Helden und Hetzer, Experten und Verschwörungstheoretiker, Opfer – am Ende gar vermeintliche Täter: Der Anschlag von Boston und die Suche nach den beiden mutmaßlichen Terroristen hat auf Twitter das Beste und das Schlimmste zugleich hervorgebracht. Ein Erfahrungsbericht aus vier Tagen „Twitter-Gewitter“.
Ich bin müde, denn ich habe seit Montag nur wenig geschlafen. Ich war dafür sehr ausgiebig auf Twitter unterwegs. „Du twitterst so intensiv und spätnachts, da dachte ich, Du bist auf der Boylston Street (in Boston) unterwegs“, schreibt mir gerade ein ZEIT-Kollege aus den USA. Ich war die ganze Zeit in Berlin, nicht in Boston – und ich hoffe, dass ich nicht ernsthaft das Gefühl erweckt habe, ich sei vor Ort; das wäre anmaßend und schräg.
Aber Twitter ist auf seine ganz eigene Art durchaus ein Dabeisein-Medium. Wobei das „Dabei“ weniger einen tatsächlichen Ort beschreibt als vielmehr eine öffentliche Diskussion über einen realen Ort und ein echtes Geschehnis. Ich suche aus, wessen Mitteilungen über dieses Ereignis ich wahrnehmen will. Ich setze mich absichtsvoll einem ungefilterten Strom an wahren und falschen und halbwahren Informationen aus. Wenn man sich dieser Einschränkungen bewusst ist, kann Twitter ein grandioses Medium sein.
Freilich auch ein irritierendes. Ein skurriler Höhepunkt in den vier Tagen „Twitter-Gewitter“, in das ich mich wegen der Bostoner Anschläge begeben habe, fand am Freitagnachmittag statt, als plötzlich Nachrichten aus dem abgehörten Funkverkehr der Bostoner Polizei über Twitter liefen. Wenig später bat die Polizei, natürlich auf Twitter, das zu unterlassen. Denn es bestand die Sorge, dass der Flüchtige via Twitter Wissen über Polizeipläne erhalten könnte.
Mehr Echtzeit geht nicht. In Twitter steckt echtes Potenzial, im Schlechten wie auch im Guten. Bostoner Bürger haben Betroffenen nach den Explosionen am Montag nicht zuletzt über Twitter Hilfe und Unterkunft angeboten.
Twitter ist kein Journalismus-Ersatz. Die meisten Twitterer plappern einfach vor sich hin, so wie es Menschen in der analogen Welt auch tun: „Hast du schon gehört?“ – Was dann folgt, ist oft genug ein Gerücht, unvollständig, halbfalsch. Aber es kann in Sekundenfrist tausendfach verbreitet werden und mit jeder Verbreitung echter wirken. Auch das geschah im Fall Boston, in übelster Weise. So galten in Teilen des Twitterversums über Stunden hinweg erst ein Saudi-Araber und dann ein indischer Student als Täter. Sie waren nicht einmal verdächtig. Kaum jemand entschuldigte sich für diese Falschmeldungen, und manche störten sich auch nicht daran, dass sie gefährlichen Blödsinn um die Welt geschickt hatten. Im Gegenteil. Sie wollten nur, dass andere es glaubten. Twitter ist wie jedes Medium auch ein Werkzeug von Hetzern, Rassisten, Terroristen.
Andererseits ist Twitter großartig, um auf dem Stand zu bleiben, wenn es um echten Journalismus geht. Es ist unmöglich, durch Googeln so schnell an so viele Links zu aktuellen Artikeln aus aller Welt zu kommen. Wer jedoch die Leute, denen er auf Twitter folgt, geschickt aussucht, hat seinen eigenen digitalen Schnipseldienst schnell zusammen. Lesen und bewerten muss jeder selber – aber es hilft zum Beispiel, wenn ein Experte, den man kennt und dem man traut, einen Link zu einem Text herumschickt und erkennen lässt, dass er ihn schon gelesen hat und für wichtig hält.
Wer stattdessen nur CNN geschaut hat (was ich stundenweise parallel getan habe) war oft schlechter und langsamer informiert. Und warum soll ich warten, bis ein Journalist anderswo eine Meldung aufbereitet und produziert und online gestellt hat, wenn ich der Bostoner Polizei, dem Polizeipräsidenten, dem zuständigen Staatsanwalt und dem FBI auf Twitter folgen kann, wo ich ihre Kommuniqués als Erster bekomme?
Und dann gibt es noch die hyperreale Seite an Twitter, die manchmal fast wieder irreal wirkt: Wenn ich auf Twitter lesen kann, wie Bostoner Einwohner beschreiben, was sie in dieser Sekunde sehen, wenn sie aus dem Fenster schauen. Wenn sie sogar noch die Fotos dazu schicken, aus einer Zone, zu der Journalisten keinen Zugang haben, weil sie abgeriegelt ist. Oder wenn, ein weiterer Höhepunkt und besonders gespenstisch, plötzlich der Twitter-Account des Flüchtigen entdeckt wird und seine eigenen Worte von vor einigen Tagen oder Wochen nachzulesen sind. Die dann wieder von Menschen kommentiert werden – unter ihnen solche, die ihn kannten. (Oder es behaupten – wie gesagt: Das Prüfen muss man schon selbst übernehmen!)
Twitter ist sehr unmittelbar und schnell. Doch das bedeutet nicht, dass man nicht auch an kluge Gedanken geraten kann. (Für Journalisten können natürlich auch die nicht klugen Gedanken interessant sein, weil sie trotzdem etwas aussagen.) Ich beschäftige mich seit Jahren mit Terrorismus und folge darum vielen Terrorexperten, die ich zu einem guten Teil auch aus der realen Welt kenne, von Konferenzen, aus Interviews und so weiter. Ich weiß, dass sie sich auch für den Anschlag interessieren und ich lege Wert auf das, was sie zu sagen haben (die Klügsten unter ihnen unterlassen freilich das freihändige Spekulieren, sie weisen stattdessen auf hilfreiche Ressourcen hin, die den Kontext erweitern). Auf Twitter habe ich eine Dauer-Konversation mit ihnen, ohne dass ich sie anrufen muss, einen nach dem anderen. Einer dieser Experten twitterte am dritten Tag die auf den ersten Blick erstaunliche Theorie, dass Twitter sogar helfen könne, den Nachrichtenzyklus zu entschleunigen.
Das wirkt verrückt. Andererseits: Einzelne TV-Sender berichteten zwischenzeitlich deutlich weniger besonnen als Twitterer. Eine interessante Frage: Fühlten sie sich von Twitter getrieben? Oder hätte Twitter ihnen helfen können, besser zu berichten? (Aber das ist eine andere Diskussion.)
Twitter hilft jedenfalls eher beim Informieren als beim Nachdenken. Es ist nicht logisch, nicht geordnet, nicht strukturiert. Twitter allein ist auch sicher keine gute Grundlage für die Beschreibung oder Deutung der realen Welt, und so nutze ich es auch nicht. Aber es ist nah, direkt, laut. Und interaktiv: Mini-Debatten inmitten eines großen, globalen Palavers. Ernsthaftes und Wichtiges und Nachdenkliches versteckt in einem unablässigen, oft auch redundanten Strom – das ich aber anders vielleicht gar nicht entdeckt hätte.
Twitter ist anstrengend. Ich mache jetzt eine Pause.