Seit es dieses Blog gibt, war geplant, Kollegen, denen ich viel Inspiration und Motivation verdanke, ebenfalls zu Wort kommen zu lassen. Heute schreiben Annemie Schaus und Christophe Marchand. Die beiden Anwälte aus Belgien vertreten Julian Assange vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Der Rechtsfall Julian Assange ist hochgradig komplex, man könnte ihn mit dem Labyrinth des Dädalus vergleichen, in dem er auf ewig eingesperrt ist, ständig auf der Flucht vor dem Minotaurus USA, der ihn zu verschlingen trachtet. Nur eine internationale Rechtsinstitution hat die notwendige Unabhängigkeit, die Unwilligkeit gleich dreier wichtiger Staaten (USA, Großbritannien und Schweden) herauszufordern und den Mut eines Staates (Ecuador) zu unterstützen. Genau das geschah am 5. Februar 2016, als die UNWGAD (United Nations Working Group on Arbitrary Detention, Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen zu willkürlicher Haft, – Red.) ihre Entscheidung in diesem Fall veröffentlichte.
Nachdem die UNWGAD zu dem Schluss gekommen war, dass Julian Assange derzeit willkürlich festgehalten wird, hat sie angeordnet, dass Großbritannien und Schweden Julian Assange sofort freilassen. Dies ist der einzige Ariadnefaden, der Julian Assange erlauben würde, dem juristischen Labyrinth zu entkommen, in dem er sich befindet, und das Ende einer unakzeptablen, unmenschlichen Behandlung, seiner willkürlicher Festsetzung und des unfairen Prozesses gegen ihn einzuleiten, denen er wegen seiner Tätigkeit als Journalist und Herausgeber von Whistleblower-Material ausgesetzt ist. Julian Assange ist eingesperrt, aber er wurde keines Verbrechens angeklagt, und der vollständige Zugang zu seiner Strafakte wurde ihm verwehrt. Schweden behauptet, gegen ihn wegen eines angeblichen sexuellen Übergriffs ermitteln zu wollen. Julian Assange hat verneint, sich eines Verbrechens schuldig gemacht zu haben und war stets bereit und willens, Fragen zu beantworten.
Im Dezember 2010 erwirkte ein schwedischer Ankläger einen Europäischen Haftbefehl mit dem Ziel, dass er ausgeliefert und verhört würde. Schweden hat dabei ein merkwürdiges Spiel gespielt und sich unwillig gezeigt, die normale internationale Kooperation in Strafsachen in Anspruch zu nehmen und das Interview in London stattfinden zu lassen. Im Mai 2015 entschied das oberste schwedische Gericht, diesen vier Jahre alten Haftbefehl zu bestätigen (die Entscheidung fiel nicht einstimmig, ein Richter war anderer Ansicht), was, endlich, den schwedischen Ankläger dazu zwang, diplomatische Verhandlungen mit Ecuador aufzunehmen, um das Verhör nach den üblichen Standards des internationalen öffentlichen Rechts stattfinden zu lassen.
Die schwedischen Ermittlungen und die Strafverfolgung demonstrieren, dass dieser Fall vom schwedischen Ankläger nicht nach den üblichen Verfahrensweisen durchgeführt wird. Das wirft Fragen auf nach der Fairness des Verfahrens und nach den wahren Absichten der schwedischen Strafverfolgung. Julian Assange wurde bereits einmal in Schweden verhört (hinsichtlich des einen, damals bestehenden Verdachtsfalles); und die Frau hat selbst erklärt, die Polizei habe sich den Verdacht ausgedacht. Großbritannien setzt den Haftbefehl durch, und obwohl die Tage, die Julian Assange bereits in der ecuadorianischen Botschaft verbracht hat, den größten möglichen Strafrahmen überschreiten, sollte er in Schweden angeklagt und verurteilt werden.
Schlimmer als Gefängnishaft
Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Anklagebehörde der US-Regierung derweil mit einer geheimen, tiefgehenden und invasiven Ermittlung gegen Julian Assange, seine Anwälte, angeblichen Quellen und seine Kollegen bei WikiLeaks beschäftigt ist. Das FBI bestätigte das am 15. Dezember 2015 im Rahmen eines Gerichtsverfahrens. Diese Ermittlung zielt darauf ab, die Veröffentlichung und Enthüllung abstoßender Menschenrechtsverletzungen der USA im Zuge des „Kriegs gegen den Terror“ zu einer Angelegenheit von „Verrat“, „Spionage“ oder sogar „Terrorismus“ zu machen. Für Julian Assange ist es naheliegend davon auszugehen, dass sein Schicksal in den USA auf eine lebenslange Unterbringung in der fürchterlichen Supermax-Haftanstaltenmaschinerie hinauslaufen würde. Julian Assange verdient Respekt und Schutz als Mitglied einer Gruppe von Menschen, die von der Idee der Verteidigung der Menschenrechte inspiriert ist und sich dem Bloßstellen der Misshandlung von Whistleblowern und ihren Herausgebern verschrieben hat.
Schweden mag als der ideale demokratische Rechtsstaat erscheinen, in dem jeder gerne leben würde; aber dieses Image lässt die enge Polizei- und Geheimdienstkooperation zwischen den USA und Schweden außer Acht. Seit 9/11 ist Schweden 17-mal von internationalen juristischen Institutionen (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, Komitee gegen Folter der Vereinten Nationen) verurteilt worden – wegen Nichtbeachtung der Grundstandards der Genfer Flüchtlingskonvention oder des Verbots der Abschiebung in Staaten, in denen ein Risiko für Folter oder unmenschliche oder herabwürdigende Behandlung besteht, mit inakzeptablen und blutigen Konsequenzen für die betreffenden Personen und ihre Familien. Seit dem 19. Juni 2012 lebt Julian Assange in der ecuadorianischen Botschaft in London. Experten halten diese Situation für schlimmer als Gefängnishaft, wo Häftlinge wenigstens ab und zu frische Luft atmen oder die Wärme der Sonne spüren können – von der abgerissenen Verbindung zu seinen Kindern und Lebensgefährten ganz abgesehen.
Auch wenn Großbritannien und Schweden eine andere Position einnehmen, handelt es sich hierbei um einen ganz gewöhnlichen und nicht-strittigen Anwendungsfall für das Fallrecht des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte hinsichtlich der Definition von Haft. Der Gerichtshof hat in mehreren Sprüchen über unklare rechtliche Situationen und den Status von Personen, die „freiwillig“ in Transitzonen auf Flughäfen verbleiben (der erste war Aamuur vs. Frankreich, 1996), entschieden, dass sich diese Personen „in Haft“ befinden. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Julian Assanges Situation der rechtlichen Definition von Haft und unmenschlicher und herabwürdigender Behandlung entspricht und dass dieses im Gegensatz zu unseren Standards für Menschenrechte im 21. Jahrhundert steht.
Übersetzung aus dem Englischen: Yassin Musharbash
Wolfgang Kaleck ist Berliner Rechtsanwalt und Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Kaleck hat sich in den vergangenen Jahren mit Menschenrechtsverletzungen in Argentinien bis Abu Ghuraib und in Kolumbien bis zu den Philippinen beschäftigt; aktuell ist der NSA-Whistleblower Edward Snowden einer seiner Mandanten.