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Brombeersorbet mit Tabakgeschmack

 

Die berühmten Köche unserer Tage hantieren mit Stickstoff. Schokolade schmeckt nach Kümmel oder wird mit Kaviar vermengt. Gemüse ist aus Gelatine geformt, karamellisierte Entengrieben leuchten in allen Farben. Nichts ist, wie es ist, und nichts schmeckt, wie es aussieht. Der Kulturmensch strebt nach Verfeinerung, die Messlatte wird immer höher gelegt – so lange, bis sie den Exzess markiert.

Was wie Brombeersorbet daherkommt, schmeckt nach Tabak. Und es wird an Eisschalen experimentiert, in die man heiße Suppe füllen kann. Nichts dagegen, Moderestaurants mit diesem Angebot sind ständig ausgebucht und man kocht schließlich auch zum Gelderwerb. Mich erinnern die Extreme jedoch auch an den römischen Neureich namens Trimalchio, dessen Fress-Exzesse das Ende der Römerzeit einleiteten.

Genuss ist inzwischen für mich eine gute Kartoffel mit etwas Rohmilchbutter und Meersalz – das ist reiner Geschmack, das bedeutet mir mehr als ein durch Transport gequälter Hummer. Schon verrückt: Während die Küche manches Spitzenrestaurants mehr einem Forschungslabor ähnelt, hat die große Masse der Esser keine Ahnung mehr, wie man Rotkohl kocht.
© Henning Kaiser/ddp

Das Wissen unserer Großmütter ist mit ihnen beerdigt worden.

In unserer Gesellschaft geht die Schere immer weiter auseinander zwischen der großen Gruppe von Menschen, die immer schlechter isst, und einer kleinen Gruppe, die nach immer besseren Lebensmitteln verlangt. Das hat nicht unbedingt mit dem Einkommen zu tun. Auch mit wenig Geld kann man sich Lebensmittel beschaffen, die den Namen verdienen. Tiefkühlpizza und sogenannte Convenience-Produkte sind ja nicht billiger als ein auf dem Markt gekauftes Pfund frisches Gemüse. Man muss natürlich wissen, wie man frischen Spinat oder Kohlrabi zubereitet.

Als Koch sage ich: Es gibt einen inneren Wert, der unglaublich wärmt, den einem niemand mehr nehmen kann. Um diesen Wert erkennen zu können, muss man manchmal Dinge tun, die scheinbar keinen Wert haben. Ein „Wiener Salonbäuscherl“ zum Beispiel. Das ist die Lunge vom Kalb, und die bekommt man in manchen Gegenden nur in der Abteilung für Hundefutter. Und doch, richtig zubereitet, ist es eine wunderbare Spezialität. Die würde man in einem Feinschmecker-Restaurant vielleicht nicht unbedingt erwarten. Aber genau das meine ich, wenn ich von Umkehrung der Werte spreche. Hummer kann heute jeder. Aber Lunge? Da muss man sich schon etwas ins Zeug legen.

Zum Genießen gehören Sinnlichkeit und Bewusstsein. Ich frage mich nicht nur beim Essen, sondern bei allem, was ich konsumiere: Wie wurde das erwirtschaftet? Aktien von Firmen, die Geschäfte auf anderer Leute Kosten machen, würde ich nicht kaufen. Leider sind die Gewinne von unlauteren Unternehmen meist höher. Aber wer nur Freude hat an materiellem Zugewinn, der ist genauso auf dem falschen Dampfer wie der, der bei Lebensmitteln nur auf den Preis schaut. Wir brauchen wieder mehr Bauchgefühl.
Im Grunde ist Kochen die erfolgreichste Friedensarbeit der Welt.

Denn nichts ist friedlicher als Menschen, die um einen Tisch sitzen und essen. Da begegnet der Jesus-Jünger dem naturwissenschaftlich deformierten Freigeist, MySpace-Jugendliche hören sich die Geschichten des schwerhörigen Großvaters an. Alle werden tolerant, wenn die Töpfe auf dem Tisch stehen. Ob der Braten missglückt ist oder gelungen – egal.

Es gilt, was Joseph von Westphalen einmal sagte: „Hungrige Vegetarier auf Kamelen sind viel gefährlicher als mit Hamburgern und Ketchup angetriebene Flugzeugträger!“