Fern hallt das Rattern ihrer Dieselmotoren. Noch kann ich sie in der schwarzen Nacht Brasiliens nicht sehen, weiß nicht, ob sie sich nähert oder ob sie sich entfernt. Das Rattern verrät es nicht. Ich sehe ein schwaches Licht, das stärker wird. Eine Maschine taucht auf aus dem Dunkel, gespenstisch, archaisch wie der Flammenwerfer in Dr. No, einem der ersten James-Bond-Filme aus den 60ern, mit dem der Bösewicht die Inselbewohner glauben machte, er wäre ein feuerspeiender Drache. Das ist sie, die Fähre von Santo André, die mich und die vielen anderen Wartenden über den Rio João de Tiba bringen wird, der den nördlichen vom südlichen Teil des Dorfs trennt.
Ich bin während meiner Zeit in Brasilien wie die meisten deutschen Journalisten auf der südlichen Seite des Dorfes untergebracht. Was bedeutet, dass wir fast jeden Tag zwei Mal auf den Drachen warten. Einmal morgens, einmal abends nehmen wir die Fähre. Morgens zum DFB-Camp auf der Nordseite, abends nach Hause.
Der Fährunternehmer hat auf die Anwesenheit der vielen Journalisten reagiert, er setzt eine zweite Fähre ein. Die eine heißt Dodo, die andere Cascavel. Cascavel ist der große Bruder von Dodo. Ich glaube, ich kann ihr Rattern auseinanderhalten. Vielleicht täusche ich mich aber auch.
Cascavel trägt etwa zwölf Autos. Oft machen sich auch Kleinbusse oder Transporter breit, neulich gar ein Wagen mit Pferden. Sie scheuten nicht auf während der Fahrt, vermutlich hat sie das Rattern beruhigt. Auch an Bord: viele Fußgänger. Manche von ihnen lassen ihr Auto auf der einen Seite stehen und steigen auf der anderen bei Kollegen zu. Dodo und Cascavel bringen uns zusammen.
Vorbei ziehen wir an einer Dschungellandschaft aus Sumpf, Kokosnuss- und Mangrovenbäumen. Wir passieren ein Stück Land, das kein Tourist betreten wird. Leben dort wilde Tiere? Wir fahren nur wenige Meter vom Ufer entfernt, es ist eine andere Welt.
Die Fähre ist ein Zeitfresser. Erst wartet man, dann treibt sie in stoischer Langsamkeit dem anderen Ufer entgegen, das hinter einer Biegung liegt. Auch Auf- und Abladen dauert. Die Polizei hat Vorfahrt. Als ich einmal vom Camp zurück auf die andere Seite musste, um Geld abzuheben, hat mich das zwei Stunden gekostet. Auf der Fähre pulsiert das Leben Brasiliens, und zwar in einer sehr niedrigen Frequenz.
„Hier kommt man runter“, sagen alle, oder „eine herrliche Entschleunigung“. Auf der Fähre finden wir die Ruhe und Konzentration, um all die wichtigen Informationen und Eindrücke aufzunehmen, die auf den Pressekonferenzen und Trainingseinheiten auf uns einprasseln.
Egal wann und auf welcher Seite man aufsteigen will, es bildet sich eine Schlange von Autos, Motorrädern und Lastern. Ein Junge verkauft aus dem Rollwagen Wassereis am Stiel mit Limettengeschmack. Ein mobiler Bäckerstand bietet Kaffee. Schnell noch einen für die Fahrt. Der erste schmeckte mir zu süß, inzwischen habe ich mich daran gewöhnt.
Auf und an der Fähre kommt man ins Gespräch. Hier hört man Reisetipps für Salvador oder die neuesten Gerüchte aus der Mannschaft. Oder Debatten über Spaniens 0:2 gegen Chile, Tiki-Taka ohne verliert gegen Tiki-Taka mit Testosteron. Manche wollen Spaniens Aus schon immer kommen gesehen haben. Andere sagen: „unglaublich“.
Beliebtes Thema unter Journalisten auf der Fähre: die Hierarchien der Medien und ihr Verhältnis untereinander. Können die Fernsehleute mit den Schreibern? Pflegen die Fernsehleute untereinander Rivalität? Wie verstehen sich Print und Online? Sind die Schreiber alle Fatzkes?
Auf der Fähre selbst gibt es keine Hierarchien. Auf der Fähre sind wir alle gleich. Ob Bild oder Lokalzeitung, ob Sport1 oder Hörfunk. Wer ein bisschen Portugiesisch kann, spricht mit den Einheimischen in ihren gelben Trikots. Neulich fuhr die DFB-Spitze um den Präsidenten Wolfgang Niersbach mit. Dodo fuhr nicht eine Spur schneller als sonst. Und sein Diesel ratterte wie immer.
Auch die deutschen Spieler müssen übers Wasser, allerdings nur zu den Spielen. Nach dem Sieg gegen Portugal sangen sie auf der Fähre, sie heulten den Mond an, wollten das Rattern übertönen.
Jetzt ist es früher Abend, in Brasilien heißt das Nacht. Nachts fahre ich am liebsten. Jetzt hört man das Klopfen der Diesel besonders. Und man sieht nur die Silhouette des Dschungels im Mondlicht, sie zieht langsam vorbei. Jemand Das Herz der Finsternis von Joseph Conrad gelesen?
Auf einem der Laster ruht sich ein Arbeiter aus. Er hat sich auf die Bierkisten gelegt, ein Bein ist angewinkelt. Als Dodo mit zwei knallenden Schlägen seine Rampe an das Betonufer kratzt, wacht er auf. Am Kiosk neben dem Ticketverkauf sitzen deutsche Journalisten und verqualmen ihren Feierabend. Dem kleinen Fernsehgerät entfährt ein Torschrei. Kroatien hat getroffen.
Ich hab sie verflucht, ich hab ihr hinterhergerufen, dass sie doch noch zwei Minuten auf mich hätte warten können. Ich habe mich geärgert, als ich auf Cascavel wartete und Dodo an der Rampe an uns vorbeidrängelte. Was Dodo mit heißen Abgasen erwiderte. Doch nicht erst jetzt, wo er mich wieder mal sicher ans Ufer schifft, wird mir klar: Ich werde sie nie vergessen, sie wird mir fehlen, die Fähre, die mich zu Jogi Löw bringt, und das Rattern ihrer Diesel.