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Der rosarote Krieg

„Nun bin ich hier, auf dem Boden des Dschihad“: Eine deutsche Konvertitin bloggt über ihren Alltag an der Seite islamistischer Kämpfer in Syrien. Von Yassin Musharbash

Wo hört authentische Selbstdarstellung auf – und wo beginnt Propaganda? Im Falle von Extremisten lässt sich diese Frage so gut wie nie eindeutig beantworten. Wer sein Leben einer Ideologie unterstellt, tendiert dazu, sich selbst nicht mehr als Individuum zu sehen, sondern als Beispiel. Was einem widerfährt, wird zum Symbol. Was man sagt, wird zum Signal.

Trotzdem bleibt ein Kern: Da wird zum Beispiel etwas beschrieben, ein Alltag, ein Gedanke, eine Begebenheit, und wenn dieses Beschriebene nicht komplett erlogen ist, offenbart solch ein Text unter Umständen Wahrheiten, die jenseits der Propaganda liegen. Dann kann es auch für Außenstehende erhellend sein, das Mitgeteilte zu betrachten.

So verhält es sich, jedenfalls meiner Ansicht nach, auch mit einem noch relativ jungen Blog einer Frau aus Deutschland, die sich, als überzeugte und militante Islamistin, gemeinsam mit ihrem Mann und den Kindern nach Syrien begeben hat. In ihrer Selbstvorstellung schreibt sie: „Ich bin die Frau eines Mujahids, Mutter von Mini-Muhajirin und Nachbarin von Ansar, Muhajirin und Mujahidin. Eine Geschichte wie aus einem Bilderbuch. Nein! Noch besser: So war die Geschichte von unserem geliebten Propheten (saws) seiner Familie (rah) und den Sahaba (ra).“

Mit „Mujahid“ meint sie: jemand, der in einem Dschihad kämpft; „Muhajirin“ bezeichnet im islamischen Kontext religiöse Auswanderer; „Ansar“ sind Helfer; Kürzel wie „saws“ und „ra(h)“ stehen für Segensformeln.

Fünf Blog-Einträge gibt es bisher, alle sind im September entstanden. Sie kreisen um Pfannkuchenrezepte ebenso wie um nächtlichen Kanonendonner, um 9/11 und um die Hauskatze „Nonoh“.

Natürlich ist ein guter Teil Propaganda. Etwa wenn die Bloggerin am Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 schreibt: „Wenn es vom Islam her erlaubt wäre, hätten wir diesen sonnigen 11. September zum Feiertag erklärt. Ein Feiertag mit Geschenken und Keksen, fast wie Weihnachten. Nur das wir keinen Menschen, den man zum Gott erklärt hat, feiert, sondern einen ehrenhaften Scheikh Usama bin Laden. Er war wirklich ein Held und aufrichtiger Mann mit noblem Charakter. Möge Allah (swt) mit ihm barmherzig sein. Amin. So, und nun fliegen uns die Pfannkuchen in den Mund. Ein Kracher sind sie geworden. Alhamdulillah. InschaAllah werden wir in Zukunft weitere einfallsreiche Köpfe haben, die Flugzeuge starten lassen.“

Interessanter aber sind jene Passagen, in denen erkennbar wird, was die junge Frau an ihrer Ideologie, die sie freilich für die reine Form ihrer Religion hält, eigentlich so anziehend findet: „Im Land der Kuffar (Ungläubigen, YM) unterliegst du deren Gesetzesbüchern und machst, was dein Chef dir in der Arbeit sagt, wenn du nicht grad irgendwelche Hartz-IV-Formulare ausfüllst und mit den Ämtern kämpfen musst. Hier aber herrschen unsere Gesetze, Allahs (swt) Scharia. Man arbeitet nicht für Hans-Peter in der Fabrik oder im Büro zwischen 7-16 Uhr, um dann noch seine Gebete in den kleinen Pausen in Hektik (manchmal an dreckigen und ungeeigneten Plätzen) zu verrichten. Hier arbeitest du 24 Stunden konzentriert für Allah (swt). Allahs Religion ist hier keine Nebensache, sondern Mittelpunkt deines Alltags.“

Die „Dunya“, das Diesseits, ist für sie „zugemüllt“ und wertlos: „Unglaublich trügerisch ist sie. Sie lässt dich vergessen, wie nah dir der Tod ist. Eine andere Sache wird dich hier dennoch an den Tod erinnern. Die Bomben, die weit und nah einschlagen … plötzlich erkannt man seine Fehler und man fragt sich, ob man bereit ist für die Akhira (das Leben nach dem Tod, YM). Habe ich das Wohlgefallen Allahs (swt)? Wenn ich jetzt sterbe und für alle Ewigkeiten in der Akhira bin, werde ich es gut haben? Bin ich von den Geretteten?“

Hier mischen sich Faktoren, die nach Ansicht von Radikalisierungsforschern fast immer zusammenkommen: Scheinbar einfache und endgültige Antworten auf die komplexen Herausforderungen des Lebens; ein radikaler Bruch mit dem alten Leben; ein Sinn-Vakuum, das plötzlich gefüllt wird.

Aus dem Blog geht leider nicht hervor, unter welchen Umständen die Autorin und ihr Ehemann sich kennengelernt haben – oder wer die treibende Kraft bei der Radikalisierung war. Aber ganz deutlich wird, dass die junge Bloggerin vollständig zufrieden mit der ihr zugewiesenen Rolle als Ehefrau eines dschihadistischen Kämpfers ist: „‚Mach dich bereit, wir gehen mit den Geschwistern an einen schönen Ort und essen dort Falafel und Kebab‘, sagte mein Ehemann. Schnell alles zusammengepackt fuhren wir zu einem Fluss. Wir Frauen konnten unten sitzen und die Männer oben. So waren wir von den Männern abgeschirmt. Das Essen war sehr lecker. Salat gab es dazu. Frisches kaltes Quellwasser ebenfalls. Plötzlich hörten wir Schüsse. Unsere Männer visierten auf der andere Flussseite einen orangefarbenen Gegenstand an und versuchten diesen mit ihren Sturmgewehren zu treffen. Das war eine Prise Spass zum leckeren Essen und ein wunderschönes Gefühl zu sehen, wie der eigene Mann schiesst, mit seinem Gewehr. Einfach ein richtiger Mann. Ja SubhanAllah, ein Mujahid ist er, ein Soldat Allahs und nicht ein Blauhelm oder deutscher Soldat.“

Sie berichtet von ihrem schlechten Gewissen, weil sie, als das Haus wegen eines Waldbrandes evakuiert werden muss, die „Notfalltasche“ („frische Kleider für mich und die Kinder, Babyflasche, Babynahrung, Feuerzeug, Kerzen / Taschenlampe, Medikamente“) nicht fertig gepackt hat.

Aber am Ende, natürlich, wird alles gut: „Was wohl gerade meine Geschwister in Deutschland machen? Haben sie von dem Feuer mitbekommen? Es ist spät in der Nacht. Ich höre wieder das Einschlagen der Bomben, worauf die Hunde mit einem Bellen antworten. Die Grillen im Hintergrund dürfen nicht fehlen. Wie jede Nacht eben.“ Dschihad-Romantik; der Krieg in Rosarot.

Nach aktuellen Schätzungen der Sicherheitsbehörden halten sich rund 170 Kämpfer aus Deutschland in Syrien auf. Wie viele Frauen unter ihnen sind, ist unbekannt; aber die Bloggerin ist gewiss kein Einzelfall.

Was die Behörden in den wenigsten Fällen wissen, ist, welchen Gruppen sich die deutschen Konvertiten anschließen. Ganz klar ist es auch im Falle der Bloggerin nicht. Aber ihr Blog läuft über die Webpräsenz einer Institution namens „Sham Center“, einer Art dschihadistischem Medienportal, an dem mehrere deutsche Islamisten beteiligt sind. Es gehört augenscheinlich zum Umfeld des Ex-Gangsta-Rappers Denis Cuspert alias „Deso Dogg“, der sich mittlerweile Abu Talha al-Almani nennt, und vom Sham Center wie folgt porträtiert wird: „Wir haben die letzten Monate unseren Bruder Abu Talha Al-Almani auf seiner Reise begleitet und sind auch noch fleißig dabei Videomaterial für eine Dokumentation zu sammeln. Momentan ist der Bruder verletzt, weshalb wir kein Datum für das Veröffentlichen der Dokumentation mitteilen können.“ Das teilten die Aktivisten am 20. September mit.

Ob dieser Zirkel an Kampfhandlungen teilnimmt, ist nicht eindeutig. Es scheint jedoch Beziehungen zu Kämpfern der militanten Salafistengruppe Jund al-Sham zu geben. Vielleicht ist die Tatsache, dass die Blog-Autorin seit fast drei Wochen nichts mehr veröffentlicht hat, ein Hinweis darauf, dass sich die Lage verschärft hat.

Fünf Blog-Posts reichen weder für ein Persönlichkeitsprofil noch für allgemeingültige Schlüsse. Aber es schimmert etwas durch. Für einige, die derzeit nach Syrien ziehen, geht es nicht allein ums Kämpfen und schon gar nicht in erster Linie um das Assad-Regime. Das Schlachtfeld Syrien ist für sie offensichtlich auch attraktiv als Kulisse zum Ausleben zuvor verinnerlichter Ideen. Als Zufluchtsort vor den Anfechtungen (und vielleicht auch Zweifeln) zu Hause. Als Bewährungsprobe, dass man wirklich bereit ist, die gelernten Ideale zu leben. Als eine Art virtuelle Zeitmaschine, die es scheinbar möglich macht, sich in die verherrlichte Vergangenheit des 7. Jahrhunderts zu imaginieren und die Vorbilder zu imitieren, die einem ständig vorgehalten werden.

Dass der mögliche Preis der Tod ist, sogar der Tod der eigenen Kinder, wird dabei in Kauf genommen.

Es ist schwer, das nachzuvollziehen; aber es scheint mir wichtig, es nicht zu ignorieren. Es werden noch mehr Islamisten und Islamistinnen aus Deutschland nach Syrien ziehen – und viele werden zurückkehren. Dann wird es darauf ankommen, sie richtig einzuschätzen.


PS: Eine Anmerkung zum Schluss. Es ist naturgemäß nicht einfach, zu prüfen ob die Autorin sich wirklich in Syrien aufhält. Ich kann genau genommen nicht einmal verifizieren, dass das ganze Blog kein Fake ist. Ich glaube aber, dass es authentisch ist, weil mir der Inhalt, der Tonfall und der Veröffentlichungsort plausibel erscheinen. Andere Experten, die ich befragt habe, sehen ebenfalls keinen Grund für Zweifel. Sollte sich an dieser Einschätzung etwas ändern, werde ich das an dieser Stelle nachtragen.

 

Warum man jetzt auf die AfD achten muss

René Stadtkewitz, Bundesvorsitzender der rechtspopulistischen Partei Die Freiheit, hat in einem Brief an alle Mitglieder angekündigt, dass seine Truppe ihre sämtlichen Vorhaben auf Bundes- und Landesebene einstellen wird. Stattdessen wolle sich die Partei ausschließlich auf die Kommunalpolitik konzentrieren, Schwerpunkt Bayern. Auch an der Europawahl 2014 wird Die Freiheit nicht teilnehmen. Das Schreiben wurde im islamophoben Internetportal Politically Incorrect verbreitet; nach Auskunft der Geschäftsstelle der Partei ist es authentisch.

Stadtkewitz macht in dem Schreiben kein Geheimnis aus den Gründen für die Entscheidung: „Mit der Alternative für Deutschland hat es erstmals eine bürgerlich-liberale Partei geschafft, sich eine realistische Chance zu erarbeiten, bereits im kommenden Jahr in zahlreichen Parlamenten vertreten zu sein. Diese Chance gilt es nun nach Kräften zu unterstützen.“ Es müsse diejenige Partei die „optimalen Startbedingungen erhalten, die die größte Erfolgschance hat, Politik in unserem Sinne gestalten zu können“. Die Ziele der AfD, konstatiert Stadtkewitz weiter, „decken sich zu min. 90% mit unseren“.

Sind die AfD-Aktivisten die professionelleren Rechtspopulisten? Stadtkewitz‘ Schreiben dürfte die Debatte, wie rechts die AfD ist, weiter lebendig halten. AfD-Chef Bernd Lucke hat zwar im Wahlkampf immer wieder entsprechende Vorwürfe zu entkräften versucht. Aber Zweifel bleiben.

„Wir lieben die Vielfalt“

Für DIE ZEIT hat die Kollegin Caterina Lobenstein zum Beispiel im August einen AfD-Wahlkämpfer beobachtet, der erklärte: „Wir lieben die Vielfalt. Aber der Massenzuzug aus einem ganz fernen Kulturraum, der islamische, der archaische Kontext, der belastet uns.“ Und dem Spiegel sagte der Hamburger AfD-Sprecher Anfang September, es lasse sich nicht leugnen, dass „sich in mehreren Ländern systematisch rechte Gruppen formieren, die auf Inhalte und Image unserer Partei Einfluss nehmen wollen“. Schaut man sich darüber hinaus Social-Media-Profile von AfD-Mitgliedern und -Funktionären an, findet man rasch welche, die öffentlich gegen Moschee-Neubauten polemisieren oder die neu-rechte „Identitäre Bewegung“ gut finden.

Natürlich ist die AfD weder was das Programm, noch was das Personal angeht, durchgehend xenophob. Schon gar nicht in dem Maße wie Die Freiheit. Sie ist zudem bürgerlicher und intellektueller. Aber sagen wir es so: Es gibt durchaus Rechte, die gern bei der AfD mitmischen. Sie finden sich vermutlich eher an der Basis als in der Spitze, was aber nicht heißt, dass sie keinen Einfluss haben.

Und nun könnten es mehr werden. Denn das Lob aus Stadtkewitz‘ Munde hat in islamfeindlichen Kreisen Gewicht. Deshalb muss man sich jetzt – auch wenn sie den Einzug in den Bundestag verpasst hat – genau anschauen, wie es mit der AfD weitergeht.

Wählerpotenzial am rechten Rand

Auf Politically Incorrect, dem Zentralorgan der deutschen islamophoben Szene, löst die Erklärung ein gespaltenes Echo aus. Viele Diskutanten bekunden Stadtkewitz Respekt; man darf davon ausgehen, dass etliche von ihnen die AfD für wählbar halten. Andere sehen die AfD als zu nahe dem politischen Mainstream. In der Summe dürfte es also durchaus ein paar Wähler aus diesem Lager geben, die nun überlegen werden, bei der Europawahl statt bei Der Freiheit ihr Kreuz bei der AfD zu machen.

Es wird deshalb interessant sein zu beobachten, wie die AfD ihren Europa-Wahlkampf gestalten wird. Bei der Europawahl gilt keine Fünfprozenthürde, sondern eine von drei Prozent. Lucke & Co. dürfen also hoffen – auch weil der Euro ihr Leib-und-Magen-Thema ist –, ohne weitere Zuspitzung ins Europaparlament getragen zu werden. Aber was, wenn die Umfragewerte wieder sinken – und der eine oder andere Parteistratege das Wählerpotenzial am rechten Rand zu nutzen versucht? Euro-Skepsis und Islamophobie gehen in anderen westeuropäischen Rechtsparteien schließlich schon lange Hand in Hand.

Die AfD ist noch nicht fertig ausgeformt, ihr Profil noch nicht fixiert. Die kommenden Monate könnten dafür entscheidend sein.

 

Plötzlich ein Terrorverdächtiger

Weil ein Bonner Konvertit sich den Al-Shabaab-Milizen in Somalia angeschlossen hat, haben deutsche Medien suggeriert, er könne mit dem Anschlag von Nairobi zu tun gehabt haben. Das ist gedankenlos.

Die Geschichte von Andreas Ahmad Khaled M. aus Bonn ist keine einfache Geschichte, ich verfolge den Fall seit Jahren. Die für diesen Text relevante Zusammenfassung geht so: Auf der Suche nach einem „gottgefälligen Leben“, wie er es nennt, ist M. im Sommer 2011 mit seiner Ehefrau und der gemeinsamen Tochter nach Somalia ausgewandert, wo er sich, nach allem, was man wissen kann, den Al-Shabaab-Milizen angeschlossen hat. In den Jahren zuvor hatte das Paar sich radikalisiert, beide sind überzeugte Islamisten. Trotzdem meldet M. sich bis heute in unregelmäßigen Abständen bei seiner Familie im Rheinland. Für die Eltern ist das alles eine Tragödie; im vergangenen Jahr haben sie der ZEIT ihre Geschichte erzählt.

Was man noch wissen muss, das ist: Bis heute gibt es keinen Beleg dafür, dass M. je zu einer Waffe gegriffen hat. Das bestreitet M. auch selbst – auch wenn ein Al-Shabaab-Sprecher im Mai 2012 dem stern erzählte, M. sei zum Zwecke der miitärischen Ausbildung nach Somalia gekommen. Anders als im Falle anderer deutscher Islamisten, die in Krisengebiete ausgewandert sind und bei oder im Umfeld von militanten und/oder terroristischen Gruppen leben, gibt es von M. keine Ansprachen und keine Videos, in denen er mit Terror droht oder zu Gewalt aufruft. Niemand, die deutschen Sicherheitsbehörden eingeschlossen, weiß genau, wo in Somalia er sich aufhält, und womit er seine Tage verbringt. Es ist unklar, ob er sich im Zentrum der Al-Shabaab-Bewegung, an ihrer Peripherie oder an einer Front befindet.

Im Mai 2012 gab es schon einmal Aufregung um M.: In Kenia hatte ein Terroranschlag stattgefunden, und plötzlich tauchte sein Name in der kenianischen Presse auf – er werde gesucht, hieß es. Auch in Deutschland wurde berichtet. Ganz klar aber ist bis heute nicht, ob es vielleicht eine Verwechslung gab. Zumindest zeitweise verbreiteten die Behörden in Kenia augenscheinlich ein Bild zu seinem Namen, das nicht ihn zeigte. Es ist nicht einfach, solche Dinge von hier aus aufzuklären. Es fand sich aber bislang kein Beleg dafür, dass M. in Kenia war.

Als nun die Al-Shabaab-Milizen erneut in Kenia zuschlugen und im Shopping Center Westgate dutzende Menschen als Geiseln nahmen und töteten, erinnerten verschiedene Medien daran, dass es bei den Al-Shabaab auch Kämpfer gibt, die aus westlichen Staaten nach Somalia gereist sind, um sich ihnen anzuschließen. Das ist nichts Neues. Schon vor Jahren haben somalisch-stämmige Amerikaner im Namen der Al-Shabaab Selbstmordattentate ausgeführt. Im konkreten Fall gab es zudem die Vermutung, dass aus Großbritannien und den USA eingereiste Al-Shabaab-Kämpfer beteiligt gewesen sein könnten.

In diesem Zusammenhang interviewte die Presseagentur dpa den Berliner Terrorexperten Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik. In dem Interview erwähnte Steinberg den Fall M.: Dieser solle ein Al-Shabaab-Kämpfer sein. dpa gab eine Meldung heraus, in der daraus ein Indikativ wurde: M. ist ein Al-Shabaab-Kämpfer, wurde Steinberg zitiert. Später korrigierte dpa das und bat um Verwendung der „Soll-Sein“-Form. Da hatten es etliche Medien schon als Tatsache verbreitet.

Am Mittwoch griff dann die Tagesschau den Fall M. auf – in einem Bericht über Al-Shabaab, der unmittelbar auf einen Beitrag über den Anschlag von Nairobi folgte. Darin hieß es: „Seit dem Einmarsch kenianischer Truppen in Südsomalia hat Al-Shabaab einen neuen Feind. Im Kampf gegen ihn können sich die Islamisten auch auf ausländische Helfer stützen. Steckbrieflich gesucht werden unter anderem eine 29-jährige Britin und ein deutscher Konvertit namens Andreas Khaled M. (Abkürzung des Nachnamens durch ZEIT ONLINE), nach dem Kenias Polizei fahndet.“

Diese sehr knappe Darstellung ließ aus, dass der kenianische Fahndungsaufruf nicht aktuell bedingt ist (falls er überhaupt noch gilt, was ich nicht weiß). Und sie ließ aus, dass unklar ist, ob M. je in Kenia war. (Die 29-jährige Britin wird – von Interpol – wegen mutmaßlicher Beteiligung an einem Anschlag aus dem Jahr 2011 gesucht; sie wird von kenianischen Behörden überdies tatsächlich verdächtigt, an dem Anschlag von Nairobi beteiligt gewesen zu sein.)

Ich finde, die Tagesschau hätte hier mehr Kontext liefern müssen. Ich habe den Chefredakteur Aktuell der ARD, Kai Gniffke, gefragt, wie er das sieht. „Ich habe mir den Beitrag noch einmal genau angesehen und kann auch nach sorgfältiger Sichtung keine journalistische Verfehlung feststellen“, schrieb er am Freitag zurück. „Der Autor hat konstatiert, dass sich Al-Shabaab im Kampf gegen die kenianische Armee in Somalia auf die Unterstützung ausländischer Helfer stützen kann. Steckbrieflich gesucht werden eine 29-jährige Britin und der deutsche Konvertit Ahmed Khaled M. Ein direkter oder indirekter Zusammenhang zum Anschlag in Nairobi wurde nicht hergestellt, sodass alle Aussagen des Beitrags richtig und durch die Recherche gedeckt sind.“

Gniffke mag recht damit haben, dass in dem Beitrag keine nachweisbar falschen Behauptungen gefallen sind. Aber ich bleibe dabei, dass der Kontext zu sehr eingedampft wurde. Andreas M. taucht allein im Zusammenhang mit gewaltsamen Aktionen der Al-Shabaab gegen oder in Kenia auf. Genau die aber sind in seinem Fall nicht belegt. Ich vermute ferner, dass bei vielen Tagesschau-Zuschauern hängen geblieben ist, hier würden zwei Terrorverdächtige vorgestellt.

Was der Kölner Express betrieb, dessen Meldung vom Mittwoch auch der Berliner Kurier online brachte, spielt wiederum in einer ganz anderen Liga: „Steckt dieser Bonner unter den Attentätern?“, fragte das Blatt ungeniert. Und im Text stand der Satz: „Ob M. (Abkürzung des Nachnamens durch ZEIT ONLINE) auch an dem Anschlag in Nairobi beteiligt ist, steht derzeit noch nicht fest.“

Lesen Sie den Satz bitte noch einmal.

Mit Verlaub: Das ist kein Journalismus, das ist freies Assoziieren.

Ich habe am Mittwoch und am Donnerstag mit den relevanten deutschen Sicherheitsbehörden gesprochen: Es gibt ihren Auskünften zufolge keinen Hinweis darauf, dass M. in das Attentat verstrickt ist. Natürlich schließt niemand aus, dass es so gewesen sein könnte. Wie sollte man das auch ausschließen? Aber es existiert eben kein Anknüpfungspunkt für einen Verdacht.

Bei den Eltern von Andreas M. hat die Express-Meldung am Mittwoch übrigens dazu geführt, dass sie stundenlang glaubten, die Journalisten dort wüssten etwas, das sie nicht wissen: Dass ihr Sohn verdächtigt wird, an einem Massenmord beteiligt gewesen zu sein.

Mittlerweile hat der Express reagiert: „Die Zuspitzung, die M. zumindest eine mögliche Beteiligung unterstellt, ist aus unserer Sicht in der Tat unglücklich. Wir haben das Thema in der Redaktion besprochen und den Artikel entsprechend angepasst“, schrieb mir der stellvertretende Chefredakteur Thomas Kemmerer am Freitag. In einer neuen Fassung des Artikels ist der Satz gestrichen.

 

Al-Kaidas Chef al-Sawahiri stellt neue Regeln auf

Seit gut zwei Jahren führt der ägyptische Arzt Aiman al-Sawahiri das Terrornetzwerk Al-Kaida an. Zum ersten Mal tritt er nun erkennbar aus dem Schatten seines Vorgängers Osama Bin Laden, der im Mai 2011 von US-Spezialeinheiten in Pakistan getötet worden war. Und zwar nicht mit einer Rede, sondern mit einer fünfseitigen (arabisches Original) beziehungsweise siebenseitigen Erklärung (englische Übersetzung, von Al-Kaida zur Verfügung gestellt) namens „Allgemeine Erläuterungen zur dschihadistischen Arbeit“. Al-Kaidas Medienabteilung Al-Sahab hat das Dokument vor einigen Tagen über einschlägige Internetseiten verbreitet; es liegt ZEIT ONLINE vor.

Das Papier ist sehr interessant – schon weil es in eine Kategorie von Kaida-Veröffentlichungen fällt, die in den vergangenen Jahren immer seltener geworden ist: jene nämlich, die sich nicht vornehmlich an „den Feind“ richtet und ihn einschüchtern soll, sondern stattdessen Anweisungen für die eigenen Anhänger enthält. Wörtlich sagt al-Sawahiri: „Wir rufen die Anführer aller Gruppen, die zur Gemeinschaft Al-Kaidas zählen, sowie unsere Unterstützer und Sympathisanten dazu auf, diese Richtlinien unter ihren Mitgliedern zu verbreiten, gleich ob Anführer oder Individuen.“

Diese Richtlinien beginnen recht unspektakulär mit einer Art Präambel: Al-Kaida agiere erstens militärisch und zweitens durch Propaganda; militärische Akte seien vornehmlich gegen „das Haupt des Unglaubens“, also die USA sowie deren Alliierten Israel gerichtet, ferner gegen „die lokalen Verbündeten, die unsere Länder regieren“. Zweck und Ziel aller Angriffe auf die USA sei es, das Land „auszubluten“, auf dass es der verbliebenen Supermacht so ergehe wie einst der Sowjetunion. Danach – das ist die dschihadistische Variante der Domino-Theorie des Kalten Krieges – würden dann alle US-Alliierten „einer nach dem anderen“ ebenfalls stürzen.

Es folgt eine wenig überzeugende Lesart des Arabische Frühlings: Dieser sei ein von den USA (!) geschaffenes Ventil für die Unzufriedenheit der Menschen in diesen Ländern, habe sich nun aber zum Nachteil der USA weiterentwickelt. Wahrscheinlich verbreitet al-Sawahiri diese Deutung, weil er sonst eingestehen müsste, dass es nicht etwa, wie stets von Al-Kaida propagiert, Dschihadisten waren, die arabische Autokraten hinwegfegten, sondern eher liberal gesonnene Bürgerinnen und Bürger.

„Denn unser Kampf ist lang“

Dann aber wird es interessant. Denn nun schlägt al-Sawahiri eine Brücke zwischen „Propaganda“ und „Operationen“: Den Muslimen weltweit müsse klargemacht werden, dass die „Mudschahedin“ die Speerspitze des Widerstands gegen die neuen „Kreuzzügler gegen den Islam“ seien. Jegliche militärische Tätigkeit Al-Kaidas, so der oberste Anführer sinngemäß, müsse entsprechend legitimierbar sein: als Akt der Verteidigung, nicht etwa der Aggression.

Diese Denkfigur hat bei Al-Kaida zwar schon immer große Bedeutung gehabt. Osama Bin Laden versuchte mit ihrer Hilfe, 9/11 zu legitimieren: Die Anschläge von New York und Washington seien ja lediglich eine Schlacht in einem immerwährenden Krieg, ein Gegenschlag, eine Reaktion der Attackierten, Vergeltung und nicht etwa eine Kriegserklärung.

Aber in den vergangenen Jahren ist Al-Kaida anders aufgetreten, und al-Sawahiri hat offensichtlich beschlossen, Konsequenzen daraus zu ziehen, dass sein Terrornetzwerk über sehr wenig öffentliche Unterstützung in der islamischen Welt verfügt, weil es zunehmend als blutrünstig, brutal und unterschiedslos mörderisch in Erscheinung getreten ist.

Entsprechend befiehlt al-Sawahiri Zurückhaltung: „Es sollte vermieden werden, in einen bewaffneten Konflikt (mit den lokalen Herrschern) einzutreten. Wenn wir gezwungen sind zu kämpfen, müssen wir klarmachen, dass unser Kampf gegen sie ein Teil unseres Widerstandes gegen den kreuzzüglerischen Angriff auf die Muslime ist.“ Al-Sawahiri will also vermeiden, dass Al-Kaida wirkt, als übe sie Gewalt (zumal in der muslimischen Welt) zum Zwecke der Gewalt aus. Er geht sogar noch weiter. Wo möglich, solle man Konflikte sogar befrieden, sollte danach eine Situation entstehen, in der „die Brüder“ Freiraum zur Ausübung von Propaganda und Rekrutierung hätten: „Denn unser Kampf ist lang, und der Dschihad braucht sichere Basen …“

Keine Angriffe auf Christen oder Schiiten mehr!

Noch weitreichender: Al-Sawahiri fordert die Kader auf, Angriffe auf „abweichende“ islamische „Sekten“ wie Schiiten oder Sufis zu unterlassen. „Selbst falls sie Sunniten angreifen, muss unsere Reaktion beschränkt bleiben und darf nur jenen gelten, die uns auch angegriffen haben.“ Auch von Christen, Hindus und Sikh, die in muslimischen Ländern leben, sollen die Mudschahedin ablassen, sondern diesen stattdessen erklären, dass Al-Kaida mit ihnen friedlich gemeinsam in einem islamischen Staat leben möchte.

Ansonsten gelte es, Zivilisten (insbesondere muslimische) zu schonen, also keine Angriffe auf Moscheen, Märkte oder andere Orte, wo sich gewöhnliche Muslime aufhalten könnten. Ferner: Hände weg von islamischen Gelehrten (auch wenn sie gegen Al-Kaida sind) sowie von Frauen und Kindern.

Was will al-Sawahiri mit diesem Papier erreichen? Zunächst einmal: Es schwingt in dem Dokument eine Kritik nach, die der Ägypter auf dem Höhepunkt des irakischen Bürgerkrieges an den seinerzeitigen Kaida-Statthalter dort gerichtet hatte, dass dieser sich nämlich mit seiner überbordenden Blutrünstigkeit zurückhalten solle, weil das die lokalen Unterstützer verprelle, auf die Al-Kaida angewiesen sei. Al-Sawahiri sieht Al-Kaida eben gar nicht in erster Linie als Terrororganisation, sondern als Bewegung – und als solche müssen ihre Taten vermittelbar und in sich schlüssig sein, und sollten sich außerdem besser nicht unterschiedslos gegen Zivilisten richten.

Zum zweiten: Al-Sawahiri ist mit Leib und Seele Ägypter, man darf getrost davon ausgehen, dass es stets die Lage in seinem Heimatland ist, die ihn am meisten umtreibt. Und unter diesem Aspekt ergibt sein Richtlinien-Papier noch einmal besonderen Sinn. In Ägypten nämlich, wo das Militär den von den Muslimbrüdern gestellten Präsidenten abgesetzt hat, stehen die radikalen Ränder der Muslimbrüder gerade vor der Frage, wie sie auf diesen Putsch reagieren sollen. Al-Sawahiri will jene einfangen, die mit den vormaligen, eher zivilen Taktiken und Methoden der Brüder nichts mehr anfangen können, denen Al-Kaida aber zu mörderisch erscheint. Eine geschminkte, politischere, von Regeln der Kriegsführung bestimmte Al-Kaida könnte aber als Auffangbecken für junge, radikalisierte Muslimbrüder interessant sein.

Al-Sawahiri will ideologische Reinheit

Al-Sawahiri spricht niemandem, der kämpfen will, ob in Syrien oder gegen das chinesische Regime, das Recht dazu ab; er verlangt lediglich die Einhaltung gewisser Regeln und die ständige Rückführung der Aktivitäten auf die große Al-Kaida-Erzählung vom Angriff der Kreuzfahrer auf die islamische Welt. Im Grunde handelt es sich um den Versuch, eine gewisse ideologische Reinheit wiederherzustellen, die zuletzt kaum mehr erkennbar war.

Die Anhänger Al-Kaidas reagieren freundlich auf die neuen Maßgaben; alles, was Al-Kaida als wichtigen Faktor mit einhelliger Botschaft erscheinen lässt, ist ihnen recht. Zumal al-Sawahiri ihnen weder den Krieg noch den Terror verbietet – im Gegenteil: Angriffe auf US-Bürger und Israelis erklärt der Al-Kaida-Chef für stets zulässig und gewünscht.

Eine andere Frage ist, ob jene Kämpfer im Namen Al-Kaidas, die besonders mörderisch vorgehen, sich an die Regeln halten wollen oder werden – also jene, die im Irak gegen Schiiten wüten oder in Syrien zum Beispiel Christen niedermetzeln, nur weil sie Christen sind. Die Chancen stehen freilich nicht so gut; schon al-Sarkawi reagierte seinerzeit nicht auf al-Sawahiris Kritik.

Für Kaida-Anhänger ist die Botschaft aus der Zentrale dennoch wichtig: Al-Sawahiri gilt bislang als eher blasser Nachfolger Bin Ladens mit wenig Anstößen, gar keinem Charisma und schwachen Antworten. Jetzt hat er erstmals eine Art Programm vorgelegt. Es könnte sein, dass die Erklärung seine Position festigt.

 

Deutscher Dschihadist und Ex-Rapper meldet sich aus Syrien

Screenshot aus dem Video von "Abu Talha al-Almani" alias Denis Cuspert
Screenshot aus dem Video von „Abu Talha al-Almani“ alias Denis Cuspert

Ich hab‘ es nicht so mit Apokalypse-Blockbustern, aber wenn mich nicht alles täuscht, dann sind es vor allem Bilder aus dem Hollywood-Film 2012, mit denen der Mann, der sich „Abu Talha al-Almani“ nennt, sein neuestes Kampflied unterlegt hat. Brücken stürzen ein, Züge fliegen durch die Luft, Hochhausschluchten explodieren, und „Abu Talha“ näselt dazu: „Hörst du nicht, was die Engel sagen?“

„Abu Talha“, das muss man dabei natürlich wissen, ist der gebürtige Berliner und Ex-Gangsta-Rapper Denis Cuspert alias Deso Dogg und nun, nach seiner Verwandlung in einen militanten Islamisten, eben alias „Abu Talha al-Almani“. Cuspert ist seit Jahren in einschlägigsten radikalen Kreisen unterwegs, seit einiger Zeit hält er sich, das ist bereits bekannt, in Syrien auf. Mutmaßlich, um dort am Bürgerkrieg an der Seite dschihadistischer Kämpfer mitzuwirken.

Vor Kurzem veröffentlichte er bereits ein kurzes Video aus Syrien, wo er an einem Wasserfall stand und erklärte, wie glücklich er sei. In dem nun veröffentlichten 11-Minuten-Video grüßt er „vom Boden der Ehre“ – das ist Dschihadistensprech für „vom Schlachtfeld“.

Warnung vor der Höllenstrafe für alle Ungläubigen

Cuspert stammt aus dem Umfeld des österreichischen Hasspredigers Mohammed Mahmoud, der in Österreich eine Haftstrafe wegen Terrorismus absaß, zuvor die Kaida-nahe Globale Islamische Medienfront gegründet hatte und danach den mittlerweile in Deutschland verbotenen Verein Millatu Ibrahim. Im April 2012 wurde seine Ausweisung aus Deutschland verfügt, der er mit einer Ausreise nach Ägypten zuvorkam. Etliche Gesinnungsgenossen, darunter Cuspert, schlossen sich ihm an. Von Ägypten aus versuchten einige von ihnen zeitweise offenbar, nach Mali und/oder Libyen zu reisen. Mahmoud selbst wurde vor einigen Monaten an der türkisch-syrischen Grenze verhaftet und sitzt seitdem in der Türkei im Gefängnis, angeblich unter recht kommoden Umständen.

Es wird vermutet, dass Mahmoud nach Syrien einreisen wollte – etwas, das Cuspert augenscheinlich gelang. In dem Video schreibt Cuspert im Untertitel, es grüßten „Eure Geschwister von Millatu Ibrahi“, ein Hinweis darauf, dass er nicht allein dort ist, sondern vermutlich in Gesellschaft anderer Dschihadisten aus Deutschland.

Welcher Gruppe sie sich dort angeschlossen haben, ist einstweilen ungewiss. Auch ob sie tatsächlich kämpfen, ist nicht bekannt. Der Song, den Cuspert veröffentlicht hat, ist in dieser Hinsicht (und musikalisch, würde ich mal sagen) wenig bedeutsam. In dem religiös inspirierten Lied, einem sogenannten Nascheed, warnt er lediglich vor der Höllenstrafe für alle Ungläubigen. Am Ende bekennt er, der Film Nach dem Tod habe ihn inspiriert. Vielleicht kennt jemand diesen Film, ich habe ihn auf die Schnelle nicht eindeutig identifizieren können.

Deutsche Szene radikaler Islamisten als Adressat

Cuspert gehört zu jener Kategorie deutscher Syrien-Kämpfern, die den Sicherheitsbehörden Sorgen bereiten. Das Umfeld von Mahmoud ist extrem radikal, drohte mehrfach auch mit Terror. Dass es ihnen nicht allein um den Sturz des syrischen Regimes geht, liegt auf der Hand. In diesem Zusammenhang sind Propaganda-Videos, wie das nun veröffentlichte, dann auch doch nicht völlig belanglos. Cuspert hat durchaus Anhänger und einen Ruf in der hiesigen Szene radikaler Islamisten.

Der gesamte Vorgang erinnert an die Jahre 2009 und 2010, als plötzlich ähnliche (na ja, professionellere und wortlastigere, aber nicht unähnliche) Videos deutscher Dschihadisten aus Wasiristan im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet auftauchten. Dafür zeichnen sich bis heute vor allem die beiden Brüder Yassin und Munir C. aus Bonn verantwortlich, die sich der Islamischen Bewegung Usbekistans angeschlossen haben und unter anderem zum Mord an Mitgliedern islamfeindlicher Parteien in Deutschland aufriefen.

Deshalb glaube ich auch, dass „Abu Talha“ künftig noch mehr Videos veröffentlichen wird. Außer natürlich, die Situation auf dem Schlachtfeld lässt das nicht zu. Wir werden sehen.

Anmerkung: Ursprünglich hatte ich das Wort Nasheed mit ‚Kampflied‘ übersetzt; nach dem zutreffenden Leserhinweis, dass es sich bei Anasheed (so der Plural) keineswegs nur um Lieder über den Kampf handelt, habe ich die Stelle entsprechend geändert. Wichtig ist: Anasheed werden stets ohne Instrumente (einige halten allerdings Handtrommeln für akzeptabel) gesungen und kreisen um religiöse Themen. In dschihadistischen Anasheed geht es hingegen bervorzugt um den Kampf, den Krieg und das Märtyrertum.

 

Dschihadisten in Syrien fürchten US-Angriff

Die Anzeichen verdichten sich, dass die USA, womöglich gemeinsam mit Großbritannien und anderen Staaten, in den kommenden Tagen Einrichtungen des syrischen Regimes bombardieren werden. Es wäre die erwartete Reaktion auf den tödlichen Giftgasangriff vom vergangenen Mittwoch, der mutmaßlich von Assads Armee ausgegangen war.

Doch in Syrien kämpfende Dschihadisten glauben nicht, dass die USA nur Regierungsziele angreifen würden. Sie befürchten vielmehr, dass die Amerikaner versuchen könnten, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen – und ein paar der Raketen auch auf ihre Stellungen abfeuern. In Syrien kämpfen inzwischen Tausende Islamisten gegen das Assad-Regime – und gegen rivalisierende Rebellengruppen.

In dschihadistischen Internetforen und vor allem auf Twitter kursieren nun jedenfalls Warnungen vor einem möglichen US-Angriff. So wird zum Beispiel unter Dschihadisten und ihren Sympathisanten die Vermutung eines arabischen Journalisten weiterverbreitet, derzufolge das Hauptmotiv der internationalen Gemeinschaft bei Luftschlägen eher die Schwächung der dschihadistischen Gruppen als des Assad-Regimes sein würde.

Ein eher persönlich gehaltenes Schreiben eines Dschihadisten, der (relativ glaubhaft übrigens) versichert, er halte sich in Syrien auf, macht ebenfalls die Runde: „Brüder, eine ernsthafte Angelegenheit“, schreibt er an seine Gesinnungsgenossen und mahnt: „Für jede Rakete, die das Regime trifft, wird eine zweite auf die Mudschahidin gerichtet sein … Die Amerikaner werden so viele Anführer beider Seiten wie möglich töten.“ Es sei nun an der Zeit, den Aufenthaltsort zu wechseln, nur ohne Ankündigung im Land zu reisen, und sich von den Anführern fernzuhalten. Falls es Notfallpläne gäbe, sei jetzt die Zeit, sie zu aktivieren. Größere Mengen Essen und Medikamente gelte es nun, aus den Basen zu räumen. Besonders dramatisch der Hinweis, dass Flugabwehrraketen gegen die mutmaßlich zum Einsatz kommenden US-Flugkörper wohl kaum helfen dürften, sondern eher zu einer Art „Arbeitsselbstmord“ führen würden.

Die in den Postings zum Ausdruck kommende Sorge ist natürlich nachvollziehbar, auch wenn es für Angriffe auf Dschihadisten-Gruppen wohl kaum ein Mandat geben wird. Gleichwohl sind die Reaktionen interessant, weil die möglichen Luftschläge der Amerikaner diesmal eben nicht bejubelt werden. Dies ist sonst, so kurios es klingt, üblich und hat damit zu tun, dass Dschihadisten für gewöhnlich instinktiv davon ausgehen, dass Angriffe von westlichen Mächten, in welcher Form auch immer, ihnen Sympathisanten zuspielen.

Eine andere Theorie, dass nämlich das Giftgas in Wahrheit von Aufständischen oder Dschihadisten eingesetzt wurde, eben um eine militärische Reaktion des Auslandes in Gang zu setzen, wird derweil in dschihadistischen Internet-User-Kreisen wenig diskutiert.

Allerdings muss ich anstandshalber ergänzen, dass mein Einblick im Moment etwas getrübt ist: Einige der entscheidenden dschihadistischen Internetforen, wo die maßgebliche Debatten sonst stattfinden, sind derzeit inaktiv.

 

Die perfide Rhetorik von Pro Deutschland

Heute Vormittag war ich bei einer Kundgebung im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf. Dort hat die Bürgerbewegung Pro Deutschland gegen das neu eröffnete Flüchtlingswohnheim agitiert. Die gute Nachricht ist, dass neben den vier Rednern nur sechs oder sieben Zuhörer gekommen waren. Auf der anderen Straßenseite fand außerdem eine Gegendemonstration mit schätzungsweise 60 bis 70 Teilnehmern statt.

Trotzdem war die Kundgebung bedrückend – vor allem wegen ihrer Empathielosigkeit. In der Flüchtlingsunterkunft sollen unter anderem Syrer untergebracht werden, die aus einem brutalen Bürgerkrieg geflohen sind. Und was fällt dem Berliner Landesvorsitzenden von Pro Deutschland, Lars Seidensticker, dazu ein? Er wolle keine „Deserteure“ im Land. Wörtlich: „Wir wollen keine Fahnenflüchtigen, die eisessenderweise auf dem Ku’damm spazieren“, während in Syrien gekämpft werde. Er nannte die Flüchtlinge auch „Vaterlandsverräter“, die ihr Land und ihre Familien im Stich gelassen hätten.

Ich wünsche niemanden, je einen Bürgerkrieg miterleben zu müssen, auch nicht Lars Seidensticker. Aber ich würde mir wünschen, er hätte einmal mit syrischen Flüchtlingen gesprochen. Ich habe das getan, an der türkischen Grenze, an der jordanischen Grenze, auch in Deutschland. Massenvergewaltigungen, Folter, Hinrichtungen, willkürliche Erschießungen, Luftangriffe auf Zivilisten, Scharfschützen in den Städten: Fast alle haben das eine oder das andere oder alles davon erlitten oder bezeugt. Lars Seidensticker würde in so einer Situation natürlich nicht fliehen, sondern mutig zur Waffe greifen, nehme ich an.

Pro Deutschland nimmt für sich in Anspruch, nicht rechtsextrem zu sein. Es gab schon gerichtliche Auseinandersetzungen zu dieser Frage, ich will sie hier gar nicht behandeln. Nur so viel: Eine derart perfide, jeder Anteilnahme unfähige Rhetorik spricht für sich.

 

Ägypten und die Medien: Die Schlinge zieht sich zu

Die Lage ist dramatisch in Ägypten – vor allem für die Ägypter selbst, aber zunehmend gilt die Sorge auch der Arbeit der lokalen und ausländischen Journalisten. Berichte über Festnahmen häufen sich, manchmal für die Dauer von ein paar Stunden, manchmal offenbar auch bis auf Weiteres. Kollegen berichten von Drohungen durch Sicherheitskräfte und Armee. Und angeblich sollen erste Journalisten mit dubiosen Vorwürfen wie Aufstachelung zum Mord oder Unterstützung des Terrorismus belegt werden. Man kennt so etwas aus autoritären oder diktatorischen Regimen. Auch die ägyptische Junta scheint mit abweichenden Meinungen nicht souverän umgehen zu können.

Das spürt man sogar bis nach Deutschland. So erreichte mich (und vermutlich etliche weitere Kolleginnen und Kollegen) am Samstag, von der E-Mail-Adresse der Pressestelle der ägyptischen Botschaft in Berlin aus versendet, ein langes englischsprachiges Dokument des State Information Service direkt aus Kairo. Der SIS ist das dortige Informationsministerium.

In dieser E-Mail berichtet der SIS, er habe feststellen müssen, dass „die Berichterstattung in einigen Medien sich von den Prinzipien der Objektivität und Neutralität, so wie sie international üblich sind, entfernt hat, und zwar nach Maßgabe einer bestimmten politischen Agenda“. Die Folge sei „ein verzerrtes Bild“.

Für alle, die den Subtext nicht gleich kapieren, wird es im Folgenden deutlicher: „Ägypten ist verbittert darüber, dass einige westliche Medien, die den Muslimbrüdern zuneigen, es versäumen, Licht auf deren gewalttätige und terroristische Akte zu werfen…“. Im Übrigen versagten einige Medien dabei, „die Ereignisse des 30. Juni“ – gemeint ist die Vorgeschichte des Putsches gegen die Mursi-Regierung – „als Ausdruck des populären Willens zu beschreiben“.

Auch werde unterschlagen, dass die Muslimbrüder Unterstützung durch „Teile Al-Kaidas“ gesucht hätten, was auch immer das heißen mag.

Und so geht es noch eine ganze Weile weiter. Das Schreiben endet mit der höflichen Bitte, „akkurat“ und „neutral“ zu berichten.

Nun will ich nicht verhehlen, dass es möglicherweise Aspekte der ägyptischen Tragödie gibt, über die mehr und genauer berichtet werden sollte. (Was im Übrigen einfacher wäre, wenn Journalisten nicht festgenommen würden.) Ägypten ist ein komplexes Land; es besteht nicht nur aus Anhängern der Muslimbrüder und ihren Gegnern. Die Lager überlappen sich vielmehr, die Ägypter sind polarisiert wie lange nicht. Und es gibt in der Tat Unterstützer des Kurses, den das Militär eingeschlagen hat. Nicht jeder Beitrag oder Artikel geht darauf immer ein. Was allerdings vor allem daran liegt, dass in den vergangenen Tagen durch ein äußerst brutales Vorgehen der Sicherheitskräfte Hunderte Menschen ums Leben gekommen sind. Das steht derzeit im Vordergrund, und zwar aus journalistischer Sicht zu Recht.

Aber ich glaube, man tut dem SIS ohnehin kein Unrecht, wenn man behauptet: Besserer Journalismus ist nicht seine größte Sorge. Hier geht es eher darum, dass eine Junta sich als Opfer einer internationalen Medienverschwörung sieht: Journalisten als Akteure mit heimlicher Agenda! Und es geht darum, dass die Militärs nicht dabei beobachtet werden wollen, wie sie gegen die Muslimbrüder und andere Gruppen vorgehen. Journalisten stören da nur. Also bitte: Wer was wissen will, rufe beim Informationsministerium an. Darum hat man es ja!

Das Schreiben zeigt, wie die Schlinge der Meinungsfreiheit und der Pressefreiheit sich in Ägypten gerade ein weiteres Stück zuzieht. Und das ist schlimm.

Nach meinen Recherchen dürfte dieses Schreiben an die Pressestellen vieler ägyptischer Auslandsvertretungen gegangen sein, mit der Bitte, es jeweils an die Pressekontakte im Land zu verschicken. Ich könnte mir vorstellen, dass nicht alle Botschaftsmitarbeiter damit einverstanden sind, aber die Pressestellen sind nun mal dem SIS unterstellt.

Das Signal ist jedenfalls angekommen. Höflich im Ton, aber nicht schwer zu dechiffrieren.

 

Was die Terrorwarnungen (nicht) bedeuten

Es kommt nicht häufig vor, aber es kommt vor, dass sich Hinweise auf möglicherweise bevorstehende Terroranschläge derart verdichten, dass ein Land öffentlich Alarm schlägt. Im Herbst 2010, nach mehreren Anschlagsdrohungen Al-Kaidas, war es Deutschland, jetzt sind es die USA. 19 diplomatische Vertretungen in der islamischen Welt werden vorsorglich geschlossen. Zugleich betonen Politiker und Geheimdienstler in den Nachrichtensendungen, wie ernst die Warnungen zu nehmen seien.

Berichten seriöser US-Medien zufolge (eine aktuelle, gute Zusammenfassung findet sich zum Beispiel hier) hat vom US-Geheimdienst abgefangene Kommunikation zwischen Al-Kaida-Führern die Warnung ausgelöst. Sie hätten anscheinend eine mehr oder weniger bald bevorstehende Attacke auf amerikanische oder westliche Ziele diskutiert.

Andere Aspekte kommen hinzu:

  • Vor wenigen Tagen veröffentlichte Al-Kaida-Chef Aiman al-Sawahiri eine Ansprache, in der er zur Gewalt in Ägypten aufrief. Der verheerende Angriff auf das US-Konsulat in Bengasi im September vergangenen Jahres hatte sich kurz nach einer Sawahiri-Rede ereignet.
  • CNN zufolge ist der Chef der Al-Kaida-Filiale auf der Arabischen Halbinsel (Aqap), Naser al-Wuhayshi alias Abu Basir, von al-Sawahiri zu einer Art Nummer zwei im Terrornetzwerk befördert worden. Aqap hat bereits mehrfach versucht, im Westen zuzuschlagen. Die Gruppe verfügt definitiv über das dazu notwendige Wissen, und einige Geheimdienstanalysten befürchten offenbar, dass es eine Art Beglaubigungsanschlag aus Anlass von Wuhayshis Beförderung geben könnte.
  • Aqaps Chef-Bombenbauer al-Asiri soll zuletzt mehrere Schüler ausgebildet haben.
  • In den vergangenen Wochen sind in gleich mehreren Ländern etliche, vielleicht Hunderte Al-Kaida-Kämpfer entflohen.
  • Der Fastenmonat Ramadan nähert sich seinem Ende. Einige Dschihadisten erachten diese Zeit als besonders angemessen für den Märtyrertod.

Zusammen ergibt das eine bedrohliche Mischung. Aber es passt nicht alles zueinander. Das Bild ist diffuser, als man meinen könnte, wenn man die Presseberichterstattung studiert.

So berichtete CBS zum Beispiel am Wochenende, es sei bekannt geworden, dass die Attentäter nunmehr ausgewählt worden seien; in anderen Medien hieß es übereinstimmend, das befürchtete Ausmaß der mutmaßlich geplanten Attacke bewege sich in den Dimensionen des 11. September 2001 oder doch zumindest des 2006 verhinderten Versuches, mehrere Transatlantikflüge gleichzeitig zum Absturz zu bringen.

Das ist schwierig miteinander in Einklang zu bringen. Aus der Planungsgeschichte von Terrorvorhaben dieser Größenordnung wissen wir zum Beispiel, dass die Attentäter Monate vorher ausgesucht wurden. Was hier wirklich stimmt, was Hörensagen ist und was Interpretation, bleibt einstweilen offen.

Zugleich gibt es in der Berichterstattung und in den Äußerungen von Geheimdienstlern und Politikern eine gewisse Verengung auf eine vermutete Aqap-Drahtzieherschaft. Die wäre zwar wahrscheinlich, denn Aqap ist zweifellos die schlagkräftigste Al-Kaida-Filiale. Das heißt aber keineswegs, dass nur Aqap infrage kommt.

Nehmen wir etwa die Kaida-Filiale in Nordafrika, Aqmi: Sie ist zwar zerstritten, verfügt aber über erfahrene Kader und ist finanziell gut ausgestattet. Und sie hat bereits vor Jahren gedroht, in Europa zuzuschlagen. Dass das bisher nicht geschehen ist, muss nicht bedeuten, dass sie es nicht kann.

Sogar Al-Kaidas Dependance im Irak und in Syrien (AQI) käme infrage. Ebenso weitere Gruppen, die gelegentlich mit Al-Kaida kooperieren. Es ergibt jedenfalls wenig Sinn, nur Gruppen als potenzielle Drahtzieher zu benennen, die bereits Anschläge im Westen geplant oder durchgeführt haben – irgendwann ist ja immer das erste Mal, Beispiel dafür sind etwa die pakistanischen Taliban (TTP), denen niemand internationale Ambitionen nachsagte, bevor sie 2010 eine Autobombe am New Yorker Times Square platzierten. Was ich damit sagen will: Das wahrscheinlichste Szenario ist nicht immer mit großem Abstand das wahrscheinlichste.

Dass die USA insbesondere ihre diplomatischen Vertretungen zu schützen versuchen, ist nachvollziehbar: Sie sind häufig Ziel von Anschlägen. Bengasi 2012 ist nur ein Beispiel, das eindringlichere sind die simultanen Bombenanschläge auf die Vertretungen in Nairobi und Daressalam 1998.

Ungewöhnliche Offenheit

Der Zusammenhang zu der aktuell aufgefangenen Kommunikation ist allerdings nicht ersichtlich, jedenfalls nicht auf der Grundlage bisher bekannt gewordener Informationen. Gut möglich, dass die USA an dieser Stelle vorsorglich handeln und gar nicht wissen, gegen welche Art von Ziel der mutmaßliche Anschlag sich richten soll.

Die Informationen halten die USA trotzdem für derart wichtig, dass sie damit an die Öffentlichkeit gegangen sind. Das ist ungewöhnlich, vor allem im Zusammenhang mit der Information, dass die Warnung auf abgefangener Al-Kaida-Korrespondenz beruht. Wenn Geheimdienste auch nur punktuell dazu in der Lage sind, behalten sie das normalerweise tunlichst für sich. Nichts ist einfacher für Al-Kaida und andere Gruppen, kompromittierte Kommunikationswege zu ändern.

Warum also dieses Ausmaß an Offenheit? Ich sehe drei mögliche Erklärungen: Entweder die Gefahr wird wirklich für außerordentlich ernst erachtet, oder der Kommunikationskanal ist bereits obsolet, oder es ist eine Panne.

Alles nur ein Bluff?

Einige werden einwenden, es gebe noch eine vierte Möglichkeit: Das ist alles nur ein Bluff, der Nutzen der NSA soll künstlich betont, vom Skandal um die massenhafte und umfassende Ausforschung von unverdächtigen Personen abgelenkt werden! Das ist ein verlockender Gedanke. Aber ich teile ihn nicht. Er missachtet, dass die NSA in den USA nicht einmal ansatzweise so heftig kritisiert wird wie derzeit in Deutschland. Sie hat es schlicht nicht nötig, sich zu rechtfertigen. Viel wichtiger in der öffentlichen Debatte ist in den USA nach wie vor der Angriff auf das Konsulat in Bengasi, bei dem der Botschafter und drei weitere Diplomaten starben.

Schließlich ein letzter Punkt: Wie werden die Terroristen auf die öffentlichen Warnungen reagieren? Eine naheliegende Vermutung wäre: Sie stellen ihre Planungen erst einmal ein. Und nehmen sie erst wieder auf, wenn sie das Gefühl haben, es wird weniger genau hingeschaut. Geduld, das betont Al-Kaida in ihren Schriften immer wieder, sei eine der vornehmsten Tugenden eines Gotteskriegers. Dieses Zusammenspiel könnte auf Folgendes hinauslaufen: Je klarer die Hinweise, desto deutlicher die Warnung – und desto unwahrscheinlicher ein Anschlag (zum vorhergesagten Zeitpunkt). Eine Art geheimdienstliche Unschärferelation mithin: Der beobachtete Gegenstand verändert sich durch die Beobachtung.

Zusammengefasst: Es gibt ernst zu nehmende Hinweise darauf, dass Al-Kaida derzeit an einem größeren Anschlagsplan gegen ein oder mehrere westliche Ziele arbeitet. Konkreteres ist bisher nicht bekannt. Man könnte jetzt natürlich sagen: Das wussten wir doch vorher schon! Aber ganz so lapidar ist es doch wieder nicht, wenn wirklich entsprechende Kommunikation mitgeschnitten wurde. Das würde Schutzmaßnahmen rechtfertigen, und, je nach Inhalt, den ich natürlich nicht kenne, vielleicht auch öffentliche Warnungen. Die bekannt gewordenen Informationsschnipsel sind jedoch bei genauerer Prüfung vor allem unspezifisch. Die Warnung besagt jedenfalls nicht, wie man derzeit beim Zeitunglesen denken könnte, dass Aqap US-Vertretungen im Nahen Osten angreifen will. Das kann der Fall sein. Aber im Grunde besagt sie bloß: Irgendjemand plant irgendetwas und glaubt, dabei irgendeine Art von Fortschritt erzielt zu haben.

Ob das ein Grund zur gesteigerten Beunruhigung ist, muss jeder selbst entscheiden.

 

Wie Al-Kaida in Syrien Kinder indoktriniert

Niemand soll meinen, die aus dem Ausland zum Kämpfen nach Syrien strömenden Dschihadisten seien nur im Land, um das Regime von Baschar al-Assad stürzen zu helfen. Es wird immer deutlicher, wie sehr insbesondere die mit Al-Kaidas Irak-Filiale verbündeten „Gotteskrieger“ der Dschbahat al-Nusra – sie treten gemeinsam unter dem Label Islamischer Staat im Irak und Syrien auf – längst daran gegangen sind, sich in Syrien festzusetzen. Und dort, wo sie es vermögen, ihre Gebietsgewinne auch dadurch abzusichern, dass sie die syrische Bevölkerung für sich zu gewinnen versuchen.

Ausländische Dschihadisten inszenieren sich in Syrien als Wohltäter. (Screenshot)
Ausländische Dschihadisten inszenieren sich in Syrien als Wohltäter. (Screenshot)

Ein aktueller Beleg dafür ist ein Propaganda-Video mit dem Titel Bericht über eine Werbeveranstaltung in Aleppo, das derzeit über die üblichen einschlägigen al-kaida-nahen Webseiten verbreitet wird. Darin zu sehen sind offenkundig nicht aus Syrien stammende Redner, die einer ziemlich großen Menschenmenge zunächst einmal klarzumachen versuchen, warum sie Helden sind: „Wir haben alles zurückgelassen, um hierher zu kommen, um den Muslimen zu helfen!“

Auf den Tischen vor den Männern stehen Getränke und Kekspackungen – in der islamischen Welt, also auch in Syrien, wird gerade der Fastenmonat Ramadan begangen, es scheint also, als ob die Terroristen zum Fastenbrechen am Abend eingeladen haben.

Sodann ist Unterhaltung angesagt: Jugendliche stimmen Kampfgesänge an, es geht darin zum Beispiel gegen die Hisbollah. Eine Art Moderator läuft aufgedreht zwischen den Menschen herum und fragt sie nach ihrer Meinung zum „Islamischen Staat in Irak und Syrien“.

Auch vor Kindern macht er dabei nicht halt. Ein kleines Mädchen versteht die Frage erst nicht so recht. Dann antwortet sie: „Das sind gute Leute, Gott schütze sie!“ Klar, für diese Antwort gibt es ein Lob.

Ein 13-jähriger Junge wird gefragt, was er werden wolle. Natürlich sagt er: „Mudschahid.“ Wer denn die Ungläubigen seien, will der Al-Kaida-Moderator wissen. „Baschar al-Assads Soldaten“, antwortet der Junge. Es klingt wie auswendig gelernt. Jedenfalls ist wohl auch dem Jungen klar, dass auf dieser Veranstaltung eine andere Auskunft nicht erwünscht ist.

Dschihadisten versuchen, Kinder für sich zu begeistern. (Screenshot)
Dschihadisten versuchen, Kinder für sich zu begeistern. (Screenshot)

Videos dieser Art häufen sich in letzter Zeit. Es gibt eines, das militante Dschihadisten beim öffentlichen Brotbacken und -verteilen zeigt. Ein weiteres (möglicherweise eine längere Version des oben beschriebenen Aleppo-Films) zeigt laut dem britischen Independent ein von Al-Kaida gesponsertes Eis-Wettessen zwischen zwei Jungs sowie einen Tauziehwettbewerb.

Die Filme erinnern an ähnliches Material aus Somalia, wo die Shabaab-Milizen vor ungefähr drei Jahren in vergleichbarer Weise versucht haben, die lokale Bevölkerung für sich einzunehmen. Das öffentliche Verteilen von Lebensmitteln während einer schweren Dürre half dem Image der Militanten zeitweise tatsächlich. Gleichzeitig freilich verhinderten die Shabaab damals, dass internationale Hilfsorganisationen in den am schwersten betroffenen Gebieten halfen. Das ist Zynismus, umgemünzt in Propaganda.

Bei Al-Kaidas Verbündeten in Syrien ist es nicht anders. Auch dort steht die zur Schau gestellte Kinderfreundlichkeit in Widerspruch zu anderen Informationen, etwa der berichteten (wenn wohl auch nicht unabhängig bestätigten) Hinrichtung eines 14-Jährigen, der anscheinend in den Augen der Extremisten den Propheten in unangemessener Art und Weise erwähnt hatte.

Ich kenne Syrien einigermaßen gut und war (vor dem Bürgerkrieg) oft in dem Land. Syrien ist eines der arabischen Länder, in denen militante Formen des Islamismus traditionell wenig verwurzelt sind. Es wäre eine Tragödie, wenn sich das – befeuert durch den Bürgerkrieg – ändern sollte. Diese Gefahr ist freilich in dem Maße gegeben, in dem es Al-Kaida und Co. gelingt, sich als Beschützer, Befreier oder Versorger zu inszenieren.