Sie werden lachen, aber so eine WM ist eine anstrengende Sache. Das Turnier hat noch nicht einmal begonnen, schon hat mich der brasilianische Alltag so gut wie verschlissen. Dass ich mit meiner Wohnung in Rio de Janeiro auch zwei Katzen gemietet habe, kann ich, obwohl eher Hundetyp, noch verschmerzen. Sie verheddern sich am liebsten in meinen mitgebrachten Ladegeräten, von denen eines (Smartphone) problemlos in brasilianische Steckdosen passt, das andere (Notebook) jedoch nicht. Ein technisches Rätsel, das ich wohl bis zum Finale nicht gelöst haben werde.
Schon anstrengender: Für den Erwerb einer brasilianischen SIM-Karte sollte man sich als Ausländer mindestens einen halben Tag Zeit nehmen. Nur das geballte Wissen von etwa sechs SIM-Karten-Verkäuferinnen kann am Ende des (halben) Tages weiterhelfen. Wer dann fröhlich aus dem Laden läuft und träumend eine erste SMS in die Heimat tippt, der wird durch die Gefahren des Straßenverkehrs wachgerüttelt. Autos und Busse brettern durch Rios Straßen, dass einen der Fahrtwind fast vom Bürgersteig fegt.
Und selbst am Strand, dem Sehnsuchtsort jedes Teutonen, ist alles nicht so einfach. Schon von Weitem fallen wir auf, mit unseren blassen, schlappen Körpern. Die Brasilianer sitzen breitbeinig daneben, grinsen und streicheln über ihre braun gebrannten, öligen Muskeln. Wer es dann noch wagt, ein Buch in die Hand zu nehmen, braucht sich nie wieder hintrauen. Ein Buch! Am Strand! Wo es da doch so viel zu sehen gibt. Gehst du auch mit einem Buch ins Fußballstadion? Das fragte mich mal ein braun gebrannter, öliger Muskelmann.
Ja, sie raubt schon jetzt Kraft, diese WM. Doch es gibt Hilfe. Eine kleine, dunkelblaue Beere wird mich durch das Turnier tragen. Eine wahre Wunderbeere, ohne die in Rio de Janeiro schon längst nichts mehr geht. Sie ist eine natürliche Droge, Rios Red Bull, bloß ohne Dosen. Vergessen Sie die Strände, den Samba, den Jesus. Der einzig wahre Grund in diese wundervolle Stadt zu reisen heißt: Açaí.
Vor 20 Jahren kannte die kleine, dunkelblaue Beere außerhalb der Amazonas-Region noch niemand. Sie wächst nur dort auf den sogenannten Kohlpalmen. Mittlerweile ist sie Teil der brasilianischen Strandkultur. Jede Saftbar, jeder Sandwichladen, der sie nicht im Angebot hat, kann eigentlich dicht machen. Die Beere macht stark, gibt Energie und soll auch als Aphrodisiakum wirken. Es gibt Erzählungen, wonach sich der Kinderwunsch bei einigen brasilianischen Paaren erst nach regelmäßigem Açaí-Konsum eingestellt hat.
Dabei sieht das Zeugs zunächst einmal aus wie ein Haufen Schlamm. Açaí wird halbgefroren als eine Art Sorbet gelöffelt. Der Geschmack erinnert an eine Mischung aus Himbeeren, dunkler Schokolade und einer Handvoll Mutterboden. Erst nach einem halben Becher fängt es an, zu schmecken. Nach zwei Bechern ist man süchtig.
Açaí soll vor Herzinfarkt und Krebs schützen. Die Beere strotzt vor Vitaminen und hat Kalorien ohne Ende. Oft gibt es sie mit viel Zucker, geschreddertem Müsli und anderen zermanschten Früchten. Die großen Becher nennen sich dann Açaí Bombada oder Super Energético. Wie gemacht für die körperbessenen Cariocas, die Einwohner Rios. Tim Wiese würde es lieben.
Das Schöne an der Beere: Sie verdirbt schnell, weshalb sie in ihrer echten Form nicht weit über Brasilien hinauskommt. In den USA gab es vor ein paar Jahren mal einen Boom, allerdings mussten die Amerikaner sich mit der Pulverform begnügen. Ein toller Anachronismus im Zeitalter der Globalisierung: In einem Teil der Welt wollen es alle, in einem anderen hat man noch nie etwas davon gehört.
Darauf ein Buch am Strand.