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„Ein Flüchtling zu sein ist keine Straftat“

 

Tausende Demonstranten starten am Oranienplatz die Jubiläums-Demonstration für die Rechte der Flüchtlinge © Caro Lobig
Tausende Demonstranten starten am Oranienplatz die Jubiläums-Demonstration für die Rechte der Flüchtlinge © Caro Lobig

Es ist nicht nur das einjährige Jubiläum ihres Widerstands, sondern auch ein großes Wiedersehen. Aus allen Teilen Deutschlands sind am Samstag Flüchtlinge aus ihren Lagern nach Berlin gereist, um gemeinsam zu demonstrieren. Friedlich und mit viel guter Stimmung protestierten etwa 3.000 Aktivisten trotz Minusgraden auf einer Route vom Oranienplatz bis zum Bundestag.

Die Sonne scheint und trotzdem ist es bitterkalt. Die fröhliche Stimmung von Flüchtlingen und Unterstützern wird davon aber nicht getrübt. Schon eine Stunde vor Beginn der Demonstration gegen die aktuelle Asylpolitik füllt sich der Oranienplatz. Von dort aus soll der sechs Kilometer lange Protestmarsch durch die Stadt starten. Aus den Lautsprechern von den Dächern dreier Kleinbusse dröhnt internationale Musik – französische, iranische, türkische und auch deutsche Lieder mit Texten, die die Forderungen der Flüchtlinge unterstreichen. „Erkenn deine Stärke, erkenn deine Macht, komm erkenn deine Größe, erkenn deine Kraft“ – zu diesen Zeilen wärmen sich die Aktivisten tanzend auf. Sie bereiten sich auf die bevorstehende und lang geplante Jubiläums-Demonstration vor.

Innerhalb weniger Minuten versammeln sich hunderte Menschen auf dem Oranienplatz – mit etlichen Bannern, Flyern und Fahnen, die die Botschaften der Asylsuchenden darstellen. Das sind weiße Fahnen mit der Aufschrift „Kein Mensch ist illegal“, rote Flaggen, auf denen „Refugees’ revolution demo“ steht sowie Bilder auf Bannern, mit denen die Teilnehmer ihre Solidarität beweisen.

Der Treffpunkt für die Demonstration ist das Protestcamp der Flüchtlinge am Oranienplatz © Caro Lobig
Der Treffpunkt für die Demonstration ist das Protestcamp der Flüchtlinge am Oranienplatz © Caro Lobig

Die Vorfreude ist groß – einige Teilnehmer der Demonstration haben sich lange nicht gesehen und umarmen sich herzlich. Zwei Flüchtlinge, die auf ihrer Zugfahrt von Passau nach Berlin von der Polizei festgenommen wurden, können heute doch dabei sein. Genau wie 50 Asylbewerber aus Halberstadt, die keine Urlaubs-Erlaubnis für die Reise zu dieser Demonstration bekommen haben. Sie haben es sich nicht nehmen lassen, auch ohne Erlaubnis mit Gleichgesinnten in Berlin ihre Forderungen zu vertreten.

Um 14.30 Uhr kündigt ein Aktivist durch die Lautsprecher den Start des Marschs an. Eine Gruppe der Flüchtlinge positioniert sich hinter zwei langen Bannern – sie führen die Demonstration hinter Polizeibussen und zwei Reihen aus Polizeibeamten an. Auf dem türkisen Transparent steht der Begriff „Freiheit“ in vielen Sprachen neben den zentralen Forderungen „Keine Residenzpflicht! Keine Lager! Keine Deportationen!“.

Es ist ein großer Zug aus mindestens 3.000 Menschen, der sich langsam in Bewegung setzt. Von den Lautsprecherwagen ertönen unterschiedliche Lieder, um sie herum tanzen die Demonstranten und rufen Sprechchöre wie „No borders, no nations, fight deportation“. Zwischendurch stimmen Flüchtlinge über die Mikrofone Parolen wie „Kein Mensch ist illegal“ an und der Protestmarsch antwortet: „Bleiberecht überall“.

Die Faust als Logo der 'Refugee revolution' steht für den Willen der Flüchtlinge, weiter zu kämpfen © Caro Lobig
Die Faust als Logo der ‚Refugee revolution‘ steht für den Willen der Flüchtlinge, weiter zu kämpfen © Caro Lobig

Für den ersten Redebeitrag, einer Pressemitteilung zu der Polizeigewalt auf der Bustour, hält der Demonstrations-Zug an. Auf Deutsch und Englisch wird von Vorfällen während der Bustour erzählt und daraus geschlossen: Die obersten Politiker stünden hinter der Polizei, die mit ihren gewaltsamen Einsätzen den Protest unterbinden wolle. Die eindringliche Erklärung der Asylsuchenden, weiter zu kämpfen, bejubeln und beklatschen hunderte Menschen – mitten auf der Friedrichstraße in Berlin.

Über die große Resonanz der Unterstützer freuen sich die Geflüchteten sehr, wie sie immer wieder betonen: „Mit so vielen Menschen haben wir heute gar nicht gerechnet“, sagt Mohamad, einer der Flüchtlinge vom Oranienplatz.

Dann ruft der vordere Teil des Protestmarschs gemeinschaftlich „Stopp Stopp Stopp!“ – alle halten an, manche Flüchtlinge setzen oder legen sich auf den Boden. Sie rufen im Chor: „We are here and we will fight, freedom of movement is everybody’s right“. Die Fotografen nutzen die Gelegenheit und stürzen sich vor die Demonstranten, um die besten Momente einzufangen. Die Polizei beobachtet das Geschehen aus der Ferne – sie begleitet die Demonstration vorne und hinten. Beamte in gelben Westen mit der Aufschrift „Anti-Konflikt-Team“ gehen an den Seiten der Protestler mit.

Unter den Demonstranten herrscht ein großer Zusammenhalt, es ist eine schöne Atmosphäre trotz des unschönen Themas, gegen das demonstriert wird. Als die Rede von Napuli Langa, einer der wenigen weiblichen Flüchtlinge, angekündigt wird, ist die Stimmung auf dem Höhepunkt. Napuli ist bekannt für ihre klaren Reden, mit denen sie Menschen aufwecken kann.

„Die deutsche Regierung nimmt uns unsere Rechte“, beginnt Napuli. Einige Demonstranten pfeifen und jubeln, manche rufen „Gebt uns unsere Rechte zurück!“. Sie fährt fort: „Ein Flüchtling zu sein ist keine Straftat, wir haben uns das nicht ausgesucht“. Sie macht eine lange Pause, um sie herum ist es still. Dann sagt sie: „Es ist rassistisch, was die deutsche Regierung mit uns macht, es hat nichts mit Demokratie zu tun. Die Regierung macht Geschäfte damit, dass sie die Ressourcen aus unseren Heimatländern nimmt“. Dann ruft Napuli „The day is coming after the darkness“ – und die Menge schreit vor Begeisterung. Sie strahlt Stärke und Entschlossenheit aus, damit gibt sie den anderen Flüchtlingen Hoffnung.

Mansureh und ihre beiden Töchter Mina und Maryam sind drei von wenigen weiblichen Geflüchteten aus dem Iran, die mit protestieren © Caro Lobig
Mansureh und ihre beiden Töchter Mina und Maryam sind drei von wenigen weiblichen Geflüchteten aus dem Iran, die mit protestieren © Caro Lobig

Als der Protestmarsch das Brandenburger Tor erreicht und nach rechts Richtung Bundestag abbiegt, zeigen sich die Dimensionen der Demonstration. Mit den letzten Sonnenstrahlen kommen zwischen 3.000 und 4.000 Menschen mit ihren Parolen und Bannern vor dem Bundestag an. Dort endet der Marsch – die Teilnehmer des Protests versammeln sich noch einmal um einen Bus herum, aus dessen Lautsprechern eine verzweifelte Stimme dringt:

„Wir sind menschliche Wesen, wir haben ein Recht darauf, wie andere ein gutes Leben zu führen, aber wir sterben“. Immer wieder fragt der Flüchtling „Warum? Warum?“. Er ruft: „Lasst uns frei, lasst uns uns bewegen, lasst uns laufen, lasst uns leben“. Seine Trauer und sein Flehen machen die Aktivisten nachdenklich – es herrscht Stille, alle sind in Richtung der Lautsprecher gewandt. Nach seiner Rede erhält der Geflüchtete große Zustimmung von der Menge, gemeinsam schreien alle wieder: „We are here and we will fight, freedom of movement is everybody’s right“.

Vor dem Bundestag endet der Protestmarsch mit Redebeiträgen und Kampfliedern, zu denen die Aktivisten tanzen und singen © Caro Lobig
Vor dem Bundestag endet der Protestmarsch mit Redebeiträgen und Kampfliedern, zu denen die Aktivisten tanzen und singen © Caro Lobig

Nach vier Stunden beenden hunderte Flüchtlinge und Unterstützer die Demonstration mit dem bekannten Kampflied „Haydi Barikata“ von Bandista. Übersetzt heißt der Titel „Auf die Barrikaden“. Mit Blick auf den Bundestag schwingen die Demonstranten nochmal ihre Fahnen mit den Forderungen nach Menschenrechten für Flüchtlinge. Die Menschen tanzen und hüpfen, ein Teil der Gruppe springt in einer Polonaise durch die Menge. Mit großem Applaus und der untergehenden Sonne geht die Demonstration der Flüchtlinge anlässlich ihres einjährigen Widerstands schließlich zu Ende.

Das war der 13. Teil meiner Artikel-Serie über das Refugee Camp Berlin.