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Im Nachtbus nach Rio de Janeiro

 

Busarmada an der Raststätte nachts um drei Uhr
Busarmada an der Raststätte nachts um drei Uhr (Foto: Christian Spiller)

Ich fliege nicht gern. Ich hasse die Starts, mag keine Landungen und dazwischen ist es auch nicht viel besser. Leider ist dieses Brasilien verdammt groß und ich habe mein WM-Büro in Rio de Janeiro bezogen, in jener Stadt, auf deren Inlandsflughafen man nach einem der irrsten Landeanflüge der Welt aufsetzt. Sie können das ja mal googlen, Santos Dumont heißt der Flughafen, die Startbahn ist kurz und der Zuckerhut im Weg, weshalb die Piloten kurz vor der Landung eine fiese Kurve fliegen müssen. Nichts für mich, wirklich nicht.

Also fahre ich Nachtbus.

Nachtbusse sind in Brasilien die Flugzeuge des kleinen Mannes. Fliegen ist zwar billig hier, aber Nachtbusse sind billiger. Eine Nacht gibt es schon für 30 Euro, so günstig ist kein WM-Hotel. Die Busse sind modern, sauber, in vielen gibt es sogar Fleecedecken, Nackenkissen, Knabberzeugs und Kopfhörer gratis. Sie sind zudem überaus pünktlich und fahren überall hin, kreuz und quer durch das ganze Land. Das Herz einer brasilianischen Provinzstadt ist der Busbahnhof. Wer genug Sitzfleisch hat, kann von Porto Alegre im Süden bis nach Belém im Norden fahren. 4.000 Kilometer in 64 Stunden, ein Drei-Nächte-Bus sozusagen.

Trotzdem ist eine Nachtbusfahrt die Hölle. Vielleicht bin ich ein mitteleuropäisches Pinzchen. Aber immer wenn ich im Morgengrauen aus einem Nachtbus falle, fühle ich mich nicht, als ob ich in einem gefahren wäre, sondern er über mich drüber. Nicht nur einmal, sondern 64 Stunden lang.

In Brasilien ist jeder Ayrton Senna

Das liegt vor allem am Fahrstil der Busfahrer. Jeder einzelne von ihnen möchte das Vermächtnis seines Landsmanns Ayrton Senna fortführen, des größten Rennfahrers aller Zeiten. Und so prügeln sie über brasilianische Landstraßen als säße ihnen Alain Prost im Nacken. Kaum eine Kurve, die nicht voll ausgefahren wird. Gebremst wird erst, wenn die Räder auf der Kurveninnenseite die Bodenhaftung verloren haben. In Verbindung mit den Lombadas, das sind brasilianische Bodenwellen aus Beton, die all die Pseudo-Sennas zur angemessen Geschwindigkeit erziehen sollen, wird der Passagier im Bus umhergeschleudert wie eine Socke in der Waschmaschine.

Der nächste Killer: die Klimaanlage. Immer volle Pulle. Wenn sich wieder einmal ein brasilianischer Fußballer in Deutschland über den strengen Winter beschwert, ist er wahrscheinlich nie Fernbus gefahren. Die Busse sind mit Sicherheit die kühlsten Orte im ganzen Land. Es sind auch die einzigen, an denen ich Brasilianer mit Daunenjacken gesehen habe. Kein Scherz, die Jungs und Mädels sitzen mit Winterjacken im Bus, wahrscheinlich sind die Klimaanlagen eine Erfindung der Jackenindustrie.

Schön sind auch die regelmäßigen Pausen. Klar, die Fahrer müssen sich erholen, die Passagier aufs Klo und an den Futtertrog. Doch nachts um drei vom grellen Neonlicht einsamer Raststätten aus den einzigen zehn Minuten Schlaf in den nächsten sechs Stunden gerissen zu werden, ist wenig erbaulich. Ich schwanke dann der Meute hinterher, die zuerst geschlossen auf die Klos trippelt, die riesig wie eine Turnhalle sind.

Anschließend wird man durch das angeschlossene Restaurant mit Buffet gelotst. Sie glauben gar nicht, wie viele Menschen sich mitten in der Nacht den Bauch vollhauen. Weil die Brasilianer verrückt nach Bohnen sind, können Sie sich auch vorstellen, wie es nach sechs Stunden in so einem Bus riecht.

An der Raststätte nachts um drei Uhr (Foto: Christian Spiller)
An der Raststätte nachts um drei Uhr (Foto: Christian Spiller)

Wer nicht pennt, weckt andere

Nach dem Essen ist es dann oft gar nicht so einfach, den richtigen Bus wiederzufinden. Weil Nachtbusfahren in Brasilien hipper ist als Sambatanzen, stehen dort manchmal 20 Busse nebeneinander. Meist sehen sie gleich aus, weil sie von derselben Busgesellschaft sind. Jedes Unternehmen hat seine Lieblingsraststätten, in denen es sicherlich auf jede verspeiste Bohne ein bisschen Provision gibt. Wer im durchgeschleuderten Zustand nicht aufpasst, landet wieder am Ausgangsort.

Ein großer Spaß sind auch die anderen Mitfahrer. In dieser Hinsicht sind sich Flugzeug und Nachtbus gleich: Schon beim Einsteigen hofft man, dass der etwas kräftigere, schnaufende Bluthochdruckpatient nicht derjenige ist, dessen Körper in den kommenden sechs Stunden über die Armlehne quillt. Des Öfteren spürt man einen Kopf, der nächtens übermüdet auf die eigene Schulter fällt. Das ist nur in absoluten Ausnahmefällen ein schönes Erlebnis.

Doch auch ich, der Deutsche, bin ein Ärgernis in solch einem Nachtbus. Weil ich nicht schlafen kann, wälze ich mich hin und her und habe damit schon manchem Sitznachbarn tiefe Ringe unter die Augen gegraben. Neulich ist mir beim Wälzen mein Handy aus der Hosentasche gefallen. Es landete auf dem Boden, mit einem Scheppern, das mitten in der Nacht einem startender Düsenjet nahe kam. Sofort waren alle wach, meine Sitznachbarn und deren Nachbarn und deren Nachbarsnachbarn. „Desculpa„, sagte ich und lehnte mich in die nächste Kurve.

Ein Brasilien-Blogger hat kürzlich zehn Gebote zum Busfahren aufgeschrieben. Zum Beispiel, auch nicht ganz unwichtig: Du sollst nicht in Nähe der Toiletten sitzen. Er resümiert mit dem zehnten, den letzten Gebot: Du sollst fliegen. Amen. Ich werde mir Santos Dumont nochmal genauer anschauen.