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Im rosafarbenen Pyjama am Schachbrett

 

Einmal schien Magnus Carlsen ein Nickerchen zu halten. Einmal, nachdem sein WM-Gegner Viswanathan Anand einen gewinnbringenden Zug übersehen hatte, ließ er seinen Kopf auf die Arme fallen und lag halb auf dem Schachtisch. Bei einem anderen Turnier fläzte er sich in seinem Sessel, als säße er zu Hause im Wohnzimmer. Fehlte nur noch, dass er die Füße auf den Tisch legte. Darf Magnus Carlsen das? Was ist mit der Etikette, die im Schach, dem Spiel der Könige, eine nicht unwichtige Rolle spielt?

Der Artikel 11.5. der Regeln des Weltschachverbands Fide besagt: „Es ist verboten, den Gegner auf irgendwelche Art abzulenken oder zu stören. Dazu gehört auch ungerechtfertigtes Antragstellen oder ungerechtfertigtes Anbieten von Remis oder das Mitbringen einer Geräuschquelle in den Turniersaal.“ Und 11.1.: „Die Spieler dürfen nichts unternehmen, das dem Ansehen des Schachspiels abträglich sein könnte.“

Etwaige Beschuldigungen gegenüber dem Weltmeister würden schnell verstummen, wenn man sich bei einem ganz normalen Kreisliga-Match irgendwo in Deutschland umsieht. Dort gibt es keine Kameras, keine Zuschauer und keinen Schiedsrichter. Wenn es einen gäbe, hätte er die ganze Zeit nichts anderes zu tun, als die Spieler zu verwarnen.

Bei den Amateuren kann man nicht nur auf dem Brett sondern auch daneben die seltsamsten Auswüchse bestaunen. Es werden am Brett Frikadellen gegessen und Pfefferminztee getrunken. Es klappert das Besteck und es rascheln die Brötchentüten. Spieler wackeln mit den Beinen, was ganze Tischreihen erbeben lässt und beugen sich von hinten auf die Lehne des Stuhls auf dem gerade ihr Gegner sitzt, um sich die Stellung aus der anderen Perspektive zu betrachten. Sie kramen in ihren Rucksäcken und lesen Zeitung. Einmal sah ich, wie sich jemand, in einen rosafarbenen Pyjama gekleidet, am Brett Nutella-Brote schmierte.

Es gibt auch einige Spieler mit seltsamen Rauch- oder Hygienegewohnheiten. Diese verstoßen gegen die Paragrafen 11.1. und 11.5 durchaus schon mit ihrer bloßen Anwesenheit. Was die Europäische Schachunion vor einigen Jahren zum Anlass nahm, einen Dress-Code zu erstellen, um wenigstens die ganz groben Fälle an der Tür zum Turniersaal aussortieren zu können. Schach als ein gediegen intellektueller Kampf wohlerzogener Herren, der von Weitsicht und Mut entschieden wird? Na ja.

Doch ist es bei den Großen der Zunft anders? Ein Blick auf einige Aspekte vergangener WM-Matches zeigt: Nicht wirklich. Emanuel Lasker rauchte beim Spiel Zigarillos. Dem Vernehmen nach die billigsten, die es gab, um den Gegner sprichwörtlich zu ersticken. Alexander Alexandrowitsch Aljechin gönnte sich gegen Max Euwe ab und zu ein Gläschen Wein oder spielte mit seiner Katze. Vor Michail Tals hypnotischem Blick fürchteten sich sämtliche seiner Großmeisterkollegen, obwohl er sonst überaus beliebt war. Und Viktor Kortschnoj beschuldigte Anatoli Karpow in Baguio 1978 einen Hypnotiseur einzusetzen und brachte im späteren Matchverlauf zwei indische Gurus mit in den Spielsaal, die dessen Wirkung schwächen sollten.

Heutzutage sind solche Erscheinungen im Spitzenschach eigentlich passé. Alles erscheint wie ein großer Kuschelzirkus. Alle sind nette freundliche Sportsmänner und verstehen sich untereinander ausgezeichnet, sogar der ewig wallende Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan verstummt, wenn man sieht, wie freundschaftlich Aronjan und Mamedjarow miteinander umgehen. Nur Hikaru Nakamura, der oft mit Fußballtrikots und immer mit seinem Lieblingsenergydrink zum Kampf erscheint und sich bei Twitter periodisch über die Fehlleistungen seiner Kollegen amüsiert, hat ein wenig das Image eines „Bad Boys“.

Und es gibt natürlich einige wenige feste persönliche Animositäten, wie die Fehde zwischen Topalow und Kramnik, die sich seit ihrem WM-Match 2006 nicht mehr die Hand geben. Giri und Jobawa werden nach dem „Don’t smile like an idiot!“–Ausruf des Letzteren bei der Pressekonferenz nach ihrer Partie wohl auch keine engen Freunde mehr. Sonst sind grobe Verstöße gegen die Fairness eher ein seltener Fall.

Für mich persönlich war folgender Fall eine große Lehre, einen weiteren Baustein der Schach-Etiquette zu befolgen: Ich spielte 1996, als Elfjähriger, gegen einen Spieler, der in Hannover zu den Top 20 gehörte. Nach beiderseitigem Gepatze entstand ein etwa ausgeglichenes Endspiel, in dem ich mit einem unvorsichtigen Königszug meinem Gegner einen sofortigen Sieg ermöglichte. Als dieser einen unbeteiligten Bauern zog, lachte ich ihn aus und wies ihn darauf hin, dass er hätte sofort gewinnen können. Eine Minute später zog ich, wehrte aber in keiner Weise seine Drohung ab. So sehr ich auch heulte, er könne das jetzt doch nicht machen, denn ich, hätte ihm doch den Zug gezeigt, es half alles nichts. Seitdem würde ich meinen Gegner niemals während einer Partie ansprechen. Und wenn er das tut, bleibe ich stumm.