Die Liebe war intensiv, aber schon damals nicht ohne Probleme. Jetzt ist sie erloschen und die Verschmähten schmähen einander.
So muss man die mittlerweile erkaltete Beziehung zwischen Wikileaks und den ehedem exklusiv berichtenden Medien New York Times und The Guardian beschreiben. Bill Keller, Chefredakteur der New York Times hatte erst vor wenigen Tagen in einem längeren Essay mit Wikileaks-Gründer Assange abgerechnet. Der Guardian brachte am Wochenende den Netzkritiker Evgeny Morozov in Stellung, um die Bedeutung von Wikileaks zu relativieren. Auch Ian Katz, Deputy Editor des Guardian, breitete am Samstag seine Version der beendeten Kooperation aus. Sensationeller Weise verwies er ausführlich auf die Bedeutung der journalistische Kompetenz des Guardian und seiner Partner, ohne die die publizistischen Erdstöße des letzten Jahres nicht denkbar gewesen wären. In ihrem Artikel Übernachtet und unrasiert beschreibt ZEIT-Autorin Khue Pham übrigens ausführlich, wie die Redakteure der ehemals exklusiven Medienpartner nun in Büchern ihre Versionen der Wikileaks-Saga erzählen.
In Nordafrika bricht eine neue Zeit an. Doch der Westen zaudert. Die Ängste sind groß, dass anstelle verlässlicher Schurken an der Spitze außenpolitisch moderater Regime plötzlich unberechenbare Islamisten die Führung übernehmen. Auch zahlreiche Depeschen der letzten Jahre belegen, dass die USA massive Zweifel an einer erfolgreichen Opposition hatten.
Währenddessen wurde Wikileaks von einem norwegischen Abgeordneten für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Zwar dürfte der Vorschlag nur geringe Aussichten auf Erfolg haben, aber die Vorstellung, Obama und Assange beim Dinner der Preisträger zu sehen, wie sie eine kleine Plauderei abhalten, ist charmant.
Weniger charmant dagegen ist die Vorstellung, dass das Terrornetzwerk Al Quaida angeblich an einer sogenannten schmutzigen Bombe arbeitet, die in Afghanistan gegen dortiges US-Militär eingesetzt werden könnte. Das jedenfalls behauptet der britische Telegraph heute und veröffentlicht gleich eine ganze Serie mit dem Titel Nuclear Wikileaks Cables.
Schließlich bietet NPR, National Public Radio, einen Talk mit Bill Keller, dem Chefredakteur der New York Times, in dem es um die Bedeutung von Wikileaks für Politik und Journalismus geht. Vor wenigen Tagen hatte Keller einen Essay veröffentlicht, in dem er Assange als äußerst problematischen Partner charakterisiert und die Kooperation von Wikileaks und New York Times nachzeichnet. Der Essay ist das Vorwort eines weiteren Buchs zum Thema Wikileaks, das die New York Times in diesen Tagen veröffentlicht.
Neben der Rekonstruktion der Kooperation bietet das Gespräch bei nach gut sieben Minuten einen interessanten Einblick in die Planungen der New York Times. Keller äußert sich zu der Frage, ob die New York Times selbst eine Whistleblowerstruktur anbieten wird. Das Audio gibt es hier als MP3.
Der Mann hinter Wikileaks. Das ist der Titel der aktuellen 60 Minutes Ausgabe des amerikanischen TV-Senders CBS. Eine Stunde diskutierte Steve Kroft mit Julian Assange.
Den hatte in der zurückliegenden Woche Bill Keller, Chefredakteur der New York Times, in einem ausführlichen Portrait massiv kritisiert. Er sei “schwer zu fassen, manipulierend und unberechenbar“. Jetzt hatte Assange Gelegenheit, seine Version dieser und anderer Geschichten zu erzählen.
Update: Und hier noch David Leigh and Luke Harding sowie Alan Rusbridger vom britischen Guardian über ihr Buch Wikileaks – Inside Julian Assange’s War on Secrecy.
Bradley Manning ist für viele US-Amerikaner schon jetzt des Hochverrats schuldig. Ganz gleich, ob irgendein ein Gericht der Welt ihm bisher etwas Derartiges nachgewiesen hat oder nicht. Für die US-Regierung aber war der Gefreite Bradley Manning nicht nur ein Verdächtiger, er war auch eine der letzten großen Hoffnungen im juristischen Kampf gegen Wikileaks und Julian Assange. Bis heute. Denn wie Guardian und NBC berichten, müssen die Ermittlungsbehörden mittlerweile einräumen, dass es keine Beweise für eine direkte Verbindung zwischen Manning und Assange gibt.
Diese direkte Verbindung hätte ein juristischer Ansatzpunkt sein können. Hätte Assange Mannings Daten, wenn er denn der vermeintliche Whistleblower sein sollte, persönlich entgegen genommen, hätte sich vielleicht eine Anklage konstruieren lassen, die Assange vorwirft, er habe Manning verleitet, aufgefordert, eventuell sogar genötigt oder gezwungen, die Daten herauszugeben. Bis zur Spionage ist es dann nicht mehr weit. Doch nichts dergleichen lässt sich nachweisen.
Zuletzt hatte die US-Regierung den Druck auf den Obergefreiten Manning in der Untersuchungshaft erhöht. Unter anderem soll er als Insasse derart überwacht worden sein, wie üblicherweise nur Suizid gefährdete Insassen überwacht werden. Die US-Sektion von Amnesty International hatte zwischenzeitlich Protest eingelegt.
In den zurückliegenden Wochen hatte die US-Regierung auch zahlreiche weitere Anstrengungen unternommen, um eine Anklage gegen Assange zu konstruieren beziehungsweise den Druck auf Wikileaks zu verstärken. So hatte sie unter anderem erwogen den Espionage Act, ein Gesetz von 1917, zu nutzen. Sie nötigte diverse Firmen ihre Geschäftsbeziehungen zu Wikileaks zu kappen. Sie zwang Twitter und vermutlich zahlreiche andere Betreiber von Social Networks und anderen Onlinediensten, persönliche Daten von tatsächlichen oder vermeintlichen Wikileaks-Machern herauszugeben. Das Ergebnis ist gleich null. Anders gesagt, es gibt bis heute keine konkreten Vorwürfe. Keine juristisch verwertbaren Beweise für Spionageaktivitäten. Keine Anklage. Nichts. Genauer: Gar nichts. Aber das Stochern im Nebel wird weitergehen. So viel scheint sicher.
Während der eine Diktator gerade geflohen ist (Tunesien: Die erste Wikileaksrevolution?), reiste ein anderer am Wochenende nach jahrelangem Exil zurück. Am Freitag verließ Ben Ali Tunesien fluchtartig. Der frühere Diktator Haitis, Jean-Claude Duvalier, genannt Baby Doc, ist dagegen am Sonntag überraschenderweise nach Haiti zurückgekehrt. Ein Jahr nach dem schweren Erdbeben, das weit über 200.000 Menschenleben kostete. Die Rückkehr des Ex-Diktators dürfte die ausstehenden Wahlen und die folgende Regierungsbildung deutlich erschweren. Wie der britische Guardian aktuell berichtet, geht aus einigen Botschaftdepeschen hervor, dass die US-Regierung bereits vor fünf Jahren ein Comeback Baby Docs fürchtete.
Duvalier, dem der Tod Tausender Haitianer während seiner fünfzehnjährigen Amtszeit vorgeworfen wird, sagte bei seiner Einreise, er sei gekommen, um zu helfen. Bleibt zu hoffen, dass sich in alten Depeschen noch ausreichend Belege der Untaten Duvaliers finden, die den Menschen die Augen öffnen. Wie es in Tunesien geschah. Die New York Times hatte am Wochenende noch einmal diverse Depeschen zusammengestellt, die die Dekadenz der Herrscherfamilie ausführlich darstellten. Auf TuniLeaks waren diese Depeschen auch für die tunesische Bevölkerung in den letzten Wochen einsehbar. Einer der vielen Gründe für die Unruhen und die Flucht des Diktators Ben Ali.
Ein Republikaner namens Peter T. King, ganz nebenbei Vorsitzender des United States House Homeland Security Committee, verlangt, amerikanischen Firmen grundsätzlich die Zusammenarbeit mit Wikileaks zu verbieten. Der McCarthyism lässt grüßen.
Julian Assange hat umgehend zurückgefeuert und mit einer Presseerklärung geantwortet. Er wirft King unter anderem vor, eine Art wirtschaftliche Zensur verhängen zu wollen und spricht ihm erwartungsgemäß jede rechtliche Grundlage ab.
Unterdessen hat Assange in einem Interview mit dem amerikanischen Onlinemagazin NewStatesman gedroht, neue Dokumente zu veröffentichen. Um die Bank of America scheint es aber noch nicht zu gehen. Das große Zittern aber hat dort schon eingesetzt. Nach Auskunft Assanges betreffen die Dokumente Rupert Murdoch und dessen Medienkonzern News Corp. Murdochs Nachrichtensender Fox News war zuletzt nach dem Attentat auf die US-Parlamentarierin Gabrielle Giffords unter Druck geraten. Der Vorwurf: Fox News habe das gesellschaftliche Klima aufgeheizt (Empfehlung: Die wütende Stimme Amerikas). Assange und die Wikileaks-Macher betrachten diese Dokumente jedoch ganz offenbar eher als eine Art Lebensversicherung und wollen sie vorläufig nur publizieren, falls der Druck auf sie weiter wächst. Es ging erstmal nur um einen Blick ins Waffenarsenal.
Twitter hat Punkte gemacht. Zumindest in der Netzgemeinde. Denn Twitter hat die geheime Anforderung persönlicher Daten einzelner Nutzer durch die US-Justizbehörden angefochten und die Betroffenen informiert, unter ihnen war natürlich auch Julian Assange, aber auch der vermeintliche „Verräter“ Bradley Manings und beispielsweise der Programmierer Jacob Appelbaum. Umgehend wurde aus der geheimen Anforderung eine öffentliche. Für den New-York-Times-Autor Noam Chohen die eigentliche Sensation. Nicht die Tatsache, dass die US-Justiz nach Indizien für eine Anklage fahndet und dazu persönliche Daten von Netznutzern anfordert (was spätestens seit dem 11. 9. 2001 eine Art Ermittlungsstandard ist, wenn die nationale Sicherheit gefährdet scheint und geradezu inflationäre eingesetzt wird; schlappe 50.000 Aufforderungen versenden die Behörden jedes Jahr), sondern die Tatsache, dass Twitter widerstanden hat, sich dem üblich gewordenen Vorgehen der Ermittler zu beugen – und dann auch noch das Recht zugesprochen bekam, die Betroffenen zu informieren.
Das US-Blog WorldWideHippies erklärt jetzt, warum Twitter das einzige große Netzunternehmen ist, dass sich der Herausgabepraxis verweigerte. Davon ausgehend, dass weitere Unternehmen wie Google oder Facebook aufgefordert wurden, Daten herauszugeben, führt Autor Cowby Dre aus:
Der Leiter ihrer Rechtsabteilung ist also einer der Besten. Er kommt vom renommierten Berkmann Center for Internet and Society. Und dessen Gründer war kein Geringerer als der Verteidiger eines berühmten „Leakers“: Daniel Ellsberg, der Mann der die so genannten Pentagon Papiere diversen Zeitungen zugänglich machte, das Bild des Vietnamkriegs in den USA fundamental veränderte und 1971 damit ein politisches Erdbeben in den USA auslöste.
Während die Justizbehörden eine weitere Runde gegen Wikileaks nach Punkten klar verloren geben mussten, scheint Twitter schwer Eindruck gemacht zu haben. Zu Recht. Immerhin haben die Macher des Kurznachrichtendienstes einen Präzedenzfall geschaffen. Dementsprechend verlangt Wired-Autor Ryan Single nichts weniger, als einen neuen Industriestandard für Betreiber von Sozialen Netzwerken und andere Unternehmen, die Nutzerdaten einsammeln. Die Überschrift seines Artikels lautet: „Twitter’s Response to Wikileaks Subpoena Should Be the Industry Standard“ und kündigt einen lesenswerten und amüsanten Artikel an.
Wikileaks hat der Weltmacht USA auf’s Maul gehauen. Und zwar mehrfach. Mit Vorsatz. 2010 war ein Jahr digitaler Erdbeben. Und jetzt ist nichts mehr so, wie es noch ein Jahr zuvor war. Politik und Öffentlichkeit haben sich fundamental verändert. Es ist längst bekannt und tausendfach diskutiert, aber zum Start dieses Blogs muss es noch einmal ausgesprochen werden. Wikileaks hat mit der konzertierten Veröffentlichung der Afghanistanprotokolle, der Iraq War Logs und der US-Botschaftsdepeschen in Kooperation mit den Redaktionen der New York Times, des britischen Guardian, des deutschen Spiegel und einiger anderer unsere Einschätzung der aktuellen Kriege und der politischen Diplomatie ebenso gravierend verändert, wie unsere Vorstellung von investigativem Journalismus und (digitaler) Öffentlichkeit. Die ZEIT ONLINE Themenseite liefert hierzu einen Überblick.
Unterdessen sind nicht nur konventionelle Redaktionen aktiv, sondern auch Tausende Wikileaks-Sympathisanten im Netz. Sie haben die von Amazon vor die Tür gesetzte Wikileaks-Seite weltweit hundertfach gespiegelt, also auf Hunderte dezentrale Server kopiert. Unter CrowdLeak.net ist eines von vielen Crowdsourcing-Portalen ins Leben gerufen worden, um den Schwarm unabhängig von Zeitungsredaktionen in den Dokumenten suchen zu lassen. Auch Onlinespiele wie Cablegame und Co zeigen: Wikileaks hat eine breite Basis unter den Netzbewohnern.
Gleichzeitig steht die breite Öffentlichkeit der Fülle neuer Informationen über das schmutzige Gesicht des Krieges und der Radikalität des diplomatischen Tons jenseits des berühmten diplomatischen Parketts überwältigt, irritiert und verunsichtert gegenüber. Verblüfft warten Leser und User auf den nächsten großen Coup.
Das Ringen zwischen der US-Regierung und den Wikileaks-Aktivisten und ihren Sympathisanten setzt sich dabei im Hintergrund fort. Das US-Justizministerium sucht seit Monaten fieberhaft nach Gründen für eine Anklage Assanges, während die Geldflüsse an Wikileaks in den USA massiv behindert werden. Seit einigen Tagen ist nun öffentlich, dass der Dienstleister Twitter zur Herausgabe persönlicher Daten von tatsächlichen oder vermeintlichen Wikileaks-Akteuren gezwungen wurde. Die Justizbehörden sind offenbar noch nicht besonders weit in ihren Ermittlungen.
Aber der Geist will nicht mehr zurück in die Flasche. Eine juristische Handhabe gegen die Whistleblowingplattform ist mehr als fraglich. Der Freedom of Information Act sollte Wikileaks und Assange schützen. Auch wenn sich amerikanische Journalistenorganisationen vielfach distanziert haben, wie der Miami Herald berichtet:
Dazu kommen die täglichen neuen Storys aus den circa 250.000 Depeschen auf. Geheime Satellitenprogramme, Spekulationen über den Verlust der deutschen Führungsrolle beim Thema Klimawandelbekämpfung, Staatsgeheimnisse des Vatikan, versunkene Schätze …
Die Auseinandersetzung wird von Dauer sein. Die Fragen liegen auf dem Tisch und warten auf Antworten. Ist Whistleblowing eine neue Form des Journalismus? Gar überlebenswichtig für eine Demokratie im 21. Jahrhundert? Oder ist es eine digitale Form der Subversion, die das Funktionieren von Staat und Gesellschaft gefährdet? Mit einem Mann an der Spitze, den die Süddeutsche Zeitung im Versuch eines Psychogramms als Gegenverschwörer charakterisierte, den der berühmt berüchtigte amerikanische Radiomoderator Rush Limbaugh gerne am nächsten Baum hängen sehen würde, der als Terrorist gejagt werden sollte, wie es die schwer erträglich Sarah Palin nach der Veröffentlichung forderte und dem der streitbare Onlinepionier Jaron Lanier in einem grauenhaft reaktionären Essay gerade erst “digitale Selbstjustiz” vorwarf.
Das Jahr eins nach Wikileaks ist also gerade erst der Anfang. Wikileaks und die vielen verwandten Portale könnten Staat und Gesellschaft, Journalismus und Öffentlichkeit nachhaltiger verändern, als wir es uns heute vorstellen können.
P.S.: auch der Autor weiß, dass wir nicht im tatsächlichen Jahr eins nach Wikileaks leben. Das Whistleblowingportal wurde ja bereits 2006 ins Leben gerufen. Aber für das digitale Whistleblowing im Allgemeinen und Wikileaks im Konkreten war keines der letzten Jahren so bedeutend wie das letzte. Ein Quantensprung.