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Madame Bovary I

„»Ich habe einmal ein Stück gesehen,« sagte Binet, »es hieß: ‚Der Pariser Taugenichts.‘ Darin kommt ein alter General vor, wirklich ein hahnebüchner Kerl. Er verstößt seinen Sohn, der eine Arbeiterin verführt hat; zu guter Letzt aber….«

»Gewiß«, unterbrach ihn Homais, »gibt es schlechte Literatur, genau so wie es schlechte Arzneien gibt. Aber die wichtigste aller Künste deshalb gleich in Bausch und Bogen zu verurteilen, das dünkt mich eine kolossale Dummheit, eine groteske Idee, würdig der abscheulichen Zeiten, die einen Galilei im Kerker schmachten ließen.«

Der Pfarrer ergriff das Wort:

»Ich weiß sehr wohl: es gibt gute Dramen und gute Theaterschriftsteller. Aber diese modernen Stücke, in denen Personen zweierlei Geschlechts in Prunkgemächern, vollgepfropft von weltlichem Tand, zusammengesteckt werden, diese schamlosen Bühnenmätzchen, dieser Kostümluxus, diese Lichtvergeudung, dieser Feminismus, alles das hat keine andre Wirkung, als daß es leichtfertige Ideen in die Welt setzt, schändliche Gedanken und unzüchtige Anwandlungen. Wenigstens ist das zu allen Zeiten die Ansicht der kirchlichen Autoritäten.«

Er nahm einen salbungsvollen Ton an, während er zwischen seinen Fingern eine Prise Tabak hin und her rieb. »Und wenn die Kirche das Theater zuweilen in Acht und Bann getan hat, war sie in ihrem vollen Rechte. Wir müssen uns ihrem Gebote fügen.«

»Jawohl,« eiferte der Apotheker, »man exkommuniziert die Schauspieler. In früheren Jahrhunderten nahmen sie an den kirchlichen Feiern teil. Man spielte sogar in der Kirche possenhafte Stücke, die sogenannten Mysterien, in denen es häufig nichts weniger als dezent zuging….«

Der Geistliche begnügte sich, einen Seufzer auszustoßen. Der Apotheker redete immer weiter:

»Und wie stehts mit der Bibel? Es wimmelt darin – Sie wissens ja am besten – von Unanständigkeiten und – man kann nicht anders sagen – groben Schweinereien….« Bournisien machte eine unwillige Gebärde. »Aber Sie müssen mir doch zugeben, daß das kein Buch ist, das man jungen Leuten in die Hand geben kann. Ich werde es nie zulassen, daß meine Athalie….«

»Das sind ja die Protestanten, nicht wir,« rief der Pfarrer ungeduldig, »die den Leuten die Bibel überlassen!«

»Das kommt hier nicht in Frage«, erklärte Homais. »Ich wundre mich nur, daß man noch in unsrer Zeit, im Jahrhundert der wissenschaftlichen Aufklärung, eine geistige Erholung zu verdammen sucht, die in gesellschaftlicher, in moralischer, ja sogar in hygienischer Beziehung die Menschheit fördert! Das ist doch so, nicht, Doktor?«

»Zweifellos!« erwiderte der Arzt nachlässig. Entweder wollte er niemandem zu nahetreten, obgleich er dieselbe Ansicht hegte, oder er hatte hierüber überhaupt keine Meinung.“

 

Umfrage aus gegebenen Anlass

Liebe zahlreiche Blogklicker,

ich möchte die Gelegenheit und ein unerfreuliches Ereignis zum Anlass nehmen eine Umfrage zu starten:
Darf man Bücher aus der Bibliothek stehlen? Wenn jemand, vielleicht ein armer Student, ein Schriftsteller, ein Berliner etc kein Geld hat und bei der Bibliothek verschuldet ist, die natürlich als Stadtbibliothek laut und indiskret ist, hypothetisch gesprochen?
Moralisch vertretbar?

 

Macht die Moderne rückgängig

Ich muss ständig an ein iPhone denken. Das macht mich wahnsinnig. Ich lege mich ins Bett, lese eine Seite, werde müde, knipse das Licht aus und muss – ehrlich – an ein iPhone denken.
Wie es wohl in Weiß aussieht? Schon einmal jemanden mit einem weißen iPhone in der Hand gesehen? Wie viel Musik geht da wohl drauf? Könnte vielleicht wirklich praktisch sein. Sieht auch toll aus. Ich habe sogar Angst, dass es Lieferengpässe gibt, dass der Vorrat nicht reicht. Dass es sich um ein limitiertes Angebot handelt.

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Ich will es nicht wollen

Das ist die reinste Qual. Ich hasse es. Ich will nicht an das bescheuerte, dumme, kleine, Scheiß-iPhone denken. Es vernebelt mir den Kopf. Es kocht mein Gehirn weich. Ich will es nicht. Ich darf es auch nicht wollen. Aber jeder hat jetzt ein flaches, buntes, multifunktionales Superbooster-Internet-und-alles-sonst-auch-mit-drin-Telefon. Man unterhält sich über iPhone-Dinge, und ich bin nicht dabei, sondern träume in der Nacht davon, verliere auch die Lust am Trinken und Reden, während andere ein Thema haben, das sie zusammenschweißt.
Ich werde neidisch, ich werde missgünstig. Ich verbringe sehr viel Zeit damit, darüber nachzudenken, welcher Neuheit ich mich noch nicht anschließen konnte. Verpasse ich gerade etwas wichtiges? Das ist, zugegebenermaßen, absolut peinlich. Ich verachte mich, weil ich auch ein neues Telefon haben will. Ich hasse es überhaupt, darüber nachzudenken, was ich HABEN will. Ausgerechnet mir passiert das jetzt, wo ich doch am liebsten jede Einkaufspassage mit Beton aufgießen will und die moderne Gesellschaft generell ablehnt. Wäre es so schlimm, ein paar Dinge einfach rückgängig zu machen. Schon aus ästhetischen Gründen wäre das nicht nur von Nachteil. Die ganze zwanghafte Moderne könnte bei der Gelegenheit überdacht werden. Rückgängig? fragen Sie sich? Ja. Weg damit! Wir haben entsetzliche Sehnsucht, einen Liebeskummer nach dem distinguierten Alten.

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Und da wären wir auch schon bei dem Stadtschloss. Am Sonntagmittag wurde in der Schaubühne mit größter Erregung darüber gestritten, ob man nun das Schloss mit seinen barocken und renaissancehaften Fassadenelementen bauen soll, das so aus unserer Zeit herausgefallen sei. Das hätte es im 19. Jahrhundert auch nicht, nicht einmal unter Philistern gegeben, dass man eine Diskussionsrunde auf Sonntag 12 Uhr legt. Haben die denn keine Manieren, keinen Anstand, keine Haltung? Auch das sollte man sich einmal überlegen! Es sei typisch deutsch, sagte jemand am Sonntag in der Schaubühne, dass man nicht einmal auf die Idee kommt, moderne Architektur auf diesem freien Platz zu versuchen. Typisch deutsch ist es, mit „typisch deutsch“ zu argumentieren.
Es wäre sicherlich reizvoll, die Welt aus Stahl und Glas und Regen um eine weitere graue Sachlichkeit zu erweitern. Damit würde man auch an das Erfolgskonzept von Walter Ulbricht mit dem Palast der Republik anknüpfen. Indes lässt sich auch am Potsdamer Platz, in Berlin-Mitte und an jedem Kaufhaus die architektonische Schönheit und moderne Einzigartigkeit bestaunen.

Raubkunst im Schloss

Aber das Publikum war ganz erhitzt, denn im Stadtschloss werden nicht nur 500.000 Milliarden Euro plus Mehrwertsteuer verpulvert, vermutlich auf Kosten des Steuerzahlers. Hier wird auch noch angeblich Raubkunst von Indianern und Afrikanern ausgestellt. Der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Hermann Parzinger weiß eine Antwort: „Man kann jederzeit in die Ausstellung gehen und sich die Exponate ansehen.“
Aber die Afrikaner, so eine engagierte Dame in der ersten Reihe, können sich das eben NICHT leisten, aus Afrika anzureisen, um sich IHRE EIGENE Kultur anzuschauen. „Nichts ist perfekt!“, erwidert Parzinger und hat, wie er da den Kopf rabenartig eingezogen vor seiner sehr gründlich erarbeiteten Powerpointpräsentation (mit kleinen Animationen) krümmt und vom Publikum heftig zur Rechenschaft gezogen wird, meine ganze Sympathie.
Ja, baut dieses Schloss! Kehrt der Moderne den Rücken und baut wieder Schlösser! Verpulvert das ganze Geld für eine garantiert übertriebene Renaissance der Renaissance. Es wäre ein diskretes Augenzwinkern, eine schmale Erinnerung, eine Liebeserklärung an die Anmut des Alten, die den Passanten einigermaßen verwirren dürfte. Ihr Schritt verlangsamt sich, sie spüren, dass sie in der Gegenwart ungewohnter visueller Vornehmheit geraten sind. Hier gibt es nichts zu kaufen. Hier muss man niemanden bezahlen! Hier kann man vielleicht, wenn man Glück hat und sich Parzinger das mit seiner eigensinnigen ethnologischen Kolonialgeschichte noch einmal überlegt, auch irgendwann einmal ganz große Kunst anschauen. Und ich müsste nicht ständig darüber nachdenken, ob ich ein IPhone brauche.

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Rilke über das Leben

Rilke schreibt im Requiem Für Wolf Graf von Kalckreuth gewissermaßen auch zu uns, die wir Herbst und Winter noch vor uns haben: „Die großen Worte aus den Zeiten, da Geschehn noch sichtbar war, sind nicht für uns.
Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.“

Übrigens empfiehlt sich auch in arg nassen Momenten oder jenen, während diverser Rendezvous entstehenden Geschlechtsfragen, das Requiem an eine Freundin, dass Rilke im Anflug des Requiem-Schreibens wenige Tage zuvor geschrieben hatte, und zwar in Paris, wo sonst, im November – wann sonst – des Jahres 1908:

„Denn dieses Leiden dauert schon zu lang,
und keiner kanns; es ist zu schwer für uns,
das wirre Leiden von der falschen Liebe,
die, bauend auf Verjährung wie Gewohnheit,
ein Recht sich nennt und wuchert aus dem Unrecht.
Wo ist ein Mann, der Recht hat auf Besitz?
Wer kann besitzen, was sich selbst nicht hält,
was sich von Zeit zu Zeit nur selig auffängt
und wieder hinwirft wie ein Kind den Ball.
Sowenig wie der Feldherr eine Nike
festhalten kann am Vorderbug des Schiffes,
wenn das geheime Leichtsein ihrer Gottheit
sie plötzlich weghebt in den hellen Meerwind:
so wenig kann einer von uns die Frau
anrufen, die uns nicht mehr sieht und die
auf einem schmalen Streifen ihres Daseins
wie durch ein Wunder fortgeht, ohne Unfall:
er hätte denn Beruf und Lust zur Schuld.
Denn das ist Schuld, wenn irgendeines Schuld ist:
die Freiheit eines Lieben nicht vermehren
um alle Freiheit, die man in sich aufbringt.
Wir haben, wo wir lieben, ja nur dies:
einander lassen; denn daß wir uns halten,
das fällt uns leicht und ist nicht erst zu lernen.“

 

Es hat wenigstens nicht geregnet damals – Überlegungen zum 9. November

Seit meinem Umzug am Wochenende kommt mir die Welt verändert vor. Eine nackte kleine Glühbirne baumelt nur von der Decke, die, weil ich von Deckenhöhe nie genug bekommen kann, erst 6 Meter weiter über der Gammel-Matratze mit dem Raum Schluss macht.
Alles ist noch ganz weiß und leer und begleitet durch die im Nichts wiederhallenden Fragen: Wo sind die Gläser? Wo ist der Schlüssel? Bohrer? Schrauben verloren? Wo ist mein Fahrrad? Was ist mit dem Wetter?
Ja ja, das Wetter, denken Sie jetzt. Wenn ihr sonst nichts einfällt, erzählt oder schreibt sie eben über das Wetter. Das stimmt natürlich. Aber das Wetter ist grundsätzlich auch viel zu unterschätzt. Nichts kann uns so die Laune und das Wochenende vermiesen wie eine falsch platzierte Wolke am Himmel. Es bleibt nichts anderes übrig, als melancholisch zu werden, den Kopf gegen die Fensterscheibe knallen zu lassen und die herbafallenden Tropfen zu zählen. War das eigentlich schon immer so, dass der November so gnadenlos hässlich kalt und verregnet war? Schauen wir zurück auf den November vor zwanzig Jahren, der so gut dokumentiert im Fernsehen nachzuschauen und in Zeitungen nachzulesen und in Bilderbüchern nachzugucken ist. Da war kein Regen, der die winkenden Dauerwellenrevolutionäre in und um die Trabis herum irgendwie die Laune hätte verregnen können. Da sieht man eine klare Nacht, in Anoraks gepackte Weltveränderer, fröhliche rote Nasen.
Was wäre passiert, wenn es so trübe und unnachgiebig gewettert hätte, wie an diesem gerade ausklingendem Wochenende?
Ich persönlich hätte mir das sehr genau überlegt, ob ich zum Brandenburger Tor gehe, eine Mauer einrenne oder darauf bestehen soll, noch weiter weg von zu Hause gehen zu können. Ich hätte, wie gestern, aus dem verschmierten Fenster meiner neuen Wohnung geblickt, hinein in eine graue Mauer, in einen grauen Nebel, mit grauem Regen und hätte, wie ich das gestern auch getan habe, gesagt: „Sollen doch andere die Welt umwerfen. Mir ist das zu kalt. Und der Regenschirm ist auch verschwunden. In den Kartons.“
Weil ich mit Trägheit nicht gern allein bin, hakte ich im Freundeskreis nach, wo es auch nicht besser aussah: Jakobs Katze hat im Regen das Auto nicht kommen sehen und wurde deshalb überfahren, Jules Freund ist in eine andere Stadt gezogen, auch wegen des Wetters, sagt sie. Auch Christoph hat Magenprobleme. Und weil gestern auch mein Fahrrad von Deppen geklaut wurde, denen der Wind auch die letzten paar Fusseln aus dem Gehirn geweht hat, stieg ich in S-Bahn, und setzte mich neben ein Mädchen, dass sich gerade ihrer Taschen und Jacken wütend entledigte und angewidert in ein Schinken-Käse-Remouladen-Bäckersbrötchen biss, aus dem seitlich ein müdes Blatt Salat herausbaumelte. Sie kaute und fing plötzlich an, entsetzlich zu weinen. Sie biss entschlossen in den Nahrungsgegenstand. Die Remoulade tropfte, ihre Tränen auch und, weil man höflich wegguckt in so einem Moment, sieht man auch draußen die Tropfen gegen die Scheiben knallen. Entsetzlich. Man muss sich diese kollektive Depression nur vor 20 Jahren vorstellen. Gebückt und geschlichen wären ein paar noch seelisch stabile und die wenigen wetterresistenten Leute an die Grenzsoldaten getreten und hätten auf den „Guten Tach“-Gruß des Beamten wie IA aus Winnie Puh gesagt: „Guten Tag? Wenn es denn ein guter Tag ist. Was ich bezweifel.“ Und was wäre das für eine Revolution geworden? Zum Glück verlief alles ganz anders, als an diesem Wochenende. Und das vor allem, weil es nicht regnete. Unterschätzen wir die Wetterlage also besser nicht. Sie kann nicht nur die Laune, sondern eine ganze Bewegung versauen.
Ich möchte hier noch einmal eine Schleife ziehen, um den Text ordentlich und faltenfrei zu verpacken. Heute morgen nämlich steige ich in die S-Bahn und treffe dieses Mädchen wieder. Es telefonierte mit einem gewissen „Schatz Mobil“ wie ich sehen konnte, weil ich neben ihr Platz nahm. Ihrem „Schatz Mobil“ sagte sie dann: „Beweg deinen Arsch endlich nach draußen. Regen hin oder her. Reiß dich doch mal zusammen.“

Buchempfehlung zum Thema Deutsche Einheit:
Jana Hensel, Achtung Zone – Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten
Piper Verlag, München 2009, 14,95 Euro.

 

Kleine Messe-Benimm-Regeln

Ich habe inzwischen alle Peinlichkeiten auf der Messe ausprobiert und kann Ihnen nur empfehlen, sich ähnliches zu ersparen. Deshalb hier folgende Tipps:

1. Vermeiden Sie typische, dumme Messekonversation wie diese:

Ich sagte gestern zu Sebastian Koch: „Ja, natürlich kenne ich Sie. Ich bin ein natürlich ein großer Fan. Spätestens seit dem Film Mephisto.“
Er bedankte sich sehr freundlich. Doch heute morgen fiel mir ein, dass der Film „Mephisto“ mit Sebastian Koch gar nicht existiert.
Oder auch dieses schöne zweite beobachtete Beispiel. Jemand, ich weiß nicht mehr, wer es war, denkelte verschlafen über Kathrin Schmidt nach: „Diese Andrea Schmidt. Kenn ich natürlich alles. Die hat doch den Buchpreis bekommen.“

Tragen Sie deshalb verschiedene Lexika bei sich: Kindlers Literaturlexikon (In der Taschenbuchausgabe sind die 22 Bände etwas leichter), aktualisiertes Schauspieler- und Filmlexikon, Sportergebnisse der letzten Jahre, Geschichtsbuch.
Vielleicht haben Sie aber auch schon ein Telefon mit eingebautem Internet…

2. Empfänge, Messepartys, Menschenmenge

Versuchen Sie auch vor Verlagspartys in diversen Clubs und Bars niemals mit dem Türsteher zu diskutieren, sich vorzudrängeln, eine eigene Schlange zu bilden, sich generell auch ohne Einladung eingeladen zu fühlen. Ich habe das schon alles für Sie ausprobiert und kann Ihnen immer nur ans Herz legen, Abstand zu Türstehern zu halten und deren hässliche Regeln niemand versteht und für Sie selbst nur erniedrigend sind.

Zum ersten Mal in diesem Jahr feierte der Piper-Verlag ein rauschendes Fest im Velvet-Club, wo sich eine lange Schlange vor der Tür bildete, sich um die Säulen schlängelte, wo dann auch der eisige Wind durchfegte und durch die ganzen Drehungen um Säulen und Menschen noch etwas Rauer wurde. Wie Eingangs bereits angedeutet, war ich auch ohne Einladung, spazierte aber trotzdem munter und peinlich an der Schlange vorbei. Ich war die Andrea-Hünniger-Schlange. Ich lachte im vorbeigehen noch Kollegen aus, die frierend ihre Mäntel noch etwas weiter zuknöpften und rote Nasen von qualvollen Minuten im Frankfurter Winter erzählten. Leider scheiterte ich an dem Türsteher, er verwies mich „ganz nach hinten in die Schlange“. Als ich mich ungefähr mittig einreihte, kam er persönlich noch einmal und sagt: „Du“, wie ein Kampfschrei, „Du gehst hier raus und stellst dich wieder ganz nach hinten in die Schlange!“
Im übrigen sind immer Leute in der Schlange, die Sie kennen und vermutlich diese Vorkommnisse weiter erzählen oder gleich mit dem Telefon filmen.

3. Viren

Haben Sie ein Desinfektionsspray zur Hand, um sich nach Kontakt mit Menschen gleich alle Viren von Gesicht und Hand zu sprühen. Krankheiten treiben sich hier herum, angefangen von Unhöflichkeit bis zum unerträglichen Messeschnupfen.

4. Haben Sie immer Ausreden parat und tuen Sie sehr geschäftig

Polizei: „Machen Sie mal bitte Ihren Koffer auf.“
Ich: „Ich bin beruflich hier.“
Polizei: „Na und?“
Ich: „Ich bin auch zu müde, um den Koffer zu öffnen.“
Polizei: „Na gut, dann gehen Sie durch.“

5. Bücherklau

Jeder denkt daran. Beinahe jeder hat es schon getan. In der Grauzone der Messe weiß man eigentlich auch gar nicht, ob das überhaupt verboten ist. Nun denn.
Wenn Sie das schon vorhaben, dann sollten Sie das auch geschickt tun:
Gehen Sie zu einem Stand, schauen Sie interessiert und kritisch die Bücherregale an. Nehmen Sie ein Buch, blättern Sie, schauen Sie doch mal zwischendurch auf Ihr Telefon. Begrüßen Sie doch jemanden am Stand, den Sie natürlich nicht kennen. Entfernen Sie sich langsam.
Greifen Sie nicht wahllos zu, denn diese Bücher muss man auch wegtragen können und vermutlich auch lesen.

 

Günter Grass und das Geheimnis der Menschheit

Ich würde nie behaupten, der Auftritt von Günter Grass sei großspurig oder sogar breitbeinig. Nein, es ist viel schlimmer. Er ist im ersten Moment sympathisch. Er erregt Mitleid. Er wirkt zart und eingesunken, der arme geschundene, ausgeschimpfte alte Mann, der mal was bei den Nazis gemacht hat. Günter Grass ist diese kleine nette arme Schnecke, die man beschützen möchte, ihr den Weg frei räumen, eigentlich am liebsten ins Grüne, Freie und Friedliche hinaustragen tragen will.

Aus den Büchern "Im Schneckengang" oder "Beim Schälen eines Schneckenhauses"
Aus den Büchern "Im Schneckengang" oder "Beim Schälen eines Schneckenhauses"

Im ersten Moment denkt man so etwas. Aber Günter Grass ist nicht zum anschauen da, der Mann redet und das besonders viel, umfassend, großkalibrig, ernst, die Gesamtsituation überschauend. Und die Gesamtsituation ist schlecht. Ja, schrecklich. Für Grass ist die Welt aus den Fugen geraten. Angefangen bei den Nazis, die eine gesamte Nation grassisch ausgedrückt verführt hat, aber „wir haben uns aber auch – und Achtung – verführen LASSEN!“. Das klingt so ungeheuer schön pathetisch und tragisch, dass sich Grass ein wenig darin zu baden beginnt während Fragen des Journalisten mit viel Einfallsreichtum umgangen werden. Im übrigen, schließt er jetzt die verführerische Nazigeschichte, falle ihm da auch China ein, und wo wir gerade bei China sind, die ganze Welt ist ja furchtbar, denn jeder Sechste Mensch in der Welt hungert und keiner tut etwas dagegen. Dabei vergisst er natürlich nicht, noch das Thema der Deutschen Einheit und den Wir-sind-das-Volk Gedanken erneut auszubreiten. Aber die Geschichte verführt dazu ja auch und ist manchmal ein großer leuchtender Süßigkeitenladen.

 

Man kann es auch Sprache nennen

Hier zwischen den Hallen, in den schmalen Gängen, wo gedrängelt und getrunken werden kann, hier in der Enge der Buchmesse wohnt auch die Sprache:

Ein außerordentlich kluger Kollege fragt die nette Servicekraft hinter der Theke nach einer Apfelschorle. Sie zapft ordentlich und ruckelt an einer Maschine rum. Ein prickelnd gelbes Getränk stellt sie auf die Tresen. Schaum schlägt sich am Glas nach oben. „Ist das Bier? Ich wollte doch eine Apfelschorle?“, fragt der Kollege als Kunde.

Sie dann: „Sie können das schon auch als Apfelschorle trinken!“

Sprache hinterlässt so viele Fragen!!!

 

Kleine Szene zwischen Büchern

Polizeioberwachtmeisterkommissar Fischer in dunkelblauer Polizeiuniform steht am KiWi-Stand. Er hat sich nicht verlaufen, sagt er und atmet eine Sekt-Fahne in die Luft. Ich dachte, das wäre ein Scherz, die Uniform Attrappe, der Mann eigentlich ein Mitarbeiter des Fischer-Verlags. Polizeioberwachtmeisterkommissar erklärte aber, dass er zur Sicherheit, zum Schutz aller vor irgendeiner dunklen Gefahr anwesend wäre. Und die Gefahr, sagte er, könnten die Urigesen sein. Das sind diese kleinen armen Menschen, die nur Stände draußen vor dem Haupteingang im Regen haben und Schilder mit Protest-Formeln schreiben.