Bradley Manning ist für viele US-Amerikaner schon jetzt des Hochverrats schuldig. Ganz gleich, ob irgendein ein Gericht der Welt ihm bisher etwas Derartiges nachgewiesen hat oder nicht. Für die US-Regierung aber war der Gefreite Bradley Manning nicht nur ein Verdächtiger, er war auch eine der letzten großen Hoffnungen im juristischen Kampf gegen Wikileaks und Julian Assange. Bis heute. Denn wie Guardian und NBC berichten, müssen die Ermittlungsbehörden mittlerweile einräumen, dass es keine Beweise für eine direkte Verbindung zwischen Manning und Assange gibt.
Diese direkte Verbindung hätte ein juristischer Ansatzpunkt sein können. Hätte Assange Mannings Daten, wenn er denn der vermeintliche Whistleblower sein sollte, persönlich entgegen genommen, hätte sich vielleicht eine Anklage konstruieren lassen, die Assange vorwirft, er habe Manning verleitet, aufgefordert, eventuell sogar genötigt oder gezwungen, die Daten herauszugeben. Bis zur Spionage ist es dann nicht mehr weit. Doch nichts dergleichen lässt sich nachweisen.
Zuletzt hatte die US-Regierung den Druck auf den Obergefreiten Manning in der Untersuchungshaft erhöht. Unter anderem soll er als Insasse derart überwacht worden sein, wie üblicherweise nur Suizid gefährdete Insassen überwacht werden. Die US-Sektion von Amnesty International hatte zwischenzeitlich Protest eingelegt.
In den zurückliegenden Wochen hatte die US-Regierung auch zahlreiche weitere Anstrengungen unternommen, um eine Anklage gegen Assange zu konstruieren beziehungsweise den Druck auf Wikileaks zu verstärken. So hatte sie unter anderem erwogen den Espionage Act, ein Gesetz von 1917, zu nutzen. Sie nötigte diverse Firmen ihre Geschäftsbeziehungen zu Wikileaks zu kappen. Sie zwang Twitter und vermutlich zahlreiche andere Betreiber von Social Networks und anderen Onlinediensten, persönliche Daten von tatsächlichen oder vermeintlichen Wikileaks-Machern herauszugeben. Das Ergebnis ist gleich null. Anders gesagt, es gibt bis heute keine konkreten Vorwürfe. Keine juristisch verwertbaren Beweise für Spionageaktivitäten. Keine Anklage. Nichts. Genauer: Gar nichts. Aber das Stochern im Nebel wird weitergehen. So viel scheint sicher.
Während der eine Diktator gerade geflohen ist (Tunesien: Die erste Wikileaksrevolution?), reiste ein anderer am Wochenende nach jahrelangem Exil zurück. Am Freitag verließ Ben Ali Tunesien fluchtartig. Der frühere Diktator Haitis, Jean-Claude Duvalier, genannt Baby Doc, ist dagegen am Sonntag überraschenderweise nach Haiti zurückgekehrt. Ein Jahr nach dem schweren Erdbeben, das weit über 200.000 Menschenleben kostete. Die Rückkehr des Ex-Diktators dürfte die ausstehenden Wahlen und die folgende Regierungsbildung deutlich erschweren. Wie der britische Guardian aktuell berichtet, geht aus einigen Botschaftdepeschen hervor, dass die US-Regierung bereits vor fünf Jahren ein Comeback Baby Docs fürchtete.
Duvalier, dem der Tod Tausender Haitianer während seiner fünfzehnjährigen Amtszeit vorgeworfen wird, sagte bei seiner Einreise, er sei gekommen, um zu helfen. Bleibt zu hoffen, dass sich in alten Depeschen noch ausreichend Belege der Untaten Duvaliers finden, die den Menschen die Augen öffnen. Wie es in Tunesien geschah. Die New York Times hatte am Wochenende noch einmal diverse Depeschen zusammengestellt, die die Dekadenz der Herrscherfamilie ausführlich darstellten. Auf TuniLeaks waren diese Depeschen auch für die tunesische Bevölkerung in den letzten Wochen einsehbar. Einer der vielen Gründe für die Unruhen und die Flucht des Diktators Ben Ali.
Streit gab es von Beginn an. Warum sollten die Redaktionen von New York Times, Guardian, Spiegel und im Fall der US-Botschaftsdepeschen auch die Redaktionen von El País und Libération einen exklusiven Zugriff auf das Wikileaksmaterial genießen? Diese Frage ist fundamental und wird die Zukunft des Whistleblowings massiv beeinflussen. Wann geht wer wie mit dem prekären Material um, dessen Veröffentlichung Menschenleben gefährden oder ganze Gesellschaften in Unruhe versetzen kann (Tunesien: Erste Wikileaksrevolution?).
Mittlerweile scheint jedenfalls eines klar. Wikileaks hat, beabsichtigt oder nicht, keine Kontrolle mehr über die 250.000 US-Botschaftsdepeschen. Nach dem die norwegische Zeitung Aftenposten bereits vor Wochen den Besitz aller 250.000 Depeschen behauptete, scheint nun auch Die Welt alle Depeschen einsehen zu können. Erst am Wochenende war bekannt geworden, dass auch das niederländische NRC Handelsblad nach Überlassung durch die norwegische Aftenposten in den Besitz von mindestens 3000 US-Depeschen aus der Botschaft in Den Haag gelangt ist. In diesen Depeschen geht es unter anderem um die Bedeutung der Niederlande als enger Verbündeter der USA, den äußerst umstrittenen Kauf eines US-Kampfflugzeugs durch die Regierung in Den Haag und den fragwürdigen Islam-Kritiker Geert Wilders.
Die Proliferation der Depeschen ist nicht mehr aufzuhalten. Und das ist eine Chance, für ihre noch bessere Auswertung, da sie vielfach Details enthalten, die nur für Kenner vor Ort in ihrer Brisanz sichtbar sind. Mit Blick auf diese Vorgänge und das Beispiel Tunesien fragt dementsprechend die Herausgeberin des New Yorker, Amy Davidson, wie man die Nutzung der Depeschen optimieren kann. „Wer weiß schon genug über die einzelnen Länder, auf die sich die Botschaftsdepeschen beziehen.“ Oder anders gefragt: Wie können wir den Menschen, Experten, Redaktionen weltweit einen adäquaten Zugang gewähren, damit sie die für sie relevanten Depeschen suchen und bewerten können. Bei gleichzeitiger Gewährleistung eines sensiblen Umgangs mit dem Material? Die Beteiligung weiterer Redaktionen ist ein erster Schritt. Auch Konzepte wie die des Portals Crowdleak.net, die Fülle mit den Mitteln des Crowdsourcings erschließen wollen, sind ein weiterer Schritt. Aber welche Schritte könnten folgen? Ein Bewerbungssystem für Redaktionen weltweit? Wer entscheidet dann den Zugriff? Ein geheimer Rat bei Wikileaks? Assange persönlich? Eine UN-Organisation? Oder einfach der, der am meisten zahlt?
Das fragt das amerikanische Onlinemagazin für Außenpolitik www.foreignpolicy.com und verweist auf diverse Depeschen, die Tunesien und die dortigen Zustände betreffen. Der britische Guardian hatte bereits vor gut vier Wochen eine Depesche publiziert, in der die Situation in Tunis schonungslos beschrieben wird. Präsident und Regime sind überaltert, die tunesische Gesellschaft ist frustriert. Mangelnde Freiheit, Korruption, Arbeitslosigkeit und Ungerechtigkeiten prägen das Land.
UPDATE: Dekadenz einer Herrscherfamilie: Die New York Times stellte am Wochenende noch einmal die wichtigsten Infos über Tunesien aus den Depeschen zusammen. Netz und Revolution: Evgeny Morozov streitet mit Clay Shirky über die Bedeutung von Wikileaks für die Unruhen in Tunesien.
Und hier noch schnell etwas Fast Food mit hohem Vollkornanteil. Slavoy Žižek in der London Review of Books über Anstand in Zeiten von Wikileaks, das Unheimliche der Macht, Scham in Zeiten der Demokratie und über uns. Über uns als Wähler, Leser und Staatsbürger. Vorab schon mal das Ende. Aber alles, wirklich alles ist lesenswert.
Wikileaks hat der Weltmacht USA auf’s Maul gehauen. Und zwar mehrfach. Mit Vorsatz. 2010 war ein Jahr digitaler Erdbeben. Und jetzt ist nichts mehr so, wie es noch ein Jahr zuvor war. Politik und Öffentlichkeit haben sich fundamental verändert. Es ist längst bekannt und tausendfach diskutiert, aber zum Start dieses Blogs muss es noch einmal ausgesprochen werden. Wikileaks hat mit der konzertierten Veröffentlichung der Afghanistanprotokolle, der Iraq War Logs und der US-Botschaftsdepeschen in Kooperation mit den Redaktionen der New York Times, des britischen Guardian, des deutschen Spiegel und einiger anderer unsere Einschätzung der aktuellen Kriege und der politischen Diplomatie ebenso gravierend verändert, wie unsere Vorstellung von investigativem Journalismus und (digitaler) Öffentlichkeit. Die ZEIT ONLINE Themenseite liefert hierzu einen Überblick.
Unterdessen sind nicht nur konventionelle Redaktionen aktiv, sondern auch Tausende Wikileaks-Sympathisanten im Netz. Sie haben die von Amazon vor die Tür gesetzte Wikileaks-Seite weltweit hundertfach gespiegelt, also auf Hunderte dezentrale Server kopiert. Unter CrowdLeak.net ist eines von vielen Crowdsourcing-Portalen ins Leben gerufen worden, um den Schwarm unabhängig von Zeitungsredaktionen in den Dokumenten suchen zu lassen. Auch Onlinespiele wie Cablegame und Co zeigen: Wikileaks hat eine breite Basis unter den Netzbewohnern.
Gleichzeitig steht die breite Öffentlichkeit der Fülle neuer Informationen über das schmutzige Gesicht des Krieges und der Radikalität des diplomatischen Tons jenseits des berühmten diplomatischen Parketts überwältigt, irritiert und verunsichtert gegenüber. Verblüfft warten Leser und User auf den nächsten großen Coup.
Das Ringen zwischen der US-Regierung und den Wikileaks-Aktivisten und ihren Sympathisanten setzt sich dabei im Hintergrund fort. Das US-Justizministerium sucht seit Monaten fieberhaft nach Gründen für eine Anklage Assanges, während die Geldflüsse an Wikileaks in den USA massiv behindert werden. Seit einigen Tagen ist nun öffentlich, dass der Dienstleister Twitter zur Herausgabe persönlicher Daten von tatsächlichen oder vermeintlichen Wikileaks-Akteuren gezwungen wurde. Die Justizbehörden sind offenbar noch nicht besonders weit in ihren Ermittlungen.
Aber der Geist will nicht mehr zurück in die Flasche. Eine juristische Handhabe gegen die Whistleblowingplattform ist mehr als fraglich. Der Freedom of Information Act sollte Wikileaks und Assange schützen. Auch wenn sich amerikanische Journalistenorganisationen vielfach distanziert haben, wie der Miami Herald berichtet:
Dazu kommen die täglichen neuen Storys aus den circa 250.000 Depeschen auf. Geheime Satellitenprogramme, Spekulationen über den Verlust der deutschen Führungsrolle beim Thema Klimawandelbekämpfung, Staatsgeheimnisse des Vatikan, versunkene Schätze …
Die Auseinandersetzung wird von Dauer sein. Die Fragen liegen auf dem Tisch und warten auf Antworten. Ist Whistleblowing eine neue Form des Journalismus? Gar überlebenswichtig für eine Demokratie im 21. Jahrhundert? Oder ist es eine digitale Form der Subversion, die das Funktionieren von Staat und Gesellschaft gefährdet? Mit einem Mann an der Spitze, den die Süddeutsche Zeitung im Versuch eines Psychogramms als Gegenverschwörer charakterisierte, den der berühmt berüchtigte amerikanische Radiomoderator Rush Limbaugh gerne am nächsten Baum hängen sehen würde, der als Terrorist gejagt werden sollte, wie es die schwer erträglich Sarah Palin nach der Veröffentlichung forderte und dem der streitbare Onlinepionier Jaron Lanier in einem grauenhaft reaktionären Essay gerade erst “digitale Selbstjustiz” vorwarf.
Das Jahr eins nach Wikileaks ist also gerade erst der Anfang. Wikileaks und die vielen verwandten Portale könnten Staat und Gesellschaft, Journalismus und Öffentlichkeit nachhaltiger verändern, als wir es uns heute vorstellen können.
P.S.: auch der Autor weiß, dass wir nicht im tatsächlichen Jahr eins nach Wikileaks leben. Das Whistleblowingportal wurde ja bereits 2006 ins Leben gerufen. Aber für das digitale Whistleblowing im Allgemeinen und Wikileaks im Konkreten war keines der letzten Jahren so bedeutend wie das letzte. Ein Quantensprung.