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BAFTA-Gewinner 2011: „The Eagleman Stag“

Zeit, was ist das eigentlich? Eine messbare, physikalische Einheit oder doch eher ein philosophisches, metaphysisches Konzept? Können zwei Menschen eine unterschiedliche Zeitauffassung haben – und vor allem: Verändert sich unser Zeitgefühl mit dem Alter? Glauben wir nicht oft genug, dass die Zeit im steigenden Alter immer schneller vergeht? Und unsere Erinnerungen immer kürzer werden?

Peter Eagleman, Erzähler und Protagonist in Michael Pleases animiertem Kurzfilm The Eagleman Stag glaubt es. Schon als Kind hatte er ein ausgeprägtes Zeitgefühl. Jahre später – Eagleman ist inzwischen ein renommierter Insektenforscher – ist es zu einer Obsession geworden: Trotz aller Versuche, in seinem Leben niemals zweimal das Gleiche zu unternehmen, kann Eagleman die Beschleunigung der Zeit nicht stoppen. Die Angst vor der eigenen Vergänglichkeit nimmt Eagleman immer mehr ein – und treibt ihn schließlich zu Extremen.

Es ist eine ambitionierte Geschichte, die Please in gerade einmal neun Minuten zu erzählen versucht. Doch dem Filmemacher gelingt es, anhand weniger ausgewählter Episoden aus Eaglemans Leben ein erstaunlich komplexes Charakterbild zu schaffen: Eagleman ist geistreich und humorvoll, gleichzeitig aber auch ein selbstverliebter Griesgram, wie sich schnell herausstellt. Wie die Erinnerungen Eaglemans wird auch die Erzählung im Verlauf des Films immer rastloser, schneller, die einzelnen Passagen kürzer, bis es schließlich in einem ebenso fulminanten wie offenen Finale endet.

Dass diese Erzählung so gut funktioniert, ist vor allem der Umsetzung und Gestaltung zu verdanken. Auch in dieser Hinsicht ist The Eagleman Stag eine beeindruckende Arbeit. 115 einzelne Sets haben Please und sein Team für den Film im Vorfeld gebastelt. Sämtliche Figuren und Hintergründe sind aus einem speziellen Schaum gefertigt und bis hin zu einzelnen Grashalmen in Handarbeit entstanden. Der gesamte Film wurde anschließend in Stop-motion gefilmt und kommt fast ganz ohne nachträgliche Computerhilfe aus. Da Please gänzlich auf Farbe verzichtet, spielt die gezielte Verwendung von Licht, Schatten und Kontrasten eine besondere Rolle. Gepaart mit gelungener Kameraführung, entwickelt der Stil schnell eine eigene – und faszinierende – Dynamik.

Diese Leistung blieb nicht unbelohnt: The Eagleman Stag hat im vergangenen Jahr nicht nur bei zahlreichen Festivals gewonnen, sondern wurde kürzlich auch mit dem britischen BAFTA-Preis für die beste Animation ausgezeichnet.

 

„Ein neues Leben“

Ein neues Leben ist ein sehr kurzer Kurzfilm von Sebastian Klug und Sebastian Knopp, der entgegen seiner melancholischen Stimmung mit einer motivierenden Erkenntnis endet, die eine bestimmte Gruppe Menschen sicherlich ohne weiteres unterschreiben würde. Um wen es sich dabei genau handelt, möchte ich nicht vorwegnehmen.

 

Tilt-Shift in gut: „The City of Samba“

Tilt-Shift ist eine Technik, die in den letzten Jahren vor allem in Verbindung mit dem sogenannten „Miniature Faking„, dem „Modellbaueffekt“, äußerst beliebt war. Mit der unglücklichen Folge, dass sich der Effekt schnell abgenutzt hat.

Dass Tilt-Shift-Aufnahmen aber immer noch wirken können, wenn sie denn gut gemacht sind, zeigt Jarbas Agnelli in The City of Samba. Als Motiv hat er sich Rio de Janeiro ausgesucht, oder genauer: den dortigen Karneval. Dieser eignet sich mit seiner farbreichen Wuseligkeit nämlich bestens für diese Art von Technik, was The City of Samba auch zu einem der besseren Projekte dieser Art macht.

 

Kurzfilm: „One Giant Leap“

Eine schöne Idee von Armen Antranikian, in seinem Kurzfilm One Giant Leap zwei Teenager im Jahr 1969 analog zur Mondlandung ihren ersten Kuss erleben zu lassen. Denn dieser ist ja tatsächlich durchaus ein „großer Sprung“ auf dem Weg zum Erwachsenwerden, wie man so schön sagt.

Antranikian schreibt über die Handlung von One Giant Leap:

[Kisses] can be scary, and overwhelming. Especially for the first time. Especially as a teenager. But then again, it never really gets easier. There is always that fear of rejection. It’s always an unexpected journey. Anything can happen. A kiss is just a kiss, but when it’s for the first time, it can feel like a big deal. […] I’m hoping to express something vulnerable in my films, and find simplicity and clarity in my expression. […] I wanted the film to be a subjective, and internal monologue, inspired by the intimacy of John Lennon’s lyrics. But most importantly, I wanted to prove to myself that it’s possible to tell a story visually—without any dialogue, by purely capturing small details.

 

Löwen, Zebras und „Human Beings“

Zwei Zebras, eine Eule, ein Rudel Löwen und ein Einhorn – Jonathan Entwistles Kurzfilm Human Beings klingt wie einem mystischen Zoo entsprungen. In gewisser Weise ist die Kostümparty, auf der sich die jugendlichen Protagonisten befinden, auch ein Schaulaufen: Die Beliebten sind die Löwen, die Alphatiere, die Zebras weichen ihnen aus, die Eulen beobachten das Geschehen aus sicherer Distanz. Doch eine Nacht, angereichert mit Alkohol und Ecstasy, kann lang werden – und die bestehende Rangordnung durcheinanderwerfen.

Ähnlich der britischen Erfolgsserie Skins, versucht auch Human Beings Momente jugendlicher Rebellion und Verzweiflung in bewusst überdrehter Weise aufzugreifen – mit passendem Soundtrack, guten Einstellungen und in angenehm erdigen Farbtönen gehalten.

 

Psycho Siri

Parodien von Apples Sprachsteuerung Siri gibt es einige. Der folgende Kurzfilm von Nathan und Andrew McMurry konzentriert sich weniger auf die tatsächlichen Antworten, sondern zeigt Siri als fiesen Smartphone-Bösewicht.

 

Morris Lessmore und seine fliegenden Bücher

Am Dienstag wurden die Oscarnominierungen bekannt gegeben. Wie immer sind auch fünf animierte Kurzfilme darunter. Einer davon ist Die fantastischen fliegenden Bücher des Morris Lessmore, eine Produktion des ehemaligen Pixar-Illustrators William Joyce und des Regisseurs Brandon Oldenburg.

Unmittelbar nach der Nominierung hat das Animationsstudio Moonbot den kompletten Film auf Vimeo veröffentlicht. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Selbst in der sonst so aufgeschlossenen Animationsfilmszene werden viele populäre Produktionen oft nur mit großer Verzögerung online gestellt.

Die Macher  von Die fantastischen fliegenden Bücher scheinen verstanden zu haben, wie man heutzutage einen Film richtig präsentiert: nicht nur auf der Leinwand, sondern in verschiedenen Formaten und Medien. Im Verlauf des vergangenen Jahres haben sie nicht nur ein zehnteiliges Making-of für das Web produziert, sondern auch eine eigene iPad App für Kinder entwickelt, die sich des „digitalen Geschichtenerzählens“ bedient und mit Erzähl- und Spielpassagen eine zweite Ebene jenseits des Films einführt. Damit ist Die fantastischen fliegenden Bücher nicht nur ein Animationsfilm, sondern gewissermaßen auch ein interaktives Ebook.

So digital der Film ist, so „analog“ ist im übrigen der Inhalt: Die fantastischen fliegenden Bücher erzählt die Geschichte des jungen Morris Lessmore, der sich nach einem Sturm in einer fabelhaften Welt voller fliegender Bücher wiederfindet, die ihn aufnehmen. Ohne Dialog auskommend, erinnert der Film in seiner Retro-Optik an alte Technicolor-Produktionen und Stummfilme, die nicht zuletzt dank des Oscar-Favoriten The Artist eine Rückkehr feiern. Im Stile klassischer Disney- und Pixar-Animationen zerfließen die Grenzen zwischen Realismus und Fiktion, unbewegliche Gegenstände werden zum Leben erweckt und eine gewisse Rührseligkeit fehlt auch nicht.

 

Parkinson, der kleine Zauberer

Eines Tages wachte der Autor und Übersetzer Wigand Lange auf und konnte seinen Arm nicht mehr richtig bewegen. Die Diagnose war ernüchternd: Lange leidet unter der unheilbaren Parkinson-Krankheit. Seitdem bestimmt sie sein Leben: Die schweren Glieder, die Kopfschmerzen, die zitternden Hände – kaum ein Tag vergeht, an dem der mittlerweile 65-jährige nicht an seinen unsichtbaren Begleiter erinnert wird.

Doch Lange lernte, mit der Krankheit zu leben. Er engagiert sich in der Parkinson-Beratung, überquerte als wohl erster mit dieser Diagnose den Atlantik in einem Segelboot. Mehr noch: Er machte Parkinson zum zentralen Thema seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Sein Buch Mein Freund Parkinson (2002/2009) ist der Versuch, in der Krankheit noch etwas gutes zu sehen, sie als Partner und nicht als Gegner zu verstehen.

Auch Alessandro Corsinis Kurzfilm Ein kleiner Zauberer, zu dem Lange sowohl das Drehbuch schrieb als auch die Rolle des Erzählers übernahm, ist eine Allegorie auf die Krankheit. Die Geschichte eines erfolgreichen Pianisten, der die Bekanntschaft mit einem mysteriösen Zwerg (dem „kleinen Zauberer“) macht, greift auf subtile Weise die anfänglichen Symptome auf und verarbeitet Langes persönliche Erfahrung in einer gefühlvollen fiktiven Erzählung.