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Deutschland – Uruguay 3:2

 

© Rodrigo Arangua/AFP/Getty Images
© Rodrigo Arangua/AFP/Getty Images

Forlan will unsere moralischen Erörterungen in die Verlängerung schicken, doch sein Freistoß in der 93. Minute geht an die Latte. Endstand 3:2 für Deutschland. Eine aus deutscher Sicht aufregende WM geht mit einem unterhaltsamen Spiel zu Ende und lässt uns mit vielen schwer wiegenden Fragen zurück, etwa dieser: Trägt Urs Siegenthaler einen Fiffi?

Morgen geht es an dieser Stelle weiter mit dem Final-Live-Blog des Kollegen Christian Spiller. Ich tippe auf Holland, man freut sich ja mittlerweile über Siege des Nachbarlands. Daher drücke ich Oranje die Daumen, muss aber gestehen, dass ich bei jedem holländischen Tor einen feuchten Anflug in meinem Nacken spüre. Muss auf Erfahrungen in meiner Jugend zurückgehen.

88′ Darf ein Trainer sich freuen, dass der Stürmer, den viele fordern und den er meist auf die Bank setzt, vorbeischießt? Damit er Recht behält, was ja eine wichtige Trainerwährung ist. Kießling vergibt gerade kläglich das 4:2.

82′ Noch eine knifflige Frage: Ich hab vor dem Turnier mit einem Twitter-Follower gewettet, dass Khedira bei dieser WM zwei Tore macht. Jetzt hat er mit seinem ersten nach einer Ecke Deutschland 3:2 in Führung gebracht. Angenommen, er macht noch eins, gilt das denn im Spiel um Platz 3? Darf ich mich dann als Sieger fühlen, obwohl ich das jetzt so ja nicht gemeint hatte? Und muss ich jetzt hoffen, dass noch der Ausgleich fällt, damit er in der Verlängerung dreißig weitere Minuten Zeit hat? Und angenommen, Khedira hätte selbst auf sich gewettet – dürfte er gleich ein Eigentor schießen?

76′ Das Löw-Dilemma: Je besser Kießling, gerade eingewechselt, spielt, desto eher wird sich der Trainer anhören müssen, warum er zuvor immer wieder auf Gomez setzte. Und schon wird Kießling zum ersten Mal auffällig. Darf ein Trainer hoffen, dass sein Spieler schlecht spielt, sein Stürmer das Tor nicht trifft, damit ihm, dem Trainer, nicht die Argumente ausgehen? Es ist ein schwieriger Job, glauben Sie mir.

62′ Löw fordert einen indirekten Freistoß für einen Rückpass. Dabei fällt mir Markus Merk ein, dreifacher (jetzt bitte dazudenken, wie ich mit den Zeige- und Mittelfingern beider Hände Anführungszeichen in die Luft male) Weltschiedsrichter des Jahres. Dessen vierminütige Nachspielzeit im Mai 2001, als Bayern in Hamburg Meister wurde, fand ich, nebenbei gesagt, aber mal so was von rechtspositivistisch.

56′ Mich dürft Ihr meinetwegen als chauvinistischen Homophoben bezeichnen, aber bitte nicht als schlechten Fußballer. 2:2 durch Jansen auf Flanke Boateng. Der HSV ist unsre Rettung, hab ichs nicht gesagt?

51′ Ich habe mal mit einem hochrangigen Soziologen über Fußball diskutiert. Für ihn war „Positivist“ das gröbste Schimpfwort. Dummkopf, Bayernfan, Blödheini, das alles konnte man ihn schimpfen. Aber Positivist – da verlor er die Fassung. So sind sie, die Adorno-Fans. 2:1 übrigens für Uruguay durch ein Traumvolley, seitfallziehend, Forlans auf Flanke von Arevalo.

48′ Was mich auch interessieren würde: Wie reagieren eigentlich die deutschen Spieler auf die Buhrufe für ihren Gegenspieler, was empfinden Sie dabei? Können die Field Reporter das nach Abpfiff bitte mal fragen? Finde ich ohnehin spannend, die Spieler nach ihren Gegenspielern zu fragen. Statt also: „Wie groß ist die Freude über den Sieg?“ Besser: „Wer war Ihrer Meinung nach der beste Spieler beim Gegner?“ Spiel geht übrigens weiter, Butt verhindert das 1:2.

Man kann natürlich sagen, Suarez wurde regelgerecht bestraft – und damit hat es sich. Aber das wäre ja ein erster Schritt zum Rechtspositivismus. Haben Gesetze nur Buchstaben, nicht auch einen Geist? Im übrigen bin ich der Meinung, dass das deutsche Spiel an einer Überdosis HSV leidet.

Halbzeit 1:1 Zwei motivierte Mannschaften: Deutschland will das Spiel machen, Uruguay kontern. Abwechslungsreich mit einigen Tricks angereichert. Uruguay dem Führungstor näher.

40′ Suarez, der gerade am langen Ecke vorbeischoss, wird bei jedem Ballkontakt vom Publikum ausgebuht, weil er im Viertelfinale den Siegtreffer Ghanas mit der Hand abwehrte. Die Empörung über diesen Regelverstoß fand ich intuitiv naiv. Je mehr ich darüber nachdenke, muss ich mich aber fragen, ob ich schon zum Zyniker geworden bin. Brechen Gentlemen die Regeln, nur damit es ihnen zum Vorteil gereicht?

28′ Tor für Uruguay 1:1 Cavani Blitzsauber Konter. Ein Ballverlust des hamlethaft zögernden Schweinsteigers (ist ihm in diesem Moment der Geist Ballacks erschienen?) an Perez bringt Uruguay in ein 3:2-Überzahl. Der Rest ist Kreuzen, ein gut getimter Pass von Suarez und ein genauer Abschluss.

18′ Tor für Deutschland 1:0 Müller Abstaubertor, Müllertor. Schweinsteiger jabulanit aus dreißig Metern, und Müller hat das Näschen, während alle Urus stehenbleiben. Wie haben wir ihn vermisst, den Müller? Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, dass er das letzte Mal gespielt hat.

10′ Arne Friedrich köpft an die Latte. Wen willst Du damit, mit Toren, noch überraschen, Friedrich? Friedrich ist eine der Personalentscheidungen, die Joachim Löw zu einem Gewinner dieser WM machen. Das sehen ja nicht alle so, im Internet habe ich viel Ärger über Löw und Rücktrittswünsche vernommen – was mich etwas erschrocken hat. Ist das Internet der Fußballstammtisch und hat Bild und DSF abgelöst? Aus manchem Blog-Post, aus manchem Tweet sprach billige Besserwisserei, Haudraufpolemik, genau das also, was man dem „alten“ Fußballdeutschland vorgeworfen hat.

4′ Rüdes Foul von Aogo, Gelb. Im Amateurfußball würde man jetzt reinrufen: „Mach doch langsam! Wir müssen morgen alle wieder arbeiten.“ Diese Ermanung würd ja heute auch passen.

Letzte Vorbemerkung: 34, 70, 2006, 2010! Lässt sich das singen? Wollen wir das überhaupt? Will Deutschland den Weltmeistertitel der Herzen verteidigen?

Aufstellungen

Deutschland Butt – Boateng, Mertesacker, Friedrich, Aogo – Schweinsteiger (C), Khedira – Müller, Özil, Jansen – Cacau
Uruguay Muslera – Fucile, Godin, Lugano (C), Cáceres – Cavani, Pereira, Arevalo, Perez – Forlan, Suarez

19:55 Als ich Bernd Hoffmann, den HSV-Vorstand, in einem Hintergrundgespräch mal danach fragte, ob er die Elf von Athen aufsagen könne, also die HSV-Mannschaft, die 1983 das Europapokalfinale der Landesmeister und damit den bislang letzten wichtigen Titel für Hamburg gewann, wollte er mich auch auf dem falschen Fuß erwischen: „Wissen Sie“, erwiderte er, „wer 1970 im Spiel um Platz 3 stand und wer das Tor schoss?“ Das war für mich nun wahrhaft kein Problem. Für alle Freaks – hier ist das Video. Das Spiel ging dann zwischen ihm und mir noch ein bisschen weiter. Über das Ergebnis zu sprechen, verbietet mir meine Erziehung.

19:40 Tschüs, Günter Netzer! Ich wäre bei Ihrem Abschied noch wehmütiger gewesen, wenn Sie vor vier oder sechs Jahren gegangen wären. Anfangs war das erfrischend, was Sie mit Sidekick Delling machen. Zwischendurch begann Ihre demonstrative Drögheit, mich zu langweilen. Eine kurze Würdigung per Best-of:

19:35 Thomas Tuchel, der Mainzer Trainer, ist ein interessanter, wenn auch nüchterner Gesprächspartner. Zu Fußballfachlichem hat er einiges zu sagen. Man sollte sich auf jeden Fall aber gut vorbereiten, wenn man ihn an die Strippe gezogen hat. Das habe ich auch getan, als ich im Frühjahr mit ihm telefoniert habe. Nicht alles, dass ich noch die Stärken und Schwächen der Ersatzspieler der Mainzer C-Jugend recherchiert hätte. Meine Prognose: Tuchel wird bald einer der führenden Trainer in Deutschland sein. Weil er Fußball gedanklich durchdringt. Und weil er fleißig ist. Und weil ich die Ahnung habe, dass das nicht für alle Bundesligatrainer in gleichem Maße gilt.

Heute hat Tuchel in einem Gespräch mit der FAZ erläutert, was er von der WM gelernt hat:

„Laufwege, offensive Laufwege vor allem, wenn die deutsche Mannschaft im 4-2-3-1-System spielt, sind viele gute Sachen dabei, die wir unseren Spielern demonstrieren können. Oder das Verteidigerverhalten von Brasilien mit seinen überragenden Innenverteidigern. Bei Mexiko das Passspiel, das Spielen und Gehen. Ballzirkulation, Freilaufverhalten oder die Angriffsauslösung bei Spanien, wenn die durch die Mitte das Tor bedrohen und spät erst auf die Außen gehen.“

Kann mir gut vorstellen, dass sich Tuchel und seine Assistenten die Nächte mit DVDs zurückspulen. Und vor- und zurückspulen, und vor- und zurückspulen … Neben viel Lob für Joachim Löw oder den südamerikanischen Fußball lesen wir von Tuchel auch Offenes über Michael Ballack:

„Als er ausfiel, hatte ich ein sehr schlechtes Gefühl. Ballack ist nun mal auf Jahre hinaus bei allen Trainern in Chelsea Stammspieler gewesen und total anerkannt. Deshalb halte ich es für unfair, jetzt eine Debatte aufzumachen, dass seine Verletzung ein Glücksfall fürs Team war. Ballack wird momentan ziemlich falsch bewertet.“

19:05 Ein überaus lesenswertes politisches WM-Fazit hat Arne Perras in der SZ verfasst, in dem er die vorurteilsbeladenen Warnungen vor dem gefährlichen Standort Afrika als gegenstandslos entlarvt. Man könnte auch sagen, dass er Uli Hoeneß zurechtweist:

„Es fällt Europa immer noch schwer, über Afrika nachzudenken, ohne neokolonialen Reflexen zu erliegen. Der Erfolg der WM hat nun einige frische Gedanken angestoßen: Jenseits des schaurig-schönen Bildes vom Chaos- und Katastrophen-Kontinent muss es noch ein anderes Afrika geben. Wenn diese Einsicht weltweit durchgesickert ist, dann kann man die Fußball-WM tatsächlich als bemerkenswertes Ereignis der Völkerverständigung betrachten. Das jedenfalls ist der wichtigste Gewinn, den sich Südafrika mit dem Turnier erkämpft hat. Es ist dies nicht das Verdienst Sepp Blatters und seiner Fifa; es ist die Frucht eines afrikanischen Ehrgeizes, der das Land viele Monate lang beflügelt und getragen hat. Südafrika wollte der Welt zeigen, wozu es fähig ist. Und es hat den Plan durchgezogen.“

An anderer Stelle heißt es mit Blick auf Joseph Blatter:

„Die WM in den afrikanischen Winter zu legen, war eine absurde Entscheidung der Fifa. Nur den Afrikanern konnte man diese Frechheit zumuten, weil man sie eben nicht besonders ernst nimmt. Es hieß dann immer wieder, dass es zu schwierig gewesen wäre, den Zeitplan der WM umzustellen. Unmöglich war es nicht. Allein der Wille fehlte. Nun wunderten sich manche, warum die Fanparks in Südafrika so verwaist waren. Können diese Afrikaner nicht feiern? Und können sie sich nicht auch mal für andere Mannschaften begeistern? Natürlich können sie. Aber nicht da draußen, in eisiger Kälte.“

18:10 Das Spiel um Platz 3 – Trost oder Strafe? Zwei Verlierer treffen aufeinander, zwei Verlierer, die vor wenigen Tagen ein WM-Finale verpasst haben. Treffen sich heute also die Typen, die auf der Party keine abbekommen haben, am Morgen danach zum Restesaufen? Kennt die Fifa, die auf diese Extrarunde besteht, nicht das Sportlermotto „Lieber Tod als Bronze“?

Für Miroslav Klose geht es heute immerhin um die Torjägerkrone. Nicht mal unbedingt dieses Turniers, sondern die ewige (wobei sich ewig entgegen des Wortsinns natürlich auf die zurückliegende Zeit bezieht). 14 hat Klose auf dem Konto – einen für Ronaldo, zwei zur ganzen Welt. Doch Klose spielt gar nicht mit, hat Rücken, kommt allenfalls als Joker. Stattdessen sehen wir Cacau, auch Jansen und Aogo sind am Start.

Unterstreicht das die Überflüssigkeit des Spiels um Platz 3? Vielleicht. Aber, liebe Leser, liegt das Beiwohnen eines Sportereignisses nicht gerade im Genuss des Überflüssigen, in der Freude am Irrelevanten? Und man denke nur zurück an die WM 2006, an die Gänsehautstimmung in Stuttgart, als einem sogar Oliver Kahn die Augen zum Überlaufen brachte.

Einfach und anders gesagt, in zwei Stunden ist es endlich wieder soweit! Es gibt Fußball! Und beim Restesaufen ist es doch auch so: Der erste Schluck mag noch bitter schmecken, aber dann …

Wir freuen uns auf Ihre Kommentare, bis zum Anstoß um 20.30 Uhr unterhalten wir Sie mit ein paar fußballnostalgischen Takten Musik: