragen liegen auf dem Tisch und warten auf Antworten. Ist Whistleblowing eine neue Form des Journalismus? Gar überlebenswichtig für eine Demokratie im 21. Jahrhundert? Oder ist es eine digitale Form der Subversion, die das Funktionieren von Staat und Gesellschaft gefährdet? Mit einem Mann an der Spitze, den die Süddeutsche Zeitung im Versuch eines Psychogramms als Gegenverschwörer charakterisierte, den der berühmt berüchtigte amerikanische Radiomoderator Rush Limbaugh gerne am nächsten Baum hängen sehen würde, der als Terrorist gejagt werden sollte, wie es die schwer erträglich Sarah Palin nach der Veröffentlichung forderte und dem der streitbare Onlinepionier Jaron Lanier in einem grauenhaft reaktionären Essay gerade erst “digitale Selbstjustiz” vorwarf.

Das Jahr eins nach Wikileaks ist also gerade erst der Anfang. Wikileaks und die vielen verwandten Portale könnten Staat und Gesellschaft, Journalismus und Öffentlichkeit nachhaltiger verändern, als wir es uns heute vorstellen können.

P.S.: auch der Autor weiß, dass wir nicht im tatsächlichen Jahr eins nach Wikileaks leben. Das Whistleblowingportal wurde ja bereits 2006 ins Leben gerufen. Aber für das digitale Whistleblowing im Allgemeinen und Wikileaks im Konkreten war keines der letzten Jahren so bedeutend wie das letzte. Ein Quantensprung.