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Neonazis zieht es nach Neukölln

 

In der Nacht zu Mittwoch ist es mal wieder soweit. Die Geschäftsstelle von Bündnis 90/Die Grünen in Berlin-Neukölln. „Rache für Rudolf Heß“. In großen, schwarzen Lettern an die Hauswand gesprüht. Das Türschloss und die Schließvorrichtung beschädigt.  Nicht das erste Mal, dass im nördlichen Teil des Bezirks demokratische Kräfte – Gruppen wie Privatpersonen – Ziel rechtsextremer Gewalt werden.

Die Grünen erwischt es gar zum dritten Mal innerhalb weniger Monate. Beim ersten Mal war der Aufschrei groß. Beim dritten Mal scheint sich eine Art beklemmender Routine eingeschlichen zu haben. Und dass in einem Teil Berlins, der gerade wegen seiner Vielfalt immer wieder Gegenstand öffentlicher Diskussionen ist – positiver wie negativer. Erst waren es die Meldungen rund um die Rütli-Schule, dann die angeblich grasierende Jugendkriminalität und die hohe Arbeitslosigkeit. Dieser Tage müsste eigentlich viel über Nazis in Neukölln geschrieben werden.

Schlagzeilen? Fehlanzeige!

Es ist nicht lange her, da entdeckten Studenten und Künstler, Freiberufler und Angestellte den nördlichen Neuköllner Kiez zwischen Maybachufer, Sonnenallee und Hermanntrasse. Viele von ihnen kamen aus dem benachbarten Kreuzberg oder dem totsanierten Prenzlauer Berg. Seitdem ist die Szene hier zu Hause. Die latent rassistische Berichterstattung über den „Problemkiez“ Neukölln hat seitdem merklich abgenommen. Der „kriminelle Ausländer“ hat als Feindbild von BILD, B.Z. und Co. ausgedient. Vorerst. Dafür stehen Gentrifizierung und Mietsteigerungen auf der Tagesordnung. In Zukunft dürfte eine weitere beunruhigende Entwicklung für Zündstoff sorgen. Die zunehmende Attraktivität Neuköllns ruft nämlich auch gänzlich ungebetene Gäste auf den Plan. „Autonome Nationalisten“ und NPD-Sympathisanten terrorisieren systematisch demokratische Parteien, alternative Projekte, Bars und Cafés, Galerien und Ateliers.

Es begann vor ziemlich genau einem Jahr. Ein eingeschlagenes Fenster am Salvador-Allende-Haus.  Damals glaubte man noch, einen politischen Hintergrund ausschließen zu können. Spontaner Vandalismus, keine ernste Sache. Es folgte ein zweiter und ein dritter Anschlag im März diesen Jahres. In einer Erklärung des Salvador-Allende-Hauses heißt es: „Angesichts der Häufung von Überfällen und zahlreicher Indizien geht die Chile-Freundschaftsgesellschaft davon aus, dass auch dieser Angriff auf das Konto von Neonazis geht. Bei früheren Überfällen hatten die Attentäter u.a. Aufkleber der rechtsextremen NPD am Tatort hinterlassen.“ Auch andere Einrichtungen und Privatwohnungen wurden in den vergangenen Monaten mehrfach Ziel rechtsextremer Anschläge.  Eine in der Geschichte des Bezirks beispiellose Anschlagsserie. Ein glücklicher Zufall, dass bisher nur Sachschäden zu beklagen sind.

Nun müsste allen Beteiligten klar sein, es steckt System dahinter. Kein dummer Zufall, kein Versehen. Nein, Vorsatz! Dabei gehen die oftmals jungen Neonazis immer selbstbewusster und gleichzeitig klandestiner vor. „Autonome Nationalisten“ kopieren zu diesem Zweck schon seit längerem Lifestyle und Mode linker Aktivisten. Gut getarnt suchen sie dann Orte wie die Galerie-Olga-Benario oder das Café Tristeza auf. Werfen Scheiben ein, besprühen die Wände mit NS-Parolen und hinterlassen Drohgebärden. Auch vor Privatwohnungen machen die Nazis laut Nachrichtendienst Indymedia nicht halt. Briefe, Schmierereien an Hauseingängen und Wohnungstüren gehören zum ernüchternden Alltag derer, die sich seit jeher für Demokratie, Menschenrechte und Akzeptanz im Kiez einsetzen.

Bündnis 90/Die Grünen wollen sich wie viele andere Betroffene nicht einschüchtern lassen. Ihr Motto lautet, jetzt erst recht. „Wer denkt, dass wir uns durch solche feigen Attacken einschüchtern lassen und von unserem Kampf gegen Rechtsextremismus Abstand nehmen, der hat sich getäuscht!“, so die Grünen vor Ort. Eine Kampfansage, der sich mittlerweile etliche Gruppen, Projekte, Initiativen, Parteien und Geschäftsleute angeschlossen haben – berlinweit. Nun sind Politik und Zivilgesellschaft gefragt. Wie steht es um den Kampf gegen Rechtsextremismus in Berlin? Ist es opportun, dass sich dieser Tage in Berliner Bezirken wie Neukölln, Weißensee und Prenzlauer Berg Nazis unbehelligt zeigen, organisieren und bewegen können? Selbstbewusstsein entwickeln und Demokraten, Vereine und Jugendclubs angreifen, einschüchtern, terrorisieren? Die Antwort lautet Nein. Jetzt sind Buschkowsky, Wowereit und auch Ministerin Schröder gefragt, die ja bei jeder Gelegenheit die Mittel im Kampf gegen Rechtsextremismus kürzen will. Nazis im Kiez, das ist kein Berliner Phänomen. Die Meldungen von wachsender Brutalität und Militanz häufen sich. Zuletzt wurde eine Studentenparty in Chemnitz von 50 bewaffneten Nazis überfallen. Politik, Presse und Polizei scheinen vielerorts nur ungläubig zu- oder wegzuschauen. Nicht zuletzt die unsägliche Debatte um den „Extremismusbegriff“ hat zu einer gefährlichen diskursiven Gleichmacherei von Rechtsextremismus und so genanntem Linksextremismus geführt – Wasser auf die Mühlen der Rechten und Kriminalisierung antifaschistischen Engagements. Verkehrte Welt. Zeit für ein starkes Zeichen gegen Rechts.