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„Diese Schach-WM läutet das Ende einer Ära ein“

Der neue und alte Schachweltmeister Magnus Carlsen
Der neue und alte Schachweltmeister Magnus Carlsen

Was bleibt von dieser Schach-WM, was waren die Knackpunkte und ist Magnus Carlsen eigentlich ein Flegel? Wir haben unsere drei Schachblogger und den ZEIT-Redakteur Uli Stock, der für uns aus Sotschi berichtet hat, zum Gespräch gebeten.

Frage: Meine Herren, ist Magnus Carlsen ein würdiger Weltmeister?

Johannes Fischer: Ja, ist er. Carlsen spielt fantastisches Schach, beherrscht alle Facetten des Spiels, ist kampfstark, dominiert seine Gegner. Und er war während der Schach-WM einfach der bessere Spieler.

Dennes Abel: Carlsen ist seit vier, fünf Jahren der beste Spieler der Welt. Auch diesen Wettkampf hat er dominiert, es hätte auch noch deutlicher ausgehen können. Er hat eine Partie verloren, weil er sich etwas getraut hat. In den anderen Partien, die Remis ausgegangen sind, war er am Drücker, die hätte Anand auch verlieren können.

Ulrich Stock: Da würde ich widersprechen. Carlsen hat konstant gut gespielt, aber er hat sich nicht viele Chancen auf zusätzliche Siege erarbeitet. Die Schwächen lagen bei Anand, der hätte vieles besser machen können, vor allem in der letzten Partie. Und man muss sich nur vorstellen, was passiert wäre, wenn Anand Carlsens Fehler in der sechsten Partie ausgenutzt hätte. Da wäre es ganz anderer Kampf geworden.

Frage: Also hat nicht Carlsen die WM gewonnen, sondern Anand sie verloren?

Fischer: So weit würde ich nicht gehen. Anand war besser als im vergangenen Jahr, es war ein sehr guter Wettkampf auf sehr hohem Niveau.

Stock: Ich möchte den Erfolg von Carlsen nicht schmälern. Er hat unglaublich konstant gespielt, das ist ja auch eines seiner Markenzeichen. Anand hat diesen Kampf psychologisch verloren. Er hat in der sechsten Partie einen Gewinnzug, den ich als Vereinsspieler sehen würde, übersehen. Und in der elften Partie hat er sich, ich sag das mal etwas grob, aus dem Nichts heraus mit Schwarz eine vielversprechende Stellung erarbeitet und danach alles weggeschmissen.

Frage: Warum?

Stock: Ihm haben die Nerven versagt, so hat er das später beschrieben. Anand sagte, Carlsen habe die besseren Nerven gehabt, und das würde ich auch so sehen. Das finde ich erstaunlich. Wenn sich bei diesem großen Altersunterschied der Ältere auf etwas berufen kann, dann doch auf Erfahrung, auf Coolness. Erstaunlicherweise ist es eher umgekehrt gelaufen. Anand hat die Nerven verloren und Carlsen hat es durchgezogen.

Ilja Schneider: Carlsens große Stärken sind die Nerven und seine Endspieltechnik. Anand hat sich auf die Endspiele sehr gut vorbereitet. Da hat er sich viel weniger quälen lassen als im Jahr zuvor.

Stock: Dafür hat Carlsen in der Vorbereitung enorm aufgeholt. Es gab mehrere Partien, in denen Carlsen mit Theorievarianten kam. Das war neu und überraschend.

Frage: Wir erinnern uns alle noch an diesen Doppelfehler in der sechsten Partie. Fehler, die Ihr in diesem Moment vielleicht alle nicht gemacht hättet. Wie ist so etwas zu erklären?

Abel: Ich kann es mir nur so herleiten: Carlsen war am Drücker und Anand musste aufpassen, diese Partie nicht zu verlieren. Und dann passiert so ein Zug, Anand übersieht ihn, weil er nicht darauf gefasst ist, mit einem Zug auf einmal die Partie umdrehen zu können, weil er gerade noch mit dem Rücken zur Wand stand. Das passiert auf diesem Niveau sehr selten, aber es passiert. Es war der Moment der WM. Und er hat gezeigt, dass die beiden auch nur Menschen sind.

Fischer: Ich finde das ein bisschen ungerecht. Heutzutage laufen überall Computer mit, alles wird live kommentiert. Die Computer sind so stark, dass man als Zuschauer sofort die Fehler sieht. Wenn man sich die WM-Kämpfe der Vergangenheit mit dieser Technik angucken würde, würde man auf ganz ähnliche Böcke stoßen.

Stock: Aber was für eine Tragik! Sich monatelang vorzubereiten, alles dafür zu tun, in diesem Match zu bestehen und dann ist die Chance da. Und dann sieht er es nicht. Das ist krass. In der elften Partie war es noch schlimmer, weil er in dem Moment, in dem er das Heft in der Hand hat, alles mit einem Zug wegschmeißt.

Schneider: Da bin ich mir nicht so sicher. Was du als Wegschmeißen bezeichnest, ist der Turmzug nach b4. Das ist das erste, was ich an dieser Stelle gedacht hätte. Es hat sich zehn Züge später herausgestellt, dass der Zug nicht der beste war. In dem Moment aber war es nachvollziehbar. Das war für mich kein großer Fehler.

Fischer: Der Turmzug nach b4 war mit der Brechstange gespielt, und das ist ein Zeichen, dass Anand die Nerven versagt haben. Warum spielt er in der für ihn entscheidenden Partie einen riskanten Zug ohne klare Kompensation? Was mich aber mehr verblüfft hat: Dass Anand nach dem Fehler in der sechsten Partie, von dem jeder Schachspieler weiß, dass er einen noch tagelang verfolgen kann, es dann in der siebten Partie geschafft hat, diese enorm schwierige Stellung 120 Züge lang zu verteidigen. Das fand ich richtig stark. Der Mann hat Kampfgeist!

Stock: Und Anand hat die Computer schlecht aussehen lassen. In der siebten Partie opferte er einen Läufer gegen zwei Bauern. Den Zug hatte kein Computer angezeigt. Nachdem Anand ihn ausgeführt hatte, beurteilten die Rechner seine Stellung als verloren. Er hielt die Partie ohne Probleme unentschieden. In der elften Partie zeigten die Computer völligen Ausgleich an, als die Stellung am schärfsten war. Da hatten beide Spieler eine Komplexität aufs Brett gebracht, in denen die allwissenden Schachprogramme ratlos wirkten.

Frage: Carlsen saß wieder sehr lässig am Brett, einmal sah es so aus, als würde er gleich einschlafen. Ist Carlsen ein Flegel?

Abel: Ich unterstelle ihm keine böse Absicht. Carlsen versinkt in diesen Momenten in seiner Welt. Da nimmt er eben das Bein hoch oder legt den Kopf auf den Tisch. Es ist seine Art, in dem Spiel aufzugehen. Das wird natürlich von der Außenwelt ganz anders aufgenommen. Im Nachhinein wird er das sicher bemerken. Ich weiß nicht, ob man ihn dafür kritisieren soll. Ich glaube, Carlsen ist eben so.

Frage: Johannes, wie sitzt du am Brett?

Fischer: Wie sitze ich am Brett? Keine Ahnung. Ich kann verstehen, was Dennes sagt, weil ich selbst gar nicht weiß, wie ich am Brett sitze. Und wenn ich mich selbst beobachten würde, würde ich auch sagen, benehme ich mich nicht immer so, wie es sich gehört. Mir hat mal jemand gesagt: Ich gucke sehr finster und schneide Grimassen. Ich habe das gar nicht wahrgenommen.

Frage: Ulrich, du hast Carlsen vor Ort erlebt. Wie ist er denn so?

Stock: Während dieser zwei Partien, in denen er quasi am Brett schlief, hatte ich den Eindruck, dass es ihm nicht gut ging. Die flapsige Vermutung am Ort war: Die Sekundanten haben ihn einfach früh aus dem Bett geholt, um mit ihm Theorievarianten zu bimsen, damit er Anand in der Eröffnung mal was entgegensetzen kann. Carlsen schläft ja immer bis Mittag. Später wurde er dann ja auch krank. Er hat die letzte Partie mit dickem Hals gespielt. Sein Verhalten finde ich authentisch. Der ist so. Das macht es seiner Umgebung schwerer, aber ihm vielleicht einfacher. Anand ist eher jemand, der verbindlich und freundlich ist. Das mag man nicht immer sein. Manchmal ist es schwierig freundlich zu sein.

Frage: Aber Carlsen scheint zugänglicher geworden zu sein?

Stock: Ja, im vergangenen Jahr hat man ihn nach der letzten Partie tagelang nicht gesehen. Er hing immer mit den Norwegern ab und die Journalisten guckten in die Röhre. Das war in diesem Jahr anders. Er gab Interviews unmittelbar nach der Partie. Und zum Schluss hat er alle eingeladen zu Champagner und norwegischem Buffet. Das war sehr nett. Ein Frage, die zu Diskussionen führte, stellte sich bei der Siegerehrung. Wladimir Putin, einer der mächtigsten Männer der Welt, war extra angereist und Carlsen erwähnte ihn mit keiner Silbe in seiner Dankesrede. Ist das unhöflich? Oder politisch korrekt? Ich weiß es nicht. Sein Vater sagte mir hinterher, es sei in Norwegen völlig unüblich einem Politiker zu danken. Wofür sollte man Putin auch danken?

Schneider: Ich finde, Carlsen hat sich flegelhaft verhalten, zumindest teilweise. Nach dem Doppelfehler in der sechsten Partie hat er mit seinem Verhalten dem Gegner direkt ins Gesicht gesagt: Du Idiot, du hättest meinen Bauern schlagen können. Er hat das nicht gesagt, aber er hat den Zug eine Minute lang nicht aufgeschrieben, er hat seine Arme auf den Tisch gelegt, seinen Kopf darauf und etwa eine halbe Minute in dieser Position verharrt. Er hat mit jedem Muskel seines Körpers dem Gegner zu verstehen gegeben, dass der gerade eine richtige Dummheit begangen hat.

Stock: Ich deute sein Verhalten ganz anders. Er hat gemerkt, dass er einen Riesenbock geschossen hat und dass er großes Glück hatte.

Schneider: Die Außenwirkung war katastrophal.

Stock: Ich glaube, mit Außenwirkung war er in dem Moment nicht beschäftigt. Da unterstellst du ihm eine sehr, sehr starke Berechnung. Ich glaube, ihn hat in dem Moment die Coolness einfach verlassen.

Frage: Was bleibt von dieser Schach-WM? Hat sie die Schachwelt verändert?

Fischer: Ich glaube, sie läutet das Ende einer Ära ein. Die Generation Kramnik, Anand, Gelfand wird nicht mehr um eine Weltmeisterschaft spielen. Die junge Generation kommt ans Ruder. Auch in der Präsentation hat diese WM Maßstäbe gesetzt. Was da alles im Internet passierte, war schon stark.

Frage: Ulrich, Du warst am Ort. Wie wurde der Wettkampf in Sotschi selbst angenommen? Gab es da Schachfieber?

Stock: Nein, das war für mich ein Minuspunkt dieser WM. Man hat sich entschieden, dass das Publikum da draußen in der Welt an den Bildschirmen wichtig ist. Die Zuschauer am Ort waren den Veranstaltern egal. Für mich als Journalist ist es besser, wenn Leute da sind. Es gibt Diskussionen, Ansätze für Geschichten. Die wenigen Zuschauer, die da waren, waren alle tief beeindruckt. Da ließe sich bei einer nächsten WM mehr machen.

Frage: Wer wird der nächste Herausforderer?

Abel: Für mich kommen zwei Spieler in Betracht. Fabiano Caruana, der Spieler, mit dem Carlsen oft Probleme hat. Er muss sich natürlich erstmal qualifizieren, aber er ist eine Spur besser als alle anderen. Ein anderer Kandidat wäre Lewon Aronjan, bei dem es aber immer auf die Form ankommt.

Fischer: Caruana ist der Topkandidat, das sehe ich auch so. Aber der Kreis der Leute, die in Betracht kommen, ist ziemlich groß: Alexander Grischuk, Lewon Aronjan, Hikaru Nakamura, Sergej Karjakin oder sogar Anish Giri.

Schneider: Ich sehe auch Caruana als Favoriten. Aber das ist alles sehr schwierig zu sagen. Es ist wahrscheinlicher, dass es Caruana nicht wird, als dass er es wird, weil es so viele andere gibt, die auch gutes Schach spielen.

Stock: Herausforderer wird der, der sich qualifiziert. Diese Vorherseherei geht mir ein bisschen auf den Keks. Das funktioniert so nicht. Wer waren denn die letzten Herausforderer? Mit Anand hat niemand gerechnet, wirklich niemand. Davor war es Gelfand.

Schneider: Dazwischen war es Carlsen.

Stock: Der die Qualifikation um Haaresbreite geschafft hat. Wir sollten bedenken: Es geht bei der WM nicht darum, wer gerade auf Platz eins, zwei oder drei der Weltrangliste steht, sondern um ein Duell Mann gegen Mann über Wochen, das seit 1886 Tradition hat. Das folgt anderen Gesetzen als der tägliche Turnierbetrieb.