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Es hat wenigstens nicht geregnet damals – Überlegungen zum 9. November

Seit meinem Umzug am Wochenende kommt mir die Welt verändert vor. Eine nackte kleine Glühbirne baumelt nur von der Decke, die, weil ich von Deckenhöhe nie genug bekommen kann, erst 6 Meter weiter über der Gammel-Matratze mit dem Raum Schluss macht.
Alles ist noch ganz weiß und leer und begleitet durch die im Nichts wiederhallenden Fragen: Wo sind die Gläser? Wo ist der Schlüssel? Bohrer? Schrauben verloren? Wo ist mein Fahrrad? Was ist mit dem Wetter?
Ja ja, das Wetter, denken Sie jetzt. Wenn ihr sonst nichts einfällt, erzählt oder schreibt sie eben über das Wetter. Das stimmt natürlich. Aber das Wetter ist grundsätzlich auch viel zu unterschätzt. Nichts kann uns so die Laune und das Wochenende vermiesen wie eine falsch platzierte Wolke am Himmel. Es bleibt nichts anderes übrig, als melancholisch zu werden, den Kopf gegen die Fensterscheibe knallen zu lassen und die herbafallenden Tropfen zu zählen. War das eigentlich schon immer so, dass der November so gnadenlos hässlich kalt und verregnet war? Schauen wir zurück auf den November vor zwanzig Jahren, der so gut dokumentiert im Fernsehen nachzuschauen und in Zeitungen nachzulesen und in Bilderbüchern nachzugucken ist. Da war kein Regen, der die winkenden Dauerwellenrevolutionäre in und um die Trabis herum irgendwie die Laune hätte verregnen können. Da sieht man eine klare Nacht, in Anoraks gepackte Weltveränderer, fröhliche rote Nasen.
Was wäre passiert, wenn es so trübe und unnachgiebig gewettert hätte, wie an diesem gerade ausklingendem Wochenende?
Ich persönlich hätte mir das sehr genau überlegt, ob ich zum Brandenburger Tor gehe, eine Mauer einrenne oder darauf bestehen soll, noch weiter weg von zu Hause gehen zu können. Ich hätte, wie gestern, aus dem verschmierten Fenster meiner neuen Wohnung geblickt, hinein in eine graue Mauer, in einen grauen Nebel, mit grauem Regen und hätte, wie ich das gestern auch getan habe, gesagt: „Sollen doch andere die Welt umwerfen. Mir ist das zu kalt. Und der Regenschirm ist auch verschwunden. In den Kartons.“
Weil ich mit Trägheit nicht gern allein bin, hakte ich im Freundeskreis nach, wo es auch nicht besser aussah: Jakobs Katze hat im Regen das Auto nicht kommen sehen und wurde deshalb überfahren, Jules Freund ist in eine andere Stadt gezogen, auch wegen des Wetters, sagt sie. Auch Christoph hat Magenprobleme. Und weil gestern auch mein Fahrrad von Deppen geklaut wurde, denen der Wind auch die letzten paar Fusseln aus dem Gehirn geweht hat, stieg ich in S-Bahn, und setzte mich neben ein Mädchen, dass sich gerade ihrer Taschen und Jacken wütend entledigte und angewidert in ein Schinken-Käse-Remouladen-Bäckersbrötchen biss, aus dem seitlich ein müdes Blatt Salat herausbaumelte. Sie kaute und fing plötzlich an, entsetzlich zu weinen. Sie biss entschlossen in den Nahrungsgegenstand. Die Remoulade tropfte, ihre Tränen auch und, weil man höflich wegguckt in so einem Moment, sieht man auch draußen die Tropfen gegen die Scheiben knallen. Entsetzlich. Man muss sich diese kollektive Depression nur vor 20 Jahren vorstellen. Gebückt und geschlichen wären ein paar noch seelisch stabile und die wenigen wetterresistenten Leute an die Grenzsoldaten getreten und hätten auf den „Guten Tach“-Gruß des Beamten wie IA aus Winnie Puh gesagt: „Guten Tag? Wenn es denn ein guter Tag ist. Was ich bezweifel.“ Und was wäre das für eine Revolution geworden? Zum Glück verlief alles ganz anders, als an diesem Wochenende. Und das vor allem, weil es nicht regnete. Unterschätzen wir die Wetterlage also besser nicht. Sie kann nicht nur die Laune, sondern eine ganze Bewegung versauen.
Ich möchte hier noch einmal eine Schleife ziehen, um den Text ordentlich und faltenfrei zu verpacken. Heute morgen nämlich steige ich in die S-Bahn und treffe dieses Mädchen wieder. Es telefonierte mit einem gewissen „Schatz Mobil“ wie ich sehen konnte, weil ich neben ihr Platz nahm. Ihrem „Schatz Mobil“ sagte sie dann: „Beweg deinen Arsch endlich nach draußen. Regen hin oder her. Reiß dich doch mal zusammen.“

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Jana Hensel, Achtung Zone – Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten
Piper Verlag, München 2009, 14,95 Euro.

 

Günter Grass und das Geheimnis der Menschheit

Ich würde nie behaupten, der Auftritt von Günter Grass sei großspurig oder sogar breitbeinig. Nein, es ist viel schlimmer. Er ist im ersten Moment sympathisch. Er erregt Mitleid. Er wirkt zart und eingesunken, der arme geschundene, ausgeschimpfte alte Mann, der mal was bei den Nazis gemacht hat. Günter Grass ist diese kleine nette arme Schnecke, die man beschützen möchte, ihr den Weg frei räumen, eigentlich am liebsten ins Grüne, Freie und Friedliche hinaustragen tragen will.

Aus den Büchern "Im Schneckengang" oder "Beim Schälen eines Schneckenhauses"
Aus den Büchern "Im Schneckengang" oder "Beim Schälen eines Schneckenhauses"

Im ersten Moment denkt man so etwas. Aber Günter Grass ist nicht zum anschauen da, der Mann redet und das besonders viel, umfassend, großkalibrig, ernst, die Gesamtsituation überschauend. Und die Gesamtsituation ist schlecht. Ja, schrecklich. Für Grass ist die Welt aus den Fugen geraten. Angefangen bei den Nazis, die eine gesamte Nation grassisch ausgedrückt verführt hat, aber „wir haben uns aber auch – und Achtung – verführen LASSEN!“. Das klingt so ungeheuer schön pathetisch und tragisch, dass sich Grass ein wenig darin zu baden beginnt während Fragen des Journalisten mit viel Einfallsreichtum umgangen werden. Im übrigen, schließt er jetzt die verführerische Nazigeschichte, falle ihm da auch China ein, und wo wir gerade bei China sind, die ganze Welt ist ja furchtbar, denn jeder Sechste Mensch in der Welt hungert und keiner tut etwas dagegen. Dabei vergisst er natürlich nicht, noch das Thema der Deutschen Einheit und den Wir-sind-das-Volk Gedanken erneut auszubreiten. Aber die Geschichte verführt dazu ja auch und ist manchmal ein großer leuchtender Süßigkeitenladen.

 

Man kann es auch Sprache nennen

Hier zwischen den Hallen, in den schmalen Gängen, wo gedrängelt und getrunken werden kann, hier in der Enge der Buchmesse wohnt auch die Sprache:

Ein außerordentlich kluger Kollege fragt die nette Servicekraft hinter der Theke nach einer Apfelschorle. Sie zapft ordentlich und ruckelt an einer Maschine rum. Ein prickelnd gelbes Getränk stellt sie auf die Tresen. Schaum schlägt sich am Glas nach oben. „Ist das Bier? Ich wollte doch eine Apfelschorle?“, fragt der Kollege als Kunde.

Sie dann: „Sie können das schon auch als Apfelschorle trinken!“

Sprache hinterlässt so viele Fragen!!!