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Das letzte Lebenszeichen? WikiLeaks und die Guantànamo-Files

Totgesagte leben länger. Angeblich. WikiLeaks jedenfalls hat sich mit einem Lebenszeichen der heftigeren Art zurückgemeldet. Die gerade veröffentlichten Guantànamo-Dokumente sind jedenfalls der berühmte Paukenschlag, mit dem nicht mehr jeder Beobachter der Szene gerechnet hatte. Die Wucht der Veröffentlichung reicht zwar nicht an die Beben heran, die die War-Logs und die US-Botschaftsdepeschen auslösten, aber sie treffen die amerikanische Administration empfindlich. Unschuldige und Kinder sollen im Militärgefängnis gesessen haben. Mit Wissen der Militärs. Der Druck auf Präsident Obama, sein Wahlversprechen, die Schließung Guantànamos doch noch zu halten, wird wieder wachsen. Und das ist wichtig. Sehr wichtig. Und es ist ein Verdienst von WikiLeaks. Auch wenn WikiLeaks offenbar nicht ganz Herr der Lage war in den letzten Tagen. Denn die Veröffentlichung der Guantànamo-Dokumente durch die New York Times und den Guardian war nicht geplant. Jedenfalls beschuldigte WikiLeaks Daniel Domscheit-Berg, den WikiLeaks-Dissidenten und OpenLeaks-Gründer, gestern via Twitter, unbefugterweise Dokumente an die New York Times weitergegeben zu haben.

Aber trotz aller Unfreiwilligkeit, mit der WikiLeaks und Partner jetzt mit ihren Auswertungen der Dokumente an die Öffentlichkeit gehen mussten: WikiLeaks ist wieder in den Medien. Weltweit. Die Washington Post berichtet in ihren Auswertungen über die Strategien der Strategen des 11. September, der Guardian mahnt zur Skepsis und verweist darauf, dass viele Verhörergebnisse unter folterartigen Bedingungen entstanden sind, dass ein Verdächtiger auch schon mal für den britischen MI6 gearbeitet hatte und dass es nur eines verdammt schlechten Timings bedurfte, um schon mal als Terrorverdächtiger in Guantànamo zu landen. The Australian erklärt uns mal ganz nebenbei, dass al-Qaida eigentlich auch einen nuklearen Höllensturm zu entfesseln gedachte. Die New York Times beschäftigt sich mit den Konjunkturverläufen des Terrors nach den Attacken vom 11. September 2001. Alle sind sie wieder da. Und profitieren mit Seite-Eins-Geschichten von der Existenz der Leaking-Plattform.

Die Artikel sprechen vom Terror, von der schwer kalkulierbaren Größe al-Qaida, von der kompromittierten amerikanischen Regierung, und immer auch von WikiLeaks. Die Leaking-Plattform hat es wieder in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit geschafft. Trotz defekter Leaking-Infrastruktur (denn der Uploadmechanismus liegt seit Monaten brach), trotz vielfacher Abgesänge, trotz wachsender Konkurrenz. Und sie hat demonstriert, wie wichtig das Leaken kritischer Dokumente ist. Denn jetzt besteht zum Beispiel wieder Hoffnung, dass die amerikanische Administration Guantànamo doch noch schließen wird und in absehbarer Zeit gezwungen ist, diesen finsteren Teil ihrer Geschichte juristisch aufzuarbeiten.

Die Bedeutung des Leakens jedenfalls ist ein weiteres Mal sichtbar geworden. Bleibt zu hoffen, dass es nicht der letzte Coup war.

 

Einblicke in die Werkstatt der Weltöffentlichkeit

Schwer zu fassen, manipulierend und unberechenbar„. So charmant und warmherzig charakterisiert Bill Keller, Chefredakteur der New York Times, den Wikileaks-Gründer Julian Assange. Beschreibungen wie „arrogant, dünnhäutig, verschwörerisch und seltsam leichtgläubig“ folgen. Es klingt nach dem bitterbösen Ende einer kurzen und intensiven Liebesbeziehung. Immerhin gehörte die New York Times über Monate zu den exklusiven Medienpartnern der Whistleblowingplattform. Auch wenn Verweise auf Assanges brilliantes Technikverständnis und seinen beunruhigend scharf arbeitenden Verstand nicht fehlen.

Das Assange-Bild Kellers ist gerade in einem Artikel des Magazins der New York Times erschienen als vorab publiziertes Vorwort eines in Kürze erscheinenden Buchs, das die New York Times zum Thema Wikileaks veröffentlichen wird.  Der Titel „Open Secrets: Wikileaks, War and American Diplomacy“. Ab Montag kann das Buch als eBook bei zahlreichen Onlinebuchhändlern bestellt werden. Es fügt sich damit ein in die Reihe der aktuellen Wikileaks-Bücher (Übersicht hier „Whistleblowing auf Papier„).

Für den Leser des Artikels wird schnell klar, dass die Arbeiten im Maschinenraum der Weltöffentlichkeit alles andere als einfach gewesen sein dürften. Unterschiedliche Interessen, versteckte Agenden der diversen Parteien, komplexe technische Zusammenhänge und vor allem eine ganz offenbar eher kühle Atmosphäre zwischen Assange und Keller scheinen die Kooperation streckenweise massiv belastet zu haben.

Kein Wunder also, dass Wikileaks sich nach den gewaltigen Coups des letzten Jahres von den Medienpartnern aktuell emanzipieren will und angeblich Kooperationen mit über 60 Medien weltweit anstrebt. Was jedoch eine schwer zu organisierende, geschweige denn zu kontrollierende Größe sein dürfte. Allein was die Botschaftsdepeschen betrifft, hat Wikileaks mit Blick auf Aftenposten und Die Welt bereits die Kontrolle verloren. Dort werden seit Wochen Depeschen ohne jede Abstimmung mit Wikileaks veröffentlicht.

Bleibt die Frage, ob die angestrebten neuen Kooperationen individuell verhandelt werden sollen. Oder ob Wikileaks zukünftig ein Akkreditierungsverfahren für Medienpartner installieren wird, wie es OpenLeaks.org plant. Sollte an Kellers Portrait etwas dran sein, dürften individuelle Verhandlungen mit einem Chefunterhändler Assange jedenfalls kompliziert werden. Soviel gibt das Vorwort Kellers schon einmal her, auch wenn es manchmal wirkt, als würde einfach nur böse nachgetreten. Denn immerhin hatte Wikileaks die Absicht, die New York Times beim Depeschen-Projekt aus dem Verbund der Medienpartner zu verabschieden.

Wikileaks reagierte übrigens umgehend über Twitter auf Bill Kellers Assange-Portrait im Magazin der New York Times und sprach von einem schwarzen Tag für die us-amerikanische Presse.

„NYTimes does another self-serving smear. Facts wrong, top to bottom. Dark day for US journalism.”

Nicht gerade das, was man eine Liebeserklärung nennt.

UPDATE: Hier noch ein Video (Wikileaks: The Back Story) der New York Times mit Statements von Bill Keller und anderen (leider nicht embeddbar)

 

Nichts bis gar nichts

Bradley Manning ist für viele US-Amerikaner schon jetzt des Hochverrats schuldig. Ganz gleich, ob irgendein ein Gericht der Welt ihm bisher etwas Derartiges nachgewiesen hat oder nicht. Für die US-Regierung aber war der Gefreite Bradley Manning nicht nur ein Verdächtiger, er war auch eine der letzten großen Hoffnungen im juristischen Kampf gegen Wikileaks und Julian Assange. Bis heute. Denn wie Guardian und NBC berichten, müssen die Ermittlungsbehörden mittlerweile einräumen, dass es keine Beweise für eine direkte Verbindung zwischen Manning und Assange gibt.

Diese direkte Verbindung hätte ein juristischer Ansatzpunkt sein können. Hätte Assange Mannings Daten, wenn er denn der vermeintliche Whistleblower sein sollte, persönlich entgegen genommen, hätte sich vielleicht eine Anklage konstruieren lassen, die Assange vorwirft, er habe Manning verleitet, aufgefordert, eventuell sogar genötigt oder gezwungen, die Daten herauszugeben. Bis zur Spionage ist es dann nicht mehr weit. Doch nichts dergleichen lässt sich nachweisen.

Zuletzt hatte die US-Regierung den Druck auf den Obergefreiten Manning in der Untersuchungshaft erhöht. Unter anderem soll er als Insasse derart überwacht worden sein, wie üblicherweise nur Suizid gefährdete Insassen überwacht werden. Die US-Sektion von Amnesty International hatte zwischenzeitlich Protest eingelegt.

In den zurückliegenden Wochen hatte die US-Regierung auch zahlreiche weitere Anstrengungen unternommen, um eine Anklage gegen Assange zu konstruieren beziehungsweise den Druck auf Wikileaks zu verstärken. So hatte sie unter anderem erwogen den Espionage Act, ein Gesetz von 1917, zu nutzen. Sie nötigte diverse Firmen ihre Geschäftsbeziehungen zu Wikileaks zu kappen. Sie zwang Twitter und vermutlich zahlreiche andere Betreiber von Social Networks und anderen Onlinediensten, persönliche Daten von tatsächlichen oder vermeintlichen Wikileaks-Machern herauszugeben. Das Ergebnis ist gleich null. Anders gesagt, es gibt bis heute keine konkreten Vorwürfe. Keine juristisch verwertbaren Beweise für Spionageaktivitäten. Keine Anklage. Nichts. Genauer: Gar nichts. Aber das Stochern im Nebel wird weitergehen. So viel scheint sicher.

 

Ein neuer Industriestandard

Twitter hat Punkte gemacht. Zumindest in der Netzgemeinde. Denn Twitter hat die geheime Anforderung persönlicher Daten einzelner Nutzer durch die US-Justizbehörden angefochten und die Betroffenen informiert, unter ihnen war natürlich auch Julian Assange, aber auch der vermeintliche „Verräter“ Bradley Manings und beispielsweise der Programmierer Jacob Appelbaum. Umgehend wurde aus der geheimen Anforderung eine öffentliche. Für den New-York-Times-Autor Noam Chohen die eigentliche Sensation. Nicht die Tatsache, dass die US-Justiz nach Indizien für eine Anklage fahndet und dazu persönliche Daten von Netznutzern anfordert (was spätestens seit dem 11. 9. 2001 eine Art Ermittlungsstandard ist, wenn die nationale Sicherheit gefährdet scheint und geradezu inflationäre eingesetzt wird; schlappe 50.000 Aufforderungen versenden die Behörden jedes Jahr), sondern die Tatsache, dass Twitter widerstanden hat, sich dem üblich gewordenen Vorgehen der Ermittler zu beugen –  und dann auch noch das Recht zugesprochen bekam, die Betroffenen zu informieren.

Das US-Blog WorldWideHippies erklärt jetzt, warum Twitter das einzige große Netzunternehmen ist, dass sich der Herausgabepraxis verweigerte. Davon ausgehend, dass weitere Unternehmen wie Google oder Facebook aufgefordert wurden, Daten herauszugeben, führt Autor Cowby Dre aus:

Twitter’s general counsel comes out of Harvard’s prestigious Berkman Center for Internet and Society, the cyber law powerhouse that has churned out some of the leading Internet legal thinkers….

Der Leiter ihrer Rechtsabteilung ist also einer der Besten.  Er kommt vom renommierten Berkmann Center for Internet and Society. Und dessen Gründer war kein Geringerer als der Verteidiger eines berühmten „Leakers“: Daniel Ellsberg, der Mann der die so genannten Pentagon Papiere diversen Zeitungen zugänglich machte, das Bild des Vietnamkriegs in den USA fundamental veränderte und 1971 damit ein politisches Erdbeben in den USA auslöste.

Während die Justizbehörden eine weitere Runde gegen Wikileaks nach Punkten klar verloren geben mussten, scheint Twitter schwer Eindruck gemacht zu haben. Zu Recht. Immerhin haben die Macher des Kurznachrichtendienstes einen Präzedenzfall geschaffen. Dementsprechend verlangt Wired-Autor Ryan Single nichts weniger, als einen neuen Industriestandard für Betreiber von Sozialen Netzwerken und andere Unternehmen, die Nutzerdaten einsammeln. Die Überschrift seines Artikels lautet: „Twitter’s Response to Wikileaks Subpoena Should Be the Industry Standard“ und kündigt einen lesenswerten und amüsanten Artikel an.

ANALYSIS: Twitter introduced a new feature last month without telling anyone about it, and the rest of the tech world should take note and come up with its own version of it.

Twitter beta-tested a spine….