Sauerbraten, so dachte ich, wäre in seiner Textur, seinem Geschmack und seinem Schnittbild völlig unterschiedlich zum gewöhnlichen Schmorbraten. Als ein gutes Stück deutscher Küchenkultur und Aushängeschild der handwerklichen, gutbürgerlichen Küche meiner Eltern und Großeltern wird Sauerbraten schließlich immer gerne bestellt. Man vertraut diesem Gericht. Ganz besonders sei er, bodenständig, ein Gericht und eine Zubereitungsart, die sehnige, bindegewebsreiche Fleischstücke überhaupt erstmal genießbar macht. Sauerbraten setzt sich in Szene, mit einem Spiel aus Süße und Säure so wie Yin und Yang, sich gegenseitig fordernd und hebend, auflösend, Spannung erzeugend und nicht zuletzt unterschwellige Freud´sche oder Pawlow´sche Funktionen bedienend, die im besten Sinne zur „Küche der Erinnerungen“ gehören. Vielleicht Erinnerungen an eine Zeit, in der die Welt irgendwie unkomplizierter war. Zumindest in der Küche, denn dort wurden vor 30 Jahren ganz einfach Regeln befolgt und für jede Fach-Frage gab es eine Antwort im Der junge Koch, im Hering oder im Duch. Damals, als Sauerbraten groß in Mode war, als berühmte Köche hohe Kochmützen trugen, grimmig mit vor der Brust verschränkten Armen in die Kamera linsten und güldene Ketten (die mindestens so groß waren wie die des Bürgermeisters!) von der Würde des Meisters zeugten, war Sauerbraten ein Gradmesser guten Handwerks.
Diesem Sauerbraten wollte ich nun vor einigen Wochen endlich seine Geheimnisse entlocken, wollte verstehen was beim Säuern, Beizen, Einlegen passiert. Um die Prozesse zu entschlüsseln war es zuerst notwendig, die richtige Herangehensweise festzulegen. Praktische Versuche waren schnell angelegt, viele und präzise Fragen waren soweit klar, doch eine schier unüberwindliche Hürde in der Versuchsanordnung war die Unzahl von auf das zu erwartende Ergebnis einflussnehmenden Details: Rasse, Alter, Fütterungsmethode, Geschlecht des Tieres, von dem das Fleisch stammen sollte. Die Schlachtmethode. Das Fleischteil (welches überhaupt?): Gereift oder ungereift? Pferd? Hammel, die Beize mit Rotwein oder mit Essig und vor allem nach welcher Rezeptur? Kalt oder warm angegossen? Wie lange gebeizt und bei welcher Temperatur? So wie früher bei ungefähr 12°C oder so wie heute bei 2°C? Essig mit 5% oder mit 10% Säure, der Essig aus Rot- oder aus Weisswein gemacht? Traditionell natürlich, mit der Buchenspan-Methode.
Diese vielen Optionen zum Thema haben mich fast in den Wahnsinn getrieben. Die Matrix der Möglichkeiten schien schnell so weit auszuufern, dass ein anderer Ansatz her musste. Das konnte nur gehen, wenn ein heuristischer, meinetwegen semiprofessioneller und handfester Versuchsaufbau frei nach Franz Beckenbauer die Grundlage der Wissens-Ermittlungen wurde: Schaun mer mal, dann sehn mer schon. Also mit begrenztem Wissen und wenig Zeit ein möglichst gutes Ergebnis zu bekommen, war der einzige Weg, sich bei diesem multifaktoriellen Thema nicht unendlich zu verlaufen.
Nach stundenlangem büffeln und pauken, dozieren und fragen, säuern und einlegen wurde gekocht und probiert. Theorie und Praxis, erlerntes Wissen und geschulter Geschmack, Erfahrungsaustausch zwischen Wissenschaft und Handwerk, pragmatischer Schul-Denke und anspruchsvoller Lebensart. Am nachmittag hat die Experten-Runde verkostet und war – völlig überrascht.
Nach 25 Fleischproben wurde klar, was da los ist:
Die Beize dringt selbst nach einer Woche Einlegens kaum mehr als ein bis zwei Zentimeter tief in das Fleisch ein. Dieser gebeizte und auch verfärbte Rand ist deutlich weicher als das Fleischinnere, die Säure hat also hier ihr Werk getan und Bindegewebe aufgelöst.
Im Fleischinneren jedoch ist gar nichts passiert, was auf eine veränderte Struktur zum jeweils ungebeizten, doch geschmorten Referenz-Fleischstück hinweisen würde. Es könnte natürlich sein, dass unterschiedlich kleine Moleküle je nach Polarität, Ladung, Hydrophobizität unterschiedlich tief eingedrungen sind. Doch die vermutete Osmose der gesamten Beizflüssigkeit wurde offensichtlich überschätzt. Vielmehr steht zu vermuten, dass beim Eindringen lediglich Kapillarwirkung eine Rolle spielt. Die Porösität des Fleisches lässt eine Eindringtiefe nur sehr begrenzt zu und so ist nach ungefähr 15mm Schluss. Tiefer dringt die Beize nicht ein und so ist im Inneren alles so, wie es vor dem Beizen war.
Das hat uns ratlos gemacht und wir konnten das Ergebnis zuerst gar nicht glauben. Nach und nach hat sich aber eine mögliche Erklärung abgezeichnet. Unterstellt, dass die saure Beize vor Jahrhunderten in erster Linie eine Konservierungs- oder Aufbewahrungsmethode war, erhält folgende Theorie eine gewisse Wahrscheinlichkeit:
Das Schlachtalter der Tiere lag früher wesentlich höher und es mussten Nutztiere als Lieferanten für wertvolles und hochwertiges Eiweiß dienen, die vorher jahrelang Milch gegeben oder Kärren gezogen haben. Im Fleisch dieser Tiere waren durch Beanspruchung und Lebensalter die Aminosäuren wesentlich stärker vernetzt. Das Muskelfleisch enthielt ein Vielfaches an quervernetztem Kollagen im Gegensatz zu dem Fleisch wesentlich jüngerer Tiere, das heute fast aussschliesslich im Handel ist. Und der Kollagengehalt bestimmt maßgeblich die Biss-Festigkeit, die Textur, die zum Kauen notwendigen Scherkräfte.
Sauer eingelegt wurde damals, solange es keine Kühlschränke gab, im Keller bei geschätzten 12°C bis 14°C. Die Beize hatte keine direkte Weichmacher-Funktion, sondern diente dem Luftabschluss und schränkte die Tätigkeit gefährlicher und unerwünschter Mikroorganismen ein. Kollagenasen konnten nun in dieser geschützten Atmosphäre das an und für sich zähe Fleisch zart machen, weil diese Enzyme bei eben Temperaturen von 12°C bis 14°C aktiv sind und nach einigen Tagen war durch die Enzym-Tätigkeit das zähe Fleisch zart.
Zum heutigen Küchenalltag gibt es allerdings zwei grundlegende Unterschiede:
1.)Weder ist heute Fleisch von alten Tieren im Handel, noch würden wir heute unseren Sauerbraten in der Beize wärmer als 3°C lagern. Bei dieser Temperatur allerdings sind die Kollagenasen inaktiv wie die van t´hoffsche Regel lehrt. Somit erfolgt keine nennenswerte Eiweiss-Aufspaltung durch die Enzyme während der Lagerung in Kühlschrank oder Kühlhaus, dazu ist es einfach zu kalt.
2.)Das Fleisch von jungen Tieren muss erst gar nicht gebeizt werden, weil das Bindegewebe auch durch normales Schmoren zart genug wird. Und das Fleisch von alten Tieren ist heutzutage eben nicht mehr im Handel, spielt im Alltag überhaupt keine Rolle mehr.
Es gibt nun zwei Lehren aus diesen Versuchen. Beide sind richtig, doch im Ergebnis gegensätzlich
1.) Kein Mensch braucht Sauerbraten. Reifung und Lagerung kann heute anders stattfinden. Hygienischer, praktischer und mit kleinerem Aufwand. Es gibt nach dieser Sichtweise also keinen praktischen Grund mehr, Fleisch sauer einzulegen.
2.) Das Aroma der Beize wird weitestgehend in der Soße transportiert, nicht im Fleisch selbst. Dennoch oder darum schmeckt Sauerbraten ganz einfach klasse und ist Teil unserer kulinarischen Tradition. Auch Tradition hat ihre Berechtigung in der Küche und wer so kocht dass es gut schmeckt, der hat ganz einfach Recht. Basta.
Jetzt darf sich jeder seine persönliche Lieblings-Schlussfolgerung daraus ziehen, die dann auch noch stimmt. Und das ist, so finde ich, dann doch bei aller geraubten Illusion ein versöhnliches Ergebnis.
Nachtrag vom 15.4., betr. die Kommentare 1 und 2:
zu 1.) Gegen die (hygienische) Lagerung in einer Essigbeize bei etwas höheren Temperaturen spricht im Privat-Haushalt nach meinem Dafürhalten nichts, im gewerblichen Bereich ist das jedoch nicht erlaubt. Allerdings bringt es wohl bei Schlachtfleisch von jungen Tieren kein besseres, weil wir oben beschrieben lange nicht soviel quervernetztes Eiweiss darin enthalten ist. Falls Sie es mit interessanten Ergebnissen dennoch probieren, freue ich mich auf Nachricht.
zu 2.) Salz und Zuckergehalt war immer gleich, gelagert wurden die gebeizten und ungebeizten Fleischteile einzeln im Vakuum-Beutel. Die interessanten Schlussfolgerungen, u.a. dass kaum osmotische Effekte zu beobachten waren, verdanken wir der hervorragenden Arbeit von Thomas Eberle aus Kulmbach, der uns sehr geholfen hat, diese Zusammenhänge zu verstehen.