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Al-Kaidas Chef al-Sawahiri stellt neue Regeln auf

Seit gut zwei Jahren führt der ägyptische Arzt Aiman al-Sawahiri das Terrornetzwerk Al-Kaida an. Zum ersten Mal tritt er nun erkennbar aus dem Schatten seines Vorgängers Osama Bin Laden, der im Mai 2011 von US-Spezialeinheiten in Pakistan getötet worden war. Und zwar nicht mit einer Rede, sondern mit einer fünfseitigen (arabisches Original) beziehungsweise siebenseitigen Erklärung (englische Übersetzung, von Al-Kaida zur Verfügung gestellt) namens „Allgemeine Erläuterungen zur dschihadistischen Arbeit“. Al-Kaidas Medienabteilung Al-Sahab hat das Dokument vor einigen Tagen über einschlägige Internetseiten verbreitet; es liegt ZEIT ONLINE vor.

Das Papier ist sehr interessant – schon weil es in eine Kategorie von Kaida-Veröffentlichungen fällt, die in den vergangenen Jahren immer seltener geworden ist: jene nämlich, die sich nicht vornehmlich an „den Feind“ richtet und ihn einschüchtern soll, sondern stattdessen Anweisungen für die eigenen Anhänger enthält. Wörtlich sagt al-Sawahiri: „Wir rufen die Anführer aller Gruppen, die zur Gemeinschaft Al-Kaidas zählen, sowie unsere Unterstützer und Sympathisanten dazu auf, diese Richtlinien unter ihren Mitgliedern zu verbreiten, gleich ob Anführer oder Individuen.“

Diese Richtlinien beginnen recht unspektakulär mit einer Art Präambel: Al-Kaida agiere erstens militärisch und zweitens durch Propaganda; militärische Akte seien vornehmlich gegen „das Haupt des Unglaubens“, also die USA sowie deren Alliierten Israel gerichtet, ferner gegen „die lokalen Verbündeten, die unsere Länder regieren“. Zweck und Ziel aller Angriffe auf die USA sei es, das Land „auszubluten“, auf dass es der verbliebenen Supermacht so ergehe wie einst der Sowjetunion. Danach – das ist die dschihadistische Variante der Domino-Theorie des Kalten Krieges – würden dann alle US-Alliierten „einer nach dem anderen“ ebenfalls stürzen.

Es folgt eine wenig überzeugende Lesart des Arabische Frühlings: Dieser sei ein von den USA (!) geschaffenes Ventil für die Unzufriedenheit der Menschen in diesen Ländern, habe sich nun aber zum Nachteil der USA weiterentwickelt. Wahrscheinlich verbreitet al-Sawahiri diese Deutung, weil er sonst eingestehen müsste, dass es nicht etwa, wie stets von Al-Kaida propagiert, Dschihadisten waren, die arabische Autokraten hinwegfegten, sondern eher liberal gesonnene Bürgerinnen und Bürger.

„Denn unser Kampf ist lang“

Dann aber wird es interessant. Denn nun schlägt al-Sawahiri eine Brücke zwischen „Propaganda“ und „Operationen“: Den Muslimen weltweit müsse klargemacht werden, dass die „Mudschahedin“ die Speerspitze des Widerstands gegen die neuen „Kreuzzügler gegen den Islam“ seien. Jegliche militärische Tätigkeit Al-Kaidas, so der oberste Anführer sinngemäß, müsse entsprechend legitimierbar sein: als Akt der Verteidigung, nicht etwa der Aggression.

Diese Denkfigur hat bei Al-Kaida zwar schon immer große Bedeutung gehabt. Osama Bin Laden versuchte mit ihrer Hilfe, 9/11 zu legitimieren: Die Anschläge von New York und Washington seien ja lediglich eine Schlacht in einem immerwährenden Krieg, ein Gegenschlag, eine Reaktion der Attackierten, Vergeltung und nicht etwa eine Kriegserklärung.

Aber in den vergangenen Jahren ist Al-Kaida anders aufgetreten, und al-Sawahiri hat offensichtlich beschlossen, Konsequenzen daraus zu ziehen, dass sein Terrornetzwerk über sehr wenig öffentliche Unterstützung in der islamischen Welt verfügt, weil es zunehmend als blutrünstig, brutal und unterschiedslos mörderisch in Erscheinung getreten ist.

Entsprechend befiehlt al-Sawahiri Zurückhaltung: „Es sollte vermieden werden, in einen bewaffneten Konflikt (mit den lokalen Herrschern) einzutreten. Wenn wir gezwungen sind zu kämpfen, müssen wir klarmachen, dass unser Kampf gegen sie ein Teil unseres Widerstandes gegen den kreuzzüglerischen Angriff auf die Muslime ist.“ Al-Sawahiri will also vermeiden, dass Al-Kaida wirkt, als übe sie Gewalt (zumal in der muslimischen Welt) zum Zwecke der Gewalt aus. Er geht sogar noch weiter. Wo möglich, solle man Konflikte sogar befrieden, sollte danach eine Situation entstehen, in der „die Brüder“ Freiraum zur Ausübung von Propaganda und Rekrutierung hätten: „Denn unser Kampf ist lang, und der Dschihad braucht sichere Basen …“

Keine Angriffe auf Christen oder Schiiten mehr!

Noch weitreichender: Al-Sawahiri fordert die Kader auf, Angriffe auf „abweichende“ islamische „Sekten“ wie Schiiten oder Sufis zu unterlassen. „Selbst falls sie Sunniten angreifen, muss unsere Reaktion beschränkt bleiben und darf nur jenen gelten, die uns auch angegriffen haben.“ Auch von Christen, Hindus und Sikh, die in muslimischen Ländern leben, sollen die Mudschahedin ablassen, sondern diesen stattdessen erklären, dass Al-Kaida mit ihnen friedlich gemeinsam in einem islamischen Staat leben möchte.

Ansonsten gelte es, Zivilisten (insbesondere muslimische) zu schonen, also keine Angriffe auf Moscheen, Märkte oder andere Orte, wo sich gewöhnliche Muslime aufhalten könnten. Ferner: Hände weg von islamischen Gelehrten (auch wenn sie gegen Al-Kaida sind) sowie von Frauen und Kindern.

Was will al-Sawahiri mit diesem Papier erreichen? Zunächst einmal: Es schwingt in dem Dokument eine Kritik nach, die der Ägypter auf dem Höhepunkt des irakischen Bürgerkrieges an den seinerzeitigen Kaida-Statthalter dort gerichtet hatte, dass dieser sich nämlich mit seiner überbordenden Blutrünstigkeit zurückhalten solle, weil das die lokalen Unterstützer verprelle, auf die Al-Kaida angewiesen sei. Al-Sawahiri sieht Al-Kaida eben gar nicht in erster Linie als Terrororganisation, sondern als Bewegung – und als solche müssen ihre Taten vermittelbar und in sich schlüssig sein, und sollten sich außerdem besser nicht unterschiedslos gegen Zivilisten richten.

Zum zweiten: Al-Sawahiri ist mit Leib und Seele Ägypter, man darf getrost davon ausgehen, dass es stets die Lage in seinem Heimatland ist, die ihn am meisten umtreibt. Und unter diesem Aspekt ergibt sein Richtlinien-Papier noch einmal besonderen Sinn. In Ägypten nämlich, wo das Militär den von den Muslimbrüdern gestellten Präsidenten abgesetzt hat, stehen die radikalen Ränder der Muslimbrüder gerade vor der Frage, wie sie auf diesen Putsch reagieren sollen. Al-Sawahiri will jene einfangen, die mit den vormaligen, eher zivilen Taktiken und Methoden der Brüder nichts mehr anfangen können, denen Al-Kaida aber zu mörderisch erscheint. Eine geschminkte, politischere, von Regeln der Kriegsführung bestimmte Al-Kaida könnte aber als Auffangbecken für junge, radikalisierte Muslimbrüder interessant sein.

Al-Sawahiri will ideologische Reinheit

Al-Sawahiri spricht niemandem, der kämpfen will, ob in Syrien oder gegen das chinesische Regime, das Recht dazu ab; er verlangt lediglich die Einhaltung gewisser Regeln und die ständige Rückführung der Aktivitäten auf die große Al-Kaida-Erzählung vom Angriff der Kreuzfahrer auf die islamische Welt. Im Grunde handelt es sich um den Versuch, eine gewisse ideologische Reinheit wiederherzustellen, die zuletzt kaum mehr erkennbar war.

Die Anhänger Al-Kaidas reagieren freundlich auf die neuen Maßgaben; alles, was Al-Kaida als wichtigen Faktor mit einhelliger Botschaft erscheinen lässt, ist ihnen recht. Zumal al-Sawahiri ihnen weder den Krieg noch den Terror verbietet – im Gegenteil: Angriffe auf US-Bürger und Israelis erklärt der Al-Kaida-Chef für stets zulässig und gewünscht.

Eine andere Frage ist, ob jene Kämpfer im Namen Al-Kaidas, die besonders mörderisch vorgehen, sich an die Regeln halten wollen oder werden – also jene, die im Irak gegen Schiiten wüten oder in Syrien zum Beispiel Christen niedermetzeln, nur weil sie Christen sind. Die Chancen stehen freilich nicht so gut; schon al-Sarkawi reagierte seinerzeit nicht auf al-Sawahiris Kritik.

Für Kaida-Anhänger ist die Botschaft aus der Zentrale dennoch wichtig: Al-Sawahiri gilt bislang als eher blasser Nachfolger Bin Ladens mit wenig Anstößen, gar keinem Charisma und schwachen Antworten. Jetzt hat er erstmals eine Art Programm vorgelegt. Es könnte sein, dass die Erklärung seine Position festigt.

 

Deutscher Dschihadist und Ex-Rapper meldet sich aus Syrien

Screenshot aus dem Video von "Abu Talha al-Almani" alias Denis Cuspert
Screenshot aus dem Video von „Abu Talha al-Almani“ alias Denis Cuspert

Ich hab‘ es nicht so mit Apokalypse-Blockbustern, aber wenn mich nicht alles täuscht, dann sind es vor allem Bilder aus dem Hollywood-Film 2012, mit denen der Mann, der sich „Abu Talha al-Almani“ nennt, sein neuestes Kampflied unterlegt hat. Brücken stürzen ein, Züge fliegen durch die Luft, Hochhausschluchten explodieren, und „Abu Talha“ näselt dazu: „Hörst du nicht, was die Engel sagen?“

„Abu Talha“, das muss man dabei natürlich wissen, ist der gebürtige Berliner und Ex-Gangsta-Rapper Denis Cuspert alias Deso Dogg und nun, nach seiner Verwandlung in einen militanten Islamisten, eben alias „Abu Talha al-Almani“. Cuspert ist seit Jahren in einschlägigsten radikalen Kreisen unterwegs, seit einiger Zeit hält er sich, das ist bereits bekannt, in Syrien auf. Mutmaßlich, um dort am Bürgerkrieg an der Seite dschihadistischer Kämpfer mitzuwirken.

Vor Kurzem veröffentlichte er bereits ein kurzes Video aus Syrien, wo er an einem Wasserfall stand und erklärte, wie glücklich er sei. In dem nun veröffentlichten 11-Minuten-Video grüßt er „vom Boden der Ehre“ – das ist Dschihadistensprech für „vom Schlachtfeld“.

Warnung vor der Höllenstrafe für alle Ungläubigen

Cuspert stammt aus dem Umfeld des österreichischen Hasspredigers Mohammed Mahmoud, der in Österreich eine Haftstrafe wegen Terrorismus absaß, zuvor die Kaida-nahe Globale Islamische Medienfront gegründet hatte und danach den mittlerweile in Deutschland verbotenen Verein Millatu Ibrahim. Im April 2012 wurde seine Ausweisung aus Deutschland verfügt, der er mit einer Ausreise nach Ägypten zuvorkam. Etliche Gesinnungsgenossen, darunter Cuspert, schlossen sich ihm an. Von Ägypten aus versuchten einige von ihnen zeitweise offenbar, nach Mali und/oder Libyen zu reisen. Mahmoud selbst wurde vor einigen Monaten an der türkisch-syrischen Grenze verhaftet und sitzt seitdem in der Türkei im Gefängnis, angeblich unter recht kommoden Umständen.

Es wird vermutet, dass Mahmoud nach Syrien einreisen wollte – etwas, das Cuspert augenscheinlich gelang. In dem Video schreibt Cuspert im Untertitel, es grüßten „Eure Geschwister von Millatu Ibrahi“, ein Hinweis darauf, dass er nicht allein dort ist, sondern vermutlich in Gesellschaft anderer Dschihadisten aus Deutschland.

Welcher Gruppe sie sich dort angeschlossen haben, ist einstweilen ungewiss. Auch ob sie tatsächlich kämpfen, ist nicht bekannt. Der Song, den Cuspert veröffentlicht hat, ist in dieser Hinsicht (und musikalisch, würde ich mal sagen) wenig bedeutsam. In dem religiös inspirierten Lied, einem sogenannten Nascheed, warnt er lediglich vor der Höllenstrafe für alle Ungläubigen. Am Ende bekennt er, der Film Nach dem Tod habe ihn inspiriert. Vielleicht kennt jemand diesen Film, ich habe ihn auf die Schnelle nicht eindeutig identifizieren können.

Deutsche Szene radikaler Islamisten als Adressat

Cuspert gehört zu jener Kategorie deutscher Syrien-Kämpfern, die den Sicherheitsbehörden Sorgen bereiten. Das Umfeld von Mahmoud ist extrem radikal, drohte mehrfach auch mit Terror. Dass es ihnen nicht allein um den Sturz des syrischen Regimes geht, liegt auf der Hand. In diesem Zusammenhang sind Propaganda-Videos, wie das nun veröffentlichte, dann auch doch nicht völlig belanglos. Cuspert hat durchaus Anhänger und einen Ruf in der hiesigen Szene radikaler Islamisten.

Der gesamte Vorgang erinnert an die Jahre 2009 und 2010, als plötzlich ähnliche (na ja, professionellere und wortlastigere, aber nicht unähnliche) Videos deutscher Dschihadisten aus Wasiristan im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet auftauchten. Dafür zeichnen sich bis heute vor allem die beiden Brüder Yassin und Munir C. aus Bonn verantwortlich, die sich der Islamischen Bewegung Usbekistans angeschlossen haben und unter anderem zum Mord an Mitgliedern islamfeindlicher Parteien in Deutschland aufriefen.

Deshalb glaube ich auch, dass „Abu Talha“ künftig noch mehr Videos veröffentlichen wird. Außer natürlich, die Situation auf dem Schlachtfeld lässt das nicht zu. Wir werden sehen.

Anmerkung: Ursprünglich hatte ich das Wort Nasheed mit ‚Kampflied‘ übersetzt; nach dem zutreffenden Leserhinweis, dass es sich bei Anasheed (so der Plural) keineswegs nur um Lieder über den Kampf handelt, habe ich die Stelle entsprechend geändert. Wichtig ist: Anasheed werden stets ohne Instrumente (einige halten allerdings Handtrommeln für akzeptabel) gesungen und kreisen um religiöse Themen. In dschihadistischen Anasheed geht es hingegen bervorzugt um den Kampf, den Krieg und das Märtyrertum.

 

Die perfide Rhetorik von Pro Deutschland

Heute Vormittag war ich bei einer Kundgebung im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf. Dort hat die Bürgerbewegung Pro Deutschland gegen das neu eröffnete Flüchtlingswohnheim agitiert. Die gute Nachricht ist, dass neben den vier Rednern nur sechs oder sieben Zuhörer gekommen waren. Auf der anderen Straßenseite fand außerdem eine Gegendemonstration mit schätzungsweise 60 bis 70 Teilnehmern statt.

Trotzdem war die Kundgebung bedrückend – vor allem wegen ihrer Empathielosigkeit. In der Flüchtlingsunterkunft sollen unter anderem Syrer untergebracht werden, die aus einem brutalen Bürgerkrieg geflohen sind. Und was fällt dem Berliner Landesvorsitzenden von Pro Deutschland, Lars Seidensticker, dazu ein? Er wolle keine „Deserteure“ im Land. Wörtlich: „Wir wollen keine Fahnenflüchtigen, die eisessenderweise auf dem Ku’damm spazieren“, während in Syrien gekämpft werde. Er nannte die Flüchtlinge auch „Vaterlandsverräter“, die ihr Land und ihre Familien im Stich gelassen hätten.

Ich wünsche niemanden, je einen Bürgerkrieg miterleben zu müssen, auch nicht Lars Seidensticker. Aber ich würde mir wünschen, er hätte einmal mit syrischen Flüchtlingen gesprochen. Ich habe das getan, an der türkischen Grenze, an der jordanischen Grenze, auch in Deutschland. Massenvergewaltigungen, Folter, Hinrichtungen, willkürliche Erschießungen, Luftangriffe auf Zivilisten, Scharfschützen in den Städten: Fast alle haben das eine oder das andere oder alles davon erlitten oder bezeugt. Lars Seidensticker würde in so einer Situation natürlich nicht fliehen, sondern mutig zur Waffe greifen, nehme ich an.

Pro Deutschland nimmt für sich in Anspruch, nicht rechtsextrem zu sein. Es gab schon gerichtliche Auseinandersetzungen zu dieser Frage, ich will sie hier gar nicht behandeln. Nur so viel: Eine derart perfide, jeder Anteilnahme unfähige Rhetorik spricht für sich.

 

Ägypten und die Medien: Die Schlinge zieht sich zu

Die Lage ist dramatisch in Ägypten – vor allem für die Ägypter selbst, aber zunehmend gilt die Sorge auch der Arbeit der lokalen und ausländischen Journalisten. Berichte über Festnahmen häufen sich, manchmal für die Dauer von ein paar Stunden, manchmal offenbar auch bis auf Weiteres. Kollegen berichten von Drohungen durch Sicherheitskräfte und Armee. Und angeblich sollen erste Journalisten mit dubiosen Vorwürfen wie Aufstachelung zum Mord oder Unterstützung des Terrorismus belegt werden. Man kennt so etwas aus autoritären oder diktatorischen Regimen. Auch die ägyptische Junta scheint mit abweichenden Meinungen nicht souverän umgehen zu können.

Das spürt man sogar bis nach Deutschland. So erreichte mich (und vermutlich etliche weitere Kolleginnen und Kollegen) am Samstag, von der E-Mail-Adresse der Pressestelle der ägyptischen Botschaft in Berlin aus versendet, ein langes englischsprachiges Dokument des State Information Service direkt aus Kairo. Der SIS ist das dortige Informationsministerium.

In dieser E-Mail berichtet der SIS, er habe feststellen müssen, dass „die Berichterstattung in einigen Medien sich von den Prinzipien der Objektivität und Neutralität, so wie sie international üblich sind, entfernt hat, und zwar nach Maßgabe einer bestimmten politischen Agenda“. Die Folge sei „ein verzerrtes Bild“.

Für alle, die den Subtext nicht gleich kapieren, wird es im Folgenden deutlicher: „Ägypten ist verbittert darüber, dass einige westliche Medien, die den Muslimbrüdern zuneigen, es versäumen, Licht auf deren gewalttätige und terroristische Akte zu werfen…“. Im Übrigen versagten einige Medien dabei, „die Ereignisse des 30. Juni“ – gemeint ist die Vorgeschichte des Putsches gegen die Mursi-Regierung – „als Ausdruck des populären Willens zu beschreiben“.

Auch werde unterschlagen, dass die Muslimbrüder Unterstützung durch „Teile Al-Kaidas“ gesucht hätten, was auch immer das heißen mag.

Und so geht es noch eine ganze Weile weiter. Das Schreiben endet mit der höflichen Bitte, „akkurat“ und „neutral“ zu berichten.

Nun will ich nicht verhehlen, dass es möglicherweise Aspekte der ägyptischen Tragödie gibt, über die mehr und genauer berichtet werden sollte. (Was im Übrigen einfacher wäre, wenn Journalisten nicht festgenommen würden.) Ägypten ist ein komplexes Land; es besteht nicht nur aus Anhängern der Muslimbrüder und ihren Gegnern. Die Lager überlappen sich vielmehr, die Ägypter sind polarisiert wie lange nicht. Und es gibt in der Tat Unterstützer des Kurses, den das Militär eingeschlagen hat. Nicht jeder Beitrag oder Artikel geht darauf immer ein. Was allerdings vor allem daran liegt, dass in den vergangenen Tagen durch ein äußerst brutales Vorgehen der Sicherheitskräfte Hunderte Menschen ums Leben gekommen sind. Das steht derzeit im Vordergrund, und zwar aus journalistischer Sicht zu Recht.

Aber ich glaube, man tut dem SIS ohnehin kein Unrecht, wenn man behauptet: Besserer Journalismus ist nicht seine größte Sorge. Hier geht es eher darum, dass eine Junta sich als Opfer einer internationalen Medienverschwörung sieht: Journalisten als Akteure mit heimlicher Agenda! Und es geht darum, dass die Militärs nicht dabei beobachtet werden wollen, wie sie gegen die Muslimbrüder und andere Gruppen vorgehen. Journalisten stören da nur. Also bitte: Wer was wissen will, rufe beim Informationsministerium an. Darum hat man es ja!

Das Schreiben zeigt, wie die Schlinge der Meinungsfreiheit und der Pressefreiheit sich in Ägypten gerade ein weiteres Stück zuzieht. Und das ist schlimm.

Nach meinen Recherchen dürfte dieses Schreiben an die Pressestellen vieler ägyptischer Auslandsvertretungen gegangen sein, mit der Bitte, es jeweils an die Pressekontakte im Land zu verschicken. Ich könnte mir vorstellen, dass nicht alle Botschaftsmitarbeiter damit einverstanden sind, aber die Pressestellen sind nun mal dem SIS unterstellt.

Das Signal ist jedenfalls angekommen. Höflich im Ton, aber nicht schwer zu dechiffrieren.

 

Was die Terrorwarnungen (nicht) bedeuten

Es kommt nicht häufig vor, aber es kommt vor, dass sich Hinweise auf möglicherweise bevorstehende Terroranschläge derart verdichten, dass ein Land öffentlich Alarm schlägt. Im Herbst 2010, nach mehreren Anschlagsdrohungen Al-Kaidas, war es Deutschland, jetzt sind es die USA. 19 diplomatische Vertretungen in der islamischen Welt werden vorsorglich geschlossen. Zugleich betonen Politiker und Geheimdienstler in den Nachrichtensendungen, wie ernst die Warnungen zu nehmen seien.

Berichten seriöser US-Medien zufolge (eine aktuelle, gute Zusammenfassung findet sich zum Beispiel hier) hat vom US-Geheimdienst abgefangene Kommunikation zwischen Al-Kaida-Führern die Warnung ausgelöst. Sie hätten anscheinend eine mehr oder weniger bald bevorstehende Attacke auf amerikanische oder westliche Ziele diskutiert.

Andere Aspekte kommen hinzu:

  • Vor wenigen Tagen veröffentlichte Al-Kaida-Chef Aiman al-Sawahiri eine Ansprache, in der er zur Gewalt in Ägypten aufrief. Der verheerende Angriff auf das US-Konsulat in Bengasi im September vergangenen Jahres hatte sich kurz nach einer Sawahiri-Rede ereignet.
  • CNN zufolge ist der Chef der Al-Kaida-Filiale auf der Arabischen Halbinsel (Aqap), Naser al-Wuhayshi alias Abu Basir, von al-Sawahiri zu einer Art Nummer zwei im Terrornetzwerk befördert worden. Aqap hat bereits mehrfach versucht, im Westen zuzuschlagen. Die Gruppe verfügt definitiv über das dazu notwendige Wissen, und einige Geheimdienstanalysten befürchten offenbar, dass es eine Art Beglaubigungsanschlag aus Anlass von Wuhayshis Beförderung geben könnte.
  • Aqaps Chef-Bombenbauer al-Asiri soll zuletzt mehrere Schüler ausgebildet haben.
  • In den vergangenen Wochen sind in gleich mehreren Ländern etliche, vielleicht Hunderte Al-Kaida-Kämpfer entflohen.
  • Der Fastenmonat Ramadan nähert sich seinem Ende. Einige Dschihadisten erachten diese Zeit als besonders angemessen für den Märtyrertod.

Zusammen ergibt das eine bedrohliche Mischung. Aber es passt nicht alles zueinander. Das Bild ist diffuser, als man meinen könnte, wenn man die Presseberichterstattung studiert.

So berichtete CBS zum Beispiel am Wochenende, es sei bekannt geworden, dass die Attentäter nunmehr ausgewählt worden seien; in anderen Medien hieß es übereinstimmend, das befürchtete Ausmaß der mutmaßlich geplanten Attacke bewege sich in den Dimensionen des 11. September 2001 oder doch zumindest des 2006 verhinderten Versuches, mehrere Transatlantikflüge gleichzeitig zum Absturz zu bringen.

Das ist schwierig miteinander in Einklang zu bringen. Aus der Planungsgeschichte von Terrorvorhaben dieser Größenordnung wissen wir zum Beispiel, dass die Attentäter Monate vorher ausgesucht wurden. Was hier wirklich stimmt, was Hörensagen ist und was Interpretation, bleibt einstweilen offen.

Zugleich gibt es in der Berichterstattung und in den Äußerungen von Geheimdienstlern und Politikern eine gewisse Verengung auf eine vermutete Aqap-Drahtzieherschaft. Die wäre zwar wahrscheinlich, denn Aqap ist zweifellos die schlagkräftigste Al-Kaida-Filiale. Das heißt aber keineswegs, dass nur Aqap infrage kommt.

Nehmen wir etwa die Kaida-Filiale in Nordafrika, Aqmi: Sie ist zwar zerstritten, verfügt aber über erfahrene Kader und ist finanziell gut ausgestattet. Und sie hat bereits vor Jahren gedroht, in Europa zuzuschlagen. Dass das bisher nicht geschehen ist, muss nicht bedeuten, dass sie es nicht kann.

Sogar Al-Kaidas Dependance im Irak und in Syrien (AQI) käme infrage. Ebenso weitere Gruppen, die gelegentlich mit Al-Kaida kooperieren. Es ergibt jedenfalls wenig Sinn, nur Gruppen als potenzielle Drahtzieher zu benennen, die bereits Anschläge im Westen geplant oder durchgeführt haben – irgendwann ist ja immer das erste Mal, Beispiel dafür sind etwa die pakistanischen Taliban (TTP), denen niemand internationale Ambitionen nachsagte, bevor sie 2010 eine Autobombe am New Yorker Times Square platzierten. Was ich damit sagen will: Das wahrscheinlichste Szenario ist nicht immer mit großem Abstand das wahrscheinlichste.

Dass die USA insbesondere ihre diplomatischen Vertretungen zu schützen versuchen, ist nachvollziehbar: Sie sind häufig Ziel von Anschlägen. Bengasi 2012 ist nur ein Beispiel, das eindringlichere sind die simultanen Bombenanschläge auf die Vertretungen in Nairobi und Daressalam 1998.

Ungewöhnliche Offenheit

Der Zusammenhang zu der aktuell aufgefangenen Kommunikation ist allerdings nicht ersichtlich, jedenfalls nicht auf der Grundlage bisher bekannt gewordener Informationen. Gut möglich, dass die USA an dieser Stelle vorsorglich handeln und gar nicht wissen, gegen welche Art von Ziel der mutmaßliche Anschlag sich richten soll.

Die Informationen halten die USA trotzdem für derart wichtig, dass sie damit an die Öffentlichkeit gegangen sind. Das ist ungewöhnlich, vor allem im Zusammenhang mit der Information, dass die Warnung auf abgefangener Al-Kaida-Korrespondenz beruht. Wenn Geheimdienste auch nur punktuell dazu in der Lage sind, behalten sie das normalerweise tunlichst für sich. Nichts ist einfacher für Al-Kaida und andere Gruppen, kompromittierte Kommunikationswege zu ändern.

Warum also dieses Ausmaß an Offenheit? Ich sehe drei mögliche Erklärungen: Entweder die Gefahr wird wirklich für außerordentlich ernst erachtet, oder der Kommunikationskanal ist bereits obsolet, oder es ist eine Panne.

Alles nur ein Bluff?

Einige werden einwenden, es gebe noch eine vierte Möglichkeit: Das ist alles nur ein Bluff, der Nutzen der NSA soll künstlich betont, vom Skandal um die massenhafte und umfassende Ausforschung von unverdächtigen Personen abgelenkt werden! Das ist ein verlockender Gedanke. Aber ich teile ihn nicht. Er missachtet, dass die NSA in den USA nicht einmal ansatzweise so heftig kritisiert wird wie derzeit in Deutschland. Sie hat es schlicht nicht nötig, sich zu rechtfertigen. Viel wichtiger in der öffentlichen Debatte ist in den USA nach wie vor der Angriff auf das Konsulat in Bengasi, bei dem der Botschafter und drei weitere Diplomaten starben.

Schließlich ein letzter Punkt: Wie werden die Terroristen auf die öffentlichen Warnungen reagieren? Eine naheliegende Vermutung wäre: Sie stellen ihre Planungen erst einmal ein. Und nehmen sie erst wieder auf, wenn sie das Gefühl haben, es wird weniger genau hingeschaut. Geduld, das betont Al-Kaida in ihren Schriften immer wieder, sei eine der vornehmsten Tugenden eines Gotteskriegers. Dieses Zusammenspiel könnte auf Folgendes hinauslaufen: Je klarer die Hinweise, desto deutlicher die Warnung – und desto unwahrscheinlicher ein Anschlag (zum vorhergesagten Zeitpunkt). Eine Art geheimdienstliche Unschärferelation mithin: Der beobachtete Gegenstand verändert sich durch die Beobachtung.

Zusammengefasst: Es gibt ernst zu nehmende Hinweise darauf, dass Al-Kaida derzeit an einem größeren Anschlagsplan gegen ein oder mehrere westliche Ziele arbeitet. Konkreteres ist bisher nicht bekannt. Man könnte jetzt natürlich sagen: Das wussten wir doch vorher schon! Aber ganz so lapidar ist es doch wieder nicht, wenn wirklich entsprechende Kommunikation mitgeschnitten wurde. Das würde Schutzmaßnahmen rechtfertigen, und, je nach Inhalt, den ich natürlich nicht kenne, vielleicht auch öffentliche Warnungen. Die bekannt gewordenen Informationsschnipsel sind jedoch bei genauerer Prüfung vor allem unspezifisch. Die Warnung besagt jedenfalls nicht, wie man derzeit beim Zeitunglesen denken könnte, dass Aqap US-Vertretungen im Nahen Osten angreifen will. Das kann der Fall sein. Aber im Grunde besagt sie bloß: Irgendjemand plant irgendetwas und glaubt, dabei irgendeine Art von Fortschritt erzielt zu haben.

Ob das ein Grund zur gesteigerten Beunruhigung ist, muss jeder selbst entscheiden.

 

Wie Al-Kaida in Syrien Kinder indoktriniert

Niemand soll meinen, die aus dem Ausland zum Kämpfen nach Syrien strömenden Dschihadisten seien nur im Land, um das Regime von Baschar al-Assad stürzen zu helfen. Es wird immer deutlicher, wie sehr insbesondere die mit Al-Kaidas Irak-Filiale verbündeten „Gotteskrieger“ der Dschbahat al-Nusra – sie treten gemeinsam unter dem Label Islamischer Staat im Irak und Syrien auf – längst daran gegangen sind, sich in Syrien festzusetzen. Und dort, wo sie es vermögen, ihre Gebietsgewinne auch dadurch abzusichern, dass sie die syrische Bevölkerung für sich zu gewinnen versuchen.

Ausländische Dschihadisten inszenieren sich in Syrien als Wohltäter. (Screenshot)
Ausländische Dschihadisten inszenieren sich in Syrien als Wohltäter. (Screenshot)

Ein aktueller Beleg dafür ist ein Propaganda-Video mit dem Titel Bericht über eine Werbeveranstaltung in Aleppo, das derzeit über die üblichen einschlägigen al-kaida-nahen Webseiten verbreitet wird. Darin zu sehen sind offenkundig nicht aus Syrien stammende Redner, die einer ziemlich großen Menschenmenge zunächst einmal klarzumachen versuchen, warum sie Helden sind: „Wir haben alles zurückgelassen, um hierher zu kommen, um den Muslimen zu helfen!“

Auf den Tischen vor den Männern stehen Getränke und Kekspackungen – in der islamischen Welt, also auch in Syrien, wird gerade der Fastenmonat Ramadan begangen, es scheint also, als ob die Terroristen zum Fastenbrechen am Abend eingeladen haben.

Sodann ist Unterhaltung angesagt: Jugendliche stimmen Kampfgesänge an, es geht darin zum Beispiel gegen die Hisbollah. Eine Art Moderator läuft aufgedreht zwischen den Menschen herum und fragt sie nach ihrer Meinung zum „Islamischen Staat in Irak und Syrien“.

Auch vor Kindern macht er dabei nicht halt. Ein kleines Mädchen versteht die Frage erst nicht so recht. Dann antwortet sie: „Das sind gute Leute, Gott schütze sie!“ Klar, für diese Antwort gibt es ein Lob.

Ein 13-jähriger Junge wird gefragt, was er werden wolle. Natürlich sagt er: „Mudschahid.“ Wer denn die Ungläubigen seien, will der Al-Kaida-Moderator wissen. „Baschar al-Assads Soldaten“, antwortet der Junge. Es klingt wie auswendig gelernt. Jedenfalls ist wohl auch dem Jungen klar, dass auf dieser Veranstaltung eine andere Auskunft nicht erwünscht ist.

Dschihadisten versuchen, Kinder für sich zu begeistern. (Screenshot)
Dschihadisten versuchen, Kinder für sich zu begeistern. (Screenshot)

Videos dieser Art häufen sich in letzter Zeit. Es gibt eines, das militante Dschihadisten beim öffentlichen Brotbacken und -verteilen zeigt. Ein weiteres (möglicherweise eine längere Version des oben beschriebenen Aleppo-Films) zeigt laut dem britischen Independent ein von Al-Kaida gesponsertes Eis-Wettessen zwischen zwei Jungs sowie einen Tauziehwettbewerb.

Die Filme erinnern an ähnliches Material aus Somalia, wo die Shabaab-Milizen vor ungefähr drei Jahren in vergleichbarer Weise versucht haben, die lokale Bevölkerung für sich einzunehmen. Das öffentliche Verteilen von Lebensmitteln während einer schweren Dürre half dem Image der Militanten zeitweise tatsächlich. Gleichzeitig freilich verhinderten die Shabaab damals, dass internationale Hilfsorganisationen in den am schwersten betroffenen Gebieten halfen. Das ist Zynismus, umgemünzt in Propaganda.

Bei Al-Kaidas Verbündeten in Syrien ist es nicht anders. Auch dort steht die zur Schau gestellte Kinderfreundlichkeit in Widerspruch zu anderen Informationen, etwa der berichteten (wenn wohl auch nicht unabhängig bestätigten) Hinrichtung eines 14-Jährigen, der anscheinend in den Augen der Extremisten den Propheten in unangemessener Art und Weise erwähnt hatte.

Ich kenne Syrien einigermaßen gut und war (vor dem Bürgerkrieg) oft in dem Land. Syrien ist eines der arabischen Länder, in denen militante Formen des Islamismus traditionell wenig verwurzelt sind. Es wäre eine Tragödie, wenn sich das – befeuert durch den Bürgerkrieg – ändern sollte. Diese Gefahr ist freilich in dem Maße gegeben, in dem es Al-Kaida und Co. gelingt, sich als Beschützer, Befreier oder Versorger zu inszenieren.

 

Al-Kaida prahlt mit Gefangenbefreiung in Abu Ghraib

Die irakische Al-Kaida-Filiale hat sich zu dem Angriff auf das Gefängnis von Abu Ghraib bekannt, bei dem Hunderte Kämpfer fliehen konnten.

Wie zu erwarten, hat sich am Dienstag die irakische Filiale des Terrornetzwerks Al-Kaida zu der gewaltsamen Befreiung Hunderter Häftlinge in dem irakischen Gefängnis von Abu Ghraib bekannt. Das Bekennerschreiben wurde auf einschlägig bekannten und seit Jahren von Al-Kaida genutzten arabischsprachigen Websites verbreitet. Fundort, Sprache, Form und Inhalt sprechen für seine Authentizität; die dort gemachten Angaben stimmen in weiten Teilen mit dem überein, was die irakischen Behörden bisher bekannt gegeben haben. Ob die in dem Kommuniqué erwähnten Details stimmen, lässt sich freilich nicht ohne Weiteres überprüfen. Es liegt ZEIT ONLINE vor.

In dem Bekennerschreiben prahlt Al-Kaida mit der Größe der „Operation“. So seien zwölf mit Sprengstoff gefüllte Fahrzeuge zum Einsatz gekommen; überdies hätten die Kämpfer zwei Zugangsstraßen komplett abgeriegelt und mit russischen Grad-Raketen Checkpoints der Armee attackiert. Über 500 „Mudschahedin“ seien befreit worden, die nun „nach dem Kampf auf dem Wege Gottes“ dürsteten.

Diese Zahl scheint zu stimmen. Die Washington Post berichtet, die Schätzungen von US-Beobachtern lägen in derselben Größenordnung. Darunter befände sich eine „bedeutende Anzahl Al-Kaida-Kämpfer“.

Dieser Umstand ist in der Tat alarmierend. Denn es steht zu erwarten, dass etliche der Befreiten sich auf den Weg nach Syrien machen werden, wo die irakische Al-Kaida-Filiale mit der dort den Ton angebenden Dschihadisten-Gruppe Jabhat al-Nusra eng verflochten ist.

Aber auch wenn die meisten im Irak bleiben sollten: Der Gefängnisausbruch bedeutet auf jeden Fall einen signifikanten Rückschritt in der Bekämpfung der irakischen Al-Kaida. Seit Monaten steigt die Zahl der dort verübten Anschläge wieder an. Die Massenbefreiung wird diesen Trend vermutlich verstärken.

 

Nummer 372 ist tot

Said al-Shihri, die Nummer Zwei der Al-Kaida-Filiale auf der Arabischen Halbinsel, ist durch eine US-Drohne getötet worden. Für die Terrorgruppe ist das ein schwerer Schlag.

Said al-Shihri, dessen Tod Al-Kaidas Filiale auf der Arabischen Halbinsel nunmehr und nach monatelangen Spekulationen offiziell bestätigt hat, war der prominenteste Vertreter einer ganz speziellen Untergruppe von Al-Kaida-Terroristen: Er war schon vor dem 11. September 2001 ein Dschihadist gewesen, war danach festgenommen worden und hatte mehrere Jahre im US-Gefangenenlager Guantánamo verbracht; als er 2007 von den USA in sein Heimatland Saudi-Arabien überstellt wurde, bestand die Hoffnung, dass er entweder dem bewaffneten Kampf abschwören würde, oder dass zumindest die saudischen Sicherheitsbehörden ihn im Blick behalten würden.

Beide Hoffnungen trogen: Als Al-Kaidas Filiale auf der Arabischen Halbinsel (sprich: in Saudi-Arabien und im Jemen) aus den Trümmern der dezimierten Dependence in Saudi-Arabien wiedererrichtet wurde, erlangte al-Shihri sehr bald eine Schlüsselstellung.

Dass sein Aufenthalt in GITMO, wie Guantánamo im Militärsprech heißt, dabei eine Rolle spielte, erklärte er selbst in einer Art Aufsatz in einem Online-Magazin Al-Kaidas im Jahr 2010: „Vor meiner Gefängniszeit dachte ich, es müsste auch in den Amerikanern wenigstens einen Bodensatz an Menschlichkeit geben… Aber nachdem ich direkt mir ihnen zu tun hatte, bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass die Menschheit sich schützen muss, indem sie die Amerikaner bekämpft, denn sie sind Feinde der Menschheit.“

Shihri, der in GITMO einst die Nummer 372 trug, gehörte ohne Zweifel zur Führungsspitze der Kaida-Filiale auf der Arabischen Halbinsel (AQAP). Er tauchte in Reden und Videos auf, er war mit Gewissheit an strategischen Entscheidungen beteiligt.

Sein Tod (der irrtümlich bereits mehrfach verkündet worden war) ist folglich ein Schlag für die Terroristen. Shihri war schon vor 9/11 ein Verbündeter Osama Bin Ladens; es gibt nicht mehr so viele aktive Kaida-Kader mit derartiger Vorgeschichte, die sich ja letztlich in soziale Währungen wie Einfluss, Erfahrung und Rekrutierungspotenzial übersetzen lässt.

Andererseits, und das ist der Hauptaspekt dieses Blog-Posts, halte ich wenig davon, nach einem solchen Ereignis einfach einen Namen von einer Liste zu streichen und dann zu sagen: Wieder einen Big Shot erwischt, Al-Kaida stirbt aus, keine Frage! Ich glaube, dass das deshalb wenig Sinn ergibt, weil wir zu wenig Einblick darin haben, welche möglicherweise mittlerweile entscheidenden Figuren in der Zwischenzeit wichtige Posten erklommen haben. Tatsächlich geht die Gleichung ganz anders: Jedes Mal, wenn einer derjenigen Terroristen ums Leben kommt, die „wir“ (Terrorexperten, Fachleute, informierte Öffentlichkeit, Nachrichtendienste) „kennen“ (in dem Sinn, dass wir etwas über sie wissen: ihre Vorgeschichte, Veröffentlichungen, etc.), ergibt sich in Wahrheit ein anderes Problem, nämlich dass der „devil that we know“ ziemlich sicher durch einen „devil that we do not know“ ersetzt wird.

Mit anderen Worten: Einer Sicherheit (Shihri = AQAP‘s Nummer Zwei) folgt eine Unsicherheit (AQAP hat eine neue Nummer Zwei, die wir nicht kennen, ODER AQAP hat keine neue Nummer Zwei), die uns jede Art der Einschätzung schwerer macht.

Dasselbe Phänomen gilt für die Zentrale Al-Kaidas. Fast alle entscheidenden Führer sind in denen vergangen vier bis fünf Jahren festgenommen oder getötet worden; einige Analysten schließen daraus, Al-Kaida sei so gut wie besiegt. Ich neige zu einer anderen Ansicht. Ich glaube: Wir wissen gar nicht mehr, was das bedeutet. Wir können nicht einschätzen, ob Al-Kaida in der Lage ist, diese Löcher zu schließen oder nicht. Wir wissen, wenn wir ehrlich sind, heute weniger über Al-Kaida als vor fünf Jahren.

Das klingt paradox. Aber ich habe das in den letzten Jahren ein paar Mal auf Terrorkonferenzen getestet. Indem ich zum Beispiel gefragt habe: Gibt es hier irgendjemanden, der in der Lage ist, mir Kurzporträts der zehn wichtigsten Al-Kaida-Führer von auch nur je zwanzig Zeilen Länge zu schreiben? Niemand kann das; und wer etwas anderes behauptet, macht sich wichtig. Genau das war vor sechs Jahren anders. Da waren Leute am Ruder, die „wir“ kannten.

Dieser Punkt ist mir wichtig. Sich mit einer Sache auszukennen, bedeutet nicht, alles zu wissen, sondern auch benennen zu können, wo die blinden Punkte liegen.

In diesem Sinne gilt: Der Tod von al-Shihri ist mit Gewissheit ein Verlust für AQAP, schon weil enorm viel Erfahrung und „institutional memory“ verloren gegangen ist. Aber wie schwer der Verlust wirklich ist, und ob AQAP ihn ausgleichen kann: Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich jedem misstraue, der darüber eine schnelle und angeblich eindeutige Antwort parat hat.

 

Terror auf Twitter

Was haben Al-Kaidas Filiale auf der Arabischen Halbinsel, die Kaida-nahe Terrorgruppe Jabhat al-Nusra in Syrien, die afghanischen Taliban und die somalischen Al-Shabaab-Miliz gemeinsam – abgesehen von ihrer grundlegenden Ideologie natürlich? Genau: Sie sind mittlerweile allesamt auf Twitter aktiv, zum Teil sogar mehrsprachig, etwa auf Arabisch und Englisch.

Das ist an sich keine Überraschung, denn Dschihadisten – und insbesondere Al-Kaida – sind schon immer sehr technologie-affin und propaganda-bewusst gewesen. Es gibt ein berühmtes Zitat von Osama Bin Laden aus den Neunzigern, als er erklärte, eine Atombombe sei weniger wichtig für die Organisation als eine Radiostation. Das Internet hat Al-Kaida bereits Ende der Neunziger entdeckt, es war also nur eine Frage der Zeit, bis auch auf Twitter entsprechende Accounts auftauchen würden. Seit Jahren haben Experten genau das denn auch vorhergesagt, und ich würde sagen: Seit etwa einem halben Jahr ist es tatsächlich umfassend Realität.

Die Al-Shabaab etwa twittern gelegentlich Anschläge in Echtzeit. (Wobei der Wahrheitsgehalt stets etwas unklar ist; es ist ja auch Propaganda.)

© Ravensburger Buchverlag
© twitter

Neben den Terrorgruppen twittert freilich auch eine große Zahl Privatpersonen mit dschihadistischen Überzeugungen – zum Beispiel Kämpfer live aus Syrien; aber natürlich auch sogenannte „Sofa-Dschihadis“ aus ihren Wohnzimmern.

Das Interessante daran finde ich nicht nur das Echtzeit-Element (siehe Beispiel oben), sondern auch die Risikobereitschaft der Twitterer. Denn sie dürften erheblich einfacher für Geheimdienste und Sicherheitsbehörden zu ermitteln sein als sie es zum Beispiel wären, wenn sie sich auch weiterhin vor allem in passwortgeschützten Diskussionsforen austauschten. Andererseits gibt es bisher nur sehr wenig Hinweise auf Menschen, die wegen dschihadistischer Propaganda auf Twitter Probleme bekamen, insofern mag meine Einschätzung falsch sein.

Zwei Terrorforscher, Nico Prucha und Ali Fisher, haben nun im Fachorgan CTC Sentinel eine kleine empirische Studie veröffentlicht. Die ist verdienstvoll, weil sie einige Zahlen liefert. So haben die beiden 76.000 Tweets analysiert und kommen zu dem Ergebnis, dass es ein Netzwerk von „Content-Sharern“ gibt, das aus mehr als 20.000 Twitter-Accounts besteht. Diese Zahl muss natürlich als vorläufig betrachtet werden, auch als naturgemäß ungenau – ein Account kann von mehreren Personen bespielt werden, genau wie umgekehrt eine Person mehrere Accounts befüllen mag. Die absolute Zahl von Dschihadisten auf Twitter ist vermutlich deutlich höher.

Aber es ist immerhin eine Größenordnung, die uns anzeigt, wie groß das Propaganda-Karussell auf Twitter derzeit in etwa ist.

Viele der Links führen übrigens zu YouTube-Konten, auf denen Videomaterial hinterlegt ist. Etliche zeigen Bilder, zum Beispiel vom Schlachtfeld, oder zur Verherrlichung gefallener Kämpfer.

Auch für die Verbreitung von dem, was für Dschihadisten relevante Neuigkeiten sind, hat Twitter eine gewisse Bedeutung erlangt. Der Goldstandard, wenn man die neueste Rede oder das aktuellste Videos einer Kaida-Größe finden wollte, waren bisher ein rundes halbes Dutzend Internetseiten, die Freiwillige in Kooperation mit Al-Kaida & Co betreiben, und wo das meiste authentische Material dieser Gruppen bereitgestellt wird. Jetzt tweeten Aktivisten neue Links zu neuen Videos, sobald diese erscheinen – der Nachrichtenzyklus wird beschleunigt.

Interessant ist überdies, dass Twitter einen weiteren Nebeneffekt hat: Terrorforscher und Journalisten zum Beispiel können sich an diese Twitterer recht einfach direkt wenden – und erhalten mitunter Antwort. Ganze Interviews, etwa mit Al-Shabaab-Aktivisten, sind auf dieses Weise bereits entstanden. Das ersetzt echte Recherche nicht, und es ist natürlich fast unmöglich, in einem Tweet Wahrheit und Lüge auseinanderzuhalten. Aber relevante Fitzelchen finden mitunter auf diese Weise durchaus ihren Weg an die Öffentlichkeit. (Andersherum können dschihadistische Twitterer etwa unliebsame Presseberichte von unliebsamen Journalisten ebenso öffentlich attackieren – und tun dies auch.)

Prucha und Fisher beschreiben das aktuelle Maß der Twitter-Nutzung durch Dschihadisten als einen Durchbruch. Das ist angemessen. Noch aber hat Twitter die Websites und Diskussionsforen nicht ersetzt, und ich glaube auch nicht, dass das so schnell passieren wird.

Aber im Auge behalten muss man diese Entwicklung.

 

Dieser Putsch wird al-Kaida stärken

Noch ist kein ganzer Tag seit dem De-facto-Putsch der ägyptischen Armee vergangen. Schon laufen erste Meldungen ein, laut denen Anhänger des abgesetzten Präsidenten Mohammed Mursi von den Muslimbrüdern gewaltsame Demonstrationen starten. Auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel sollen derweil mutmaßlich Al-Kaida-nahe Dschihadisten einen Anschlag auf ägyptische Sicherheitskräfte verübt haben.

Mit beidem musste gerechnet werden – als mehr oder weniger unmittelbare Reaktion auf Mursis erzwungenen Abgang. Aber es geht um mehr. Es geht nämlich auch um die Frage, was die aktuellen Entwicklungen für die Ideologie, Motivation und Propaganda von Al-Kaida bedeuten.

Al-Kaida und die Muslimbrüder teilen ideologische Wurzeln, aber sie sind keine Verbündeten. Im Gegenteil, sie stehen quasi sinnbildlich für die Spaltung der islamistischen Bewegung in einen (vornehmlich) politisch-aktivistischen Zweig auf der einen und einen militant-dschihadistischen auf der anderen Seite. Aber sie sind trotzdem kommunizierende Gefäße und beeinflussen einander.

Als der Arabische Frühling losbrach und Tunesier wie Ägypter ihre säkularen Despoten verjagten, bedeutet das für Al-Kaida einen ideologischen Rückschlag: Das Terrornetzwerk hatte stets behauptet, seine Anhänger würden es dereinst sein, denen die Massen auf die Straßen folgen würden, um die gottlosen Herrscher zu stürzen. Stattdessen gelang dies den liberalen, säkularen Kräften im Verbund mit dem Bürgertum.

In der zweiten Phase gewann Al-Kaida wieder an Boden – weil sich aufgrund der chaotischen Lage in den Revolte-Staaten neue Operationsmöglichkeiten ergaben. In Libyen bildeten sich Dschihadisten-Verbände, in Syrien mit Jabhat al-Nusra gar eine inoffizielle Al-Kaida-Filiale von erheblicher Schlagkraft; die Folgen wird der Nahe Osten auf Jahre hinaus in Form von Anschlägen zu spüren bekommen. Das glich den ideologischen Rückschlag zwar nicht ganz, aber zum Teil aus.

Der Coup in Ägypten aber verändert nun erneut die Gleichung. Denn die Muslimbrüder fühlen sich – und das ist nachvollziehbar – um die Macht gebracht: Schließlich war Mursi vor einem Jahr demokratisch gewählt worden. Das wird die Anhänger der Bewegung frustrieren, und nicht wenige radikalisieren.

Davon wird Al-Kaida nun profitieren, das ist so gut wie sicher. Für den Al-Kaida-Chef Aiman al-Sawahiri ist das ein regelrechter Elfmeter. Denn er kann nun behaupten, dass sich die angebliche Demokratie, die die Ägypter sich erkämpft haben, nicht lohnt; dass „wahre Gläubige“ (sprich: Islamisten) immer unterdrückt werden, selbst wenn sie durch Wahlen an die Macht kamen; dass Al-Kaida genau das immer schon gesagt hat; und dass am Ende sowieso die USA hinter dem Putsch gestanden haben müssen.

Noch wichtiger aber dürfte für Al-Kaida sein, dass die neue Konstellation wieder der gewohnten, alten entspricht: Säkulare „unterdrücken“ die Gläubigen. Das Narrativ von früher, es stimmt wieder.

Der Al-Kaida-Führer al-Sawahiri hat sich zuletzt schon länger nicht mehr zu Wort gemeldet. Wenn er dazu technisch und logistisch in der Lage ist, wird er gewiss bald die neue Lage in Ägypten, seinem Heimatland, thematisieren. Dort kennt er sich aus; als Extremist saß er dort im Gefängnis. Er mag die Muslimbrüder vielleicht nicht besonders – aber die Armee und die Polizei und das säkular-nationalistische Establishment hasst er. Gepaart mit der nach wie vor bestehenden neuen operativen Freiheit, insbesondere auf dem Sinai, könnte das zu Anschlagsversuchen in Ägypten führen.

Es ist nie schön, ein Schreckensszenario an die Wand zu malen, aber dieses ist plausibel. Der US-amerikanische Terrorexperte William McCants schrieb gestern auf Twitter nicht ohne Grund: „Irgendwo in Pakistan lächelt gerade Sawahiri. Der Al-Kaida-Spin wird so gehen: Die Muslimbrüder sind diskreditiert, weil sie sich an die Regeln hielten. Sawahiri hat seit zwei Jahren argumentiert, dass der Westen und die lokalen Eliten die Islamisten nicht regieren lassen werden. Dieses Argument hat jetzt unter Islamisten mehr Gewicht.“ (Übersetzung und Glättung von mir.)

Diese Konstellation macht klar, warum es jetzt eine denkbar schlechte Idee ist, die Muslimbrüder noch weiter zu demütigen. Dass gestern die neuen Herrscher offenbar bereits mehrere islamistische TV-Sender abschalten ließen, ist kein gutes Zeichen.

Immerhin gibt es aber auch Anzeichen dafür, dass viele Ägypter Vertrauen haben, dass das Land sich rasch stabilisiert. Der Kollege Mohamed Amjahid, derzeit für die ZEIT in Kairo, berichtet gerade, dass die Börse geschlossen werden musste, weil der Index durch die Decke gehe – anscheinend gibt es einen Ansturm auf ägyptische Aktien.

So oder so: Je schneller das Land einen politisch breiten Kompromiss findet, desto schwieriger wird es für Al-Kaida, die Entwicklungen auszubeuten. Im Moment haben es die Dschihadisten aber erst einmal einfacher als zuvor.