Westliche Freiwillige, die zum Kämpfen nach Syrien gehen und sich dort dschihadistischen Gruppen anschließen, haben teils sehr unterschiedliche frühere Leben geführt. Es sind Ex-Rapper darunter und Studenten, Arbeitslose und Schüler, frühere Gelegenheitskriminelle und ehemalige Kiffer und Trinker, es sind Konvertiten aus bürgerlichen Familien ebenso dabei wie Sprösslinge aus Hartz-IV-Familien, kurzum: Das Profil ist nicht scharf. Was es allerdings so gut wie gar nicht gibt, das sind Syrien-Kämpfer, die sich ernsthaft politisch engagiert haben, bevor sie in den Krieg zogen.
Das ist eigentlich ziemlich interessant, denn es ist ja nicht abseitig zu vermuten, dass Radikalisierung eine Folge der Frustration sein könnte, seine Ziele auf politischem Wege nicht erreicht zu haben. Stattdessen deuten mehr Hinweise darauf, dass viele derer, die sich in den Dschihad aufmachen, in sehr kurzer Zeit zu diesem Entschluss gelangt sind – als Folge einer extrem konzentrierten Radikalisierung. Gerade so, als ob ein Vakuum dringend gefüllt werden musste.
Und in der Tat glaube ich, dass es sich so verhält: Viele Radikalisierte radikalisieren sich, weil die Ideologie des Dschihadismus ihnen einfache und umfassende Antworten auf alle Sinnfragen liefert – und weil sie nicht nur die Möglichkeit anbietet, später ein Held zu werden, sondern vor allem: sich sofort, in dieser Sekunde, neu zu erfinden. Die alte Identität, unter der man gelitten hat, wird abgestreift. Der Neustart als Dschihadist beginnt mit einer leergewischten Tafel, alle früheren Verfehlungen sind getilgt, alle Krisen und Konflikte, die man mit sich herumgeschleppt hat, sind obsolet.
Auf der Suche nach der Gegenerzählung
Ich glaube, dass man diesen Mechanismus verstehen muss, wenn man sich Gedanken darüber machen will, wie man die Propaganda von Gruppen wie dem „Islamischen Staat“ (IS) oder Al-Kaida bekämpfen kann. In Washington findet derzeit eine hochrangige Konferenz statt, einberufen von US-Präsident Obama, die das zum Ziel hat. Allerdings glaube ich, dass die im Weißen Haus (und im US-Außenministerium) geführte Debatte diesen Befund nicht angemessen berücksichtigt.
Es geht mir um eine alte Idee, die alle Jahre wieder in verändertem Gewand aufs Tapet kommt: die Idee, dass man der Propaganda der Terrorgruppen eine Counter Narrative, also eine Gegenerzählung, entgegensetzen müsse. Ich glaube, es ist gut zehn Jahre her, dass ich den Begriff in diesem Zusammenhang zum ersten Mal gehört habe. Damals wurde erstmals sichtbar, welchen Rekrutierungserfolg Al-Kaida und Co. dadurch hatten, dass sie begannen, das Internet professionell zu nutzen. Diese Professionalität ist seither stetig gewachsen.
Vor allem in den USA wird nun erneut über Gegenerzählungen diskutiert. Die bisherigen Erfolge sind nicht berauschend. Am sichtbarsten war der Versuch einer kleinen Expertengruppe im US-Außenministerium, auf Twitter dagegenzuhalten. Unter dem Motto „Think Again. Turn Away“ kommentierten diese Experten den Strom an IS-Propaganda und versuchten, ihn zu entkräften. Etwa indem sie verbreiteten, wie enttäuscht einige rückkehrende Syrien-Kämpfer in Wahrheit seien. Das Problem war, dass IS-Sympathisanten sich einen Spaß daraus machten, die US-Twitterer lächerlich zu machen. So richtig kam die Initiative nie aus der Kurve.
Botschaften, die der Staat gern sehen würde
Jetzt wollen die USA das Programm effektiver machen und das gezielte Verbreiten von Counter Messages, also quasi Einzelbestandteilen einer größeren Counter Narrative, besser koordinieren. Laut New York Times sollen 350 Twitter-Accounts des Außenministeriums eingebunden werden. Auch die Gegenbotschaften anderer Staaten sollen mit denen der USA abgesprochen und koordiniert verbreitet werden.
Sehr schön wird in den von der New York Times umrissenen Plänen ein Grundproblem deutlich: Einerseits soll eine Information Coordination Cell aus Mitarbeitern des Pentagon und der Nachrichtendienste entstehen; andererseits sagt Nicholas Rasmussen, Direktor des National Counterterrorism Center, man wolle versuchen, Wege zu finden, „diese Art von Counter Narrative zu stimulieren“, ohne dass die US-Regierung daran beteiligt ist (wörtlich: „We try to find ways to stimulate this kind of counternarrative, this kind of countermessaging, without having a U.S. government hand in it„).
Dies ist nur ein Problem bei staatlich verordneten Versuchen, eine Gegenerzählung zu verbreiten: Amtliche Gegenpropaganda verträgt sich nicht sonderlich gut mit den tragenden Ideen eines liberalen, westlichen Rechtsstaats. Hinzu kommt: Staaten sind in den Augen der intendierten Zielgruppe per se keine glaubwürdigen Absender.
Unsere Idee ist nicht attraktiv
Ich glaube jedoch, das Hauptproblem liegt eine Ebene tiefer: Der Begriff der Gegenerzählung ist mir zu defensiv. In Wahrheit ist doch der Dschihadismus die Gegenerzählung zu unserem Narrativ einer freien, selbstbestimmten, demokratischen Gesellschaft. Unser Problem ist nicht, dass wir eine Antwort auf den Dschihadismus finden müssen – sondern dass unsere ursprüngliche Erzählung in vielen Fällen nicht in der Lage ist, das Sinn- und Identitätsvakuum derer zu füllen, die sich unter dschihadistischen Vorzeichen radikalisieren.
Deshalb müsste die erste Frage sein, warum unsere Idee nicht attraktiv ist. Vermitteln wir sie nicht gut genug (zum Beispiel in den Schulen)? Ist sie nicht aufregend genug (zum Beispiel weil Parteien „langweilig“ sind)? Ist sie zu mühsam (weil sie keine schnellen Lösungen anbietet, im Gegensatz zum Dschihadismus)? Oder löst sie ihre Versprechen vielleicht gar nicht ein (weil zwar auf dem Papier alle gleich sind, aber ein Muslim mit arabischem Namen trotzdem schwerer eine Wohnung findet)?
In dem Moment, in dem ein 17-Jähriger anfängt, einem dschihadistischen Heißmacher zu glauben, hat er jedenfalls schon damit aufgehört, „uns“ zu glauben. Aber in dem Moment, in dem ein anderer 17-Jähriger sich richtig ernst genommen fühlt, weil er durch politisches Engagement etwas erreicht hat, Geld von der Stadt für einen Basketballplatz vielleicht oder meinetwegen auch eine erfolgreich angemeldete Demonstration gegen den nächsten Gaza-Krieg, ist er womöglich ein Stück weit immunisiert gegen Heilsversprechen der Dschihadisten.
Zivilgesellschaftliches Engagement gegen die Ehrenamtlichen des Extremismus
Ich will persönliche Umstände nicht kleinreden, auch die spielen eine Rolle bei der Anfälligkeit für Radikalisierung – zerrüttete Familien etwa, oder fehlende (meist männliche) Vorbilder sind wichtige Faktoren. Aber das Gefühl, machtlos zu sein, und selbst nichts bewegen zu können, eben auch.
Der Dschihadismus hat viele Botschafter. Quer über den Globus verbringen Tausende Menschen jeden Tag viele Stunden am Laptop, um ihre Botschaft zu verbreiten. Sie sind (und ich meine das hier wertneutral): engagiert. Ich glaube nicht, dass die einzige Antwort darauf staatlich instigierte Aufklärungsprogramme sein können. Um den Ehrenamtlichen des Extremismus wirksam zu begegnen, brauchen wir selbst Ehrenamtliche.
Wir brauchen also mehr zivilgesellschaftliches Engagement. Wo sinnvoll, da gern mit staatlicher Unterstützung. Aber für das Verbreiten von Counter Messages braucht niemand von „uns“ einen staatlichen Auftrag. Oder auch nur einen Rechner.