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Was für den Herbst

Andrea Hünniger hat es an dieser Stelle schön beschrieben: Der Herbst ist trübe. Man holt sich eine Erkältung, schlimmstenfalls treibt’s einen zum Arzt. Und wer dann trübtassig beim Arzt herum sitzt, dem sei in diesen Tagen die Lektüre von Michail Bulgakows Arztgeschichten (Luchterhand) empfohlen! Welch ein Buch, das so beginnt:

„Wer noch nie im Pferdewagen öde Feldwege entlanggezockelt ist, dem brauche ich nichts darüber  zu erzählen, er begreift es doch nicht. Wer es aber schon erlebt hat, den möchte ich nicht daran erinnern.

So kann der Herbst doch kommen.

 

Was les ich zur EM?

Da kommt man zurück nach Deutschland, hat seine Urlaubstasche noch gar nicht richtig ausgepackt – schon begegnet einem der Fußballwahnsinn! Menschen laufen bei knapp dreißig Grad in Polyesterhemdchen rum, Fähnchen wehen an Autos, Kneipen bauen Leinwände auf, und die Freunde haben keine Zeit mehr und reden von Mannschaftsaufstellungen, Torwartproblemchen, Bierkaltstellen und der Frisur von Bastian Schweinsteiger. Ja, es ist EM, ja, darüber muss man reden. Etwa so: Plötzlich erzählt mir ein Bekannter, er begeistere sich nun für Rumänien, allein, weil er den Stürmer Adrian Mutu so toll findet. Jetzt wolle er da auch mal hin, Bukarest sehen, das kleine Paris. So einfach geht das? Und: Geht das auch mit Büchern? Daher empfehle ich jetzt mal was. Für jedes EM-Team ein Buch aus ihrem Land, das Sie dann lesen können, wenn spielfrei ist. Und los geht’s:

Gruppe A:
Peter Stamm, Blitzeis (Schweiz)
Karel Čapek, Der Krieg mit den Molchen (Tschechien)
José Saramago, Das Todesjahr des Ricardo Reis (Portugal)
Orhan Pamuk, Rot ist mein Name (Türkei)

Gruppe B:
Dorota Maslowska, Schneeweiß und Russenrot (Polen)
Clemens Meyer, Als wir träumten (Deutschland)
Franz Grillparzer, Der arme Spielmann (Österreich)
Roman Simić, In was wir uns verlieben (Kroatien)

Gruppe C:
Mircea Cartarescu, Die Wissenden (Rumänien)
Cees Nooteboom, Allerseelen (Niederlande)
Louis-Ferdinand Celine, Reise ans Ende der Nacht (Frankreich)
Und weil Italien es leicht haben wird, ins Finale zu kommen, gibt’s etwas schweres zu lesen: Dante, Die göttliche Komödie – naja, vielleicht doch besser Italo Calvinos Der Ritter, den es nicht gab

Gruppe D:
Vladimir Sorokin, Die Schlange (Russland)
Stig Larsson, Die Autisten (Schweden)
Berta Marsé, Der Tag, an dem Gabriel Nin den Hund seiner Tochter im Swimmingpool ertränken wollte (Spanien)
Aischylos, Orestie (Griechenland)

Viel Spaß und frohes Fußballgucken.

 

Wenn Henker kommt

Am 22.10 ist der Welttag des Stotterns. In der Literatur ein sehr seltenes Thema. Romanhelden sind oft mit allerlei Widrigkeiten versehen: Schwindsucht, Drogensucht, dicke Füße, Magenproblemen, hartem Husten oder auch Lähmungen, aber Stottern tun sie fast nie. Es ist ja auch schwer die Ladehemmung beim Sprechen textlich darzustellen. Meistens in plumpen Konsonantenwiederholungen, ja, aber wirkt das nicht ein bisschen billig? Unlängst erschien ein Roman des Briten David Mitchell, der einen Stotterer zur Hauptfigur hat. Der dreizehnte Monat heißt das Buch und es ist nicht nur ein wunderbarer Adoleszenzroman, sondern er schildert auch mit sehr viel Witz und Einfallsreichtum, wie sich Stottern anfühlt und welche alltäglichen Probleme es einem Stotterer bereiten kann:

„Das N kam ganz normal, aber je mehr ich versuchte, den Rest mit Gewalt herauszupressen, desto enger Zog sich die Schlinge um meinen Hals. (…) Wenn Stotterer stottern, quellen ihre Augäpfel vor, sie zittern vor Anstrengung und laufen knallrot an wie zwei gleich starke Armdrücker, und ihr Mund geht auf und zu wie ein Fisch im Netz.“

Der Erzähler Jason gibt seinem Stottern einen Namen: Henker. Und der bereitet ihm arge Schwierigkeiten.

„Zwanzig Millionen Wörter beginnen auf N oder S. Abgesehen davon, dass die Russen einen Atomkrieg anfangen, ist meine größte Angst, dass Henker sein Interesse für Wörter auf J entdeckt, denn dann kann ich nicht mal mehr meinen Namen sagen. Ich müsste eine Namensänderung beantragen, aber das würde Dad nie im Leben erlauben.“

Abgesehen davon liefert der Roman die wohl schönste Beschreibung eines verbogenen Fahrrads, die ich je gelesen hab: „Das Fahrrad sah aus, als hätte Uri Geller es zu Tode gefoltert.“