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Die vergebliche Suche nach der Perfektion

 

Achtmal im Jahr verrät die holländische Schachzeitschrift New in Chess, wo das Spitzenschach steht. Sie erscheint auf Englisch, gilt als eins der besten Schachmagazine der Welt und setzt auf Hintergrundberichte, Analysen und Interviews. Die aktuelle Ausgabe widmet sich dem Wimbledon des Schachs, dem großen Traditionsturnier im holländischen Wijk aan Zee, das Anfang des Jahres stattfand. Gewonnen hat der Weltmeister Magnus Carlsen, die Plätze zwei bis fünf teilten sich vier Spieler, die alle als Weltmeisterkandidaten gelten. Einer ist Wesley So, 21 Jahre jung, Nummer acht der Weltrangliste, auf den Philippinen geboren, seit Kurzem US-Amerikaner. Wie stark er ist, zeigte So in Wijk aan Zee gegen den Ukrainer Wassili Iwantschuk, einen der besten Spieler der Welt.

Auf den ersten Blick eine beeindruckende Partie, vor allem durch die schwarze Links-Rechts-Kombination im 14. und 15. Zug. Schwarz opfert erst eine Figur am Königsflügel und rückt dann seinen a-Bauern, der weitab vom Geschehen steht, ein Feld nach vorne. Doch schaut man genauer hin, verliert die Partie viel von ihrer Originalität. Denn So hat die entscheidenden Züge dieser Partie nicht am Brett gefunden, sondern in einer früheren Ausgabe von New in Chess oder in einer Partie des deutschen Großmeisters Jan Gustafsson entdeckt. Iwantschuk hingegen hat einfach seine Hausaufgaben nicht gemacht.

Verkommt Schach also tatsächlich immer mehr zu einem Gedächtniswettbewerb, in dem nicht kreatives Spiel, sondern stumpfes Auswendiglernen Erfolge bringt, wie mein Mitblogger Ilja Schneider schreibt?

Ganz so einfach ist es nicht. So hat diese Partie zwar gewonnen, weil er mehr wusste als sein Gegner, aber dieses Wissen konnte er sich nur aneignen, weil er bereits einer der besten Spieler der Welt war. Nur so konnte er die Nuancen der vielen Varianten aus Büchern und Datenbanken verstehen, bewerten und erinnern. Gute Schachspieler sehen den Wald, nicht nur die Bäume, schlechtere verirren sich.

Das kann leicht passieren. Die Eröffnungstheorie wächst täglich und immer schneller. Der Siegeszug des Computers hat zu einem Schach-Boom geführt. Millionen Menschen haben die Weltmeisterschaftskämpfe zwischen Vishy Anand und Magnus Carlsen im Internet verfolgt, beinahe jeden Monat gibt es Spitzenturniere mit immer neuen Erkenntnissen zur Eröffnung und spielen kann man im Internet sowieso 24 Stunden am Tag. Schach ist global wie nie. Mittlerweile gibt es aus allen fünf Kontinenten Großmeister, der Weltmeister stammt aus Norwegen, einem Land ohne große Schachtradition. Indien und China, die vor 40 Jahren keinen einzigen Spitzenspieler hatten, gelten als Schachnationen der Zukunft. Heute gibt es mehr und bessere Schachspieler und immer mehr und jüngere Großmeister als zuvor. Sie alle nutzen den Computer, der Hunderttausende von Stellungen in Sekunden durchrechnet, um das Spiel besser zu begreifen.

Auch Magnus Carlsen ist auf eigene Rechenkapazität angewiesen. // © Alina Lami
Auch Magnus Carlsen ist auf eigene Rechenkapazität angewiesen. // © Alina L’Ami

Das Ergebnis: Alles ist komplizierter geworden. Moderne Spitzenspieler müssen mehr über Eröffnungen, Mittelspiel und Endspiel wissen, mehr Informationen schneller verarbeiten und präziser und weiter rechnen als ihre Vorgänger. Dabei liegt die Sehnsucht nach Perfektion in der Natur des Schachs. Man kann vor und nach der Partie in Ruhe und mit Hilfe von Computern, Trainern oder besseren Spielern nach den besten Zügen für beide Seiten suchen. Wenn man besser werden will, muss man das sogar.

Doch bei dieser Suche erhält man lediglich vorläufige Antworten. Stellt man fest, warum ein Zug ein Fehler ist, müsste man eigentlich nach einer Möglichkeit suchen, wie Weiß oder Schwarz vorher besser hätte spielen können. Irgendwann würde man wieder am Anfang landen, in der Ausgangsstellung. Doch trotz aller Eröffnungstheorie, die manchmal bis weit ins Endspiel hineinreicht, und trotz Millionen Partien, die in Datenbanken gespeichert sind, kann niemand mit Sicherheit sagen, was der beste Eröffnungszug des Weißen ist. Oder ob Schwarz nach 1.e4 zu 1…c5, 1…e5, 1…e6 oder doch zu einem anderen Zug greifen sollte. Oder warum Weiß mit 1.f4 weniger Erfolg hat als Schwarz mit 1.d4 f5.

Im Endspiel, in der Schlussphase der Partie, wenn nur noch wenige Figuren und Bauern auf dem Brett stehen, herrscht hingegen Perfektion. Zumindest beim Computer und in Stellungen mit sechs Steinen oder weniger. Doch die meisten dieser Stellungen sind für einen Menschen, der eine praktische Partie mit begrenzter Bedenkzeit spielen muss, ungefähr so wichtig wie Aufgaben aus dem Problemschach, in dem Weiß in 50, 100 oder 200 Zügen den Gegner oder sich selbst Matt setzen soll. Eine interessante intellektuelle Spielerei, aber praktisch irrelevant, denn die Menschen haben schon Schwierigkeiten, sich wichtige Endspielstellungen zu merken.

Auch dafür liefert das aktuelle Heft von New in Chess ein Beispiel. Es stammt aus einer Partie des Amerikaners Hikaru Nakamura, zur Zeit die Nummer drei der Welt, und Anfang des Jahres unter anderem beim stark besetzten Turnier in Gibraltar erfolgreich. Nakamura gewann das Turnier mit 8,5 Punkten aus 10 Partien souverän, aber er hätte noch mindestens einen halben Punkt mehr machen können, wenn er ein theoretisch gewonnenes Endspiel auch gewonnen hätte. Wie das geht, hat ein Schachspieler namens Josef Vancura vor fast 100 Jahren gezeigt. Heute steht es in Büchern für Anfänger und Fortgeschrittene und wird in Lehrvideos erläutert.

Magnus Carlsen, der Spieler mit der höchsten Elo-Zahl aller Zeiten, gab auf die Frage von New in Chess, ob er je das Gefühl gehabt habe, er verstehe im Schach alles, folgende Antwort: „Nicht mal annähernd. Nun gut, vielleicht ein wenig, aber dann bekommt man schnell einen Weckruf. Man wird in einer Partie völlig überspielt und landet wieder auf dem Boden der Tatsachen.“