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Antisemitische Hetze gegen BVB-Star Mario Götze

 

Die inzwischen gelöschte Hetz-Seite gegen Mario Götze © Screenshot
Die inzwischen gelöschte Hetz-Seite gegen Mario Götze © Screenshot

„Judensohn“, „Judas“, „Verräter“ –  als bekannt wurde, dass der Fußball-Nationalspieler Mario Götze von Borussia Dortmund zum Ligaprimus und -konkurrenten FC Bayern wechseln würde, löste dies große Enttäuschung und Wut bei den Anhängern des Ruhrgebietsvereins aus. Neben wüsten Beschimpfungen und Gewaltandrohungen, findet sich zahlreiche antisemitische Hetze gegen den Spieler im Netz.

Neben allerlei anderen Schmähungen ist häufig die Bezeichnung „Judas“ zu hören und zu lesen. Keine Seltenheit im Profifußballzirkus. Das Judasbild, das auf die neutestamentarische Figur des Judas Iskariot und die religions- und gesellschaftsgeschichtliche Ausdeutung seiner Rolle bei der Kreuzigung Jesu zurückgeht, wird häufig bemüht, wenn zum Ausdruck gebracht werden soll, dass der jeweilige Spieler des Geldes wegen Verrat an seinem alten Verein und dessen Fans geübt habe. Das bemühte Bild beinhaltet jedoch, ob gewollt oder ungewollt, eine darüber noch hinausgehende Dimension. Es vereint und bündelt jahrhundertelang gewachsene, judenfeindliche Zerrbilder und Stereotype und ist somit für eine Gemeinschaft, die sich dem Selbstverständnis nach gegen Extremismus und Ausgrenzung von Minderheiten einsetzt, indiskutabel. Umso mehr, wenn es in dieser Gemeinschaft Strömungen gibt, die in reaktionärer Weise judenfeindliche, rassistische und rechtsextreme Gesinnung propagieren.

Judas ist die lateinische und gräzisierte Variante des hebräischen Namens Jehuda oder auch Juda, die etymologisch unmittelbar mit dem Wort „Jude“ zusammenhängt. Dass nach der neutestamentlichen Geschichte ausgerechnet jener der zwölf Jünger den Namen trug, der den von den römischen Besatzern als Aufrührer gejagten Jesus gegen eine Belohnung auslieferte und sich kurze Zeit später aus Verzweiflung das Leben nahm, mag ein folgenschwerer Zufall gewesen sein. Keineswegs zufällig ist es jedoch, dass der Name Judas in der schon bald antijüdischen Auslegung dieser Geschichte zu einem christlichen Sinnbild des vermeintlich gottverlassenen, verräterischen und habgierigen Juden wurde. Nicht nur die Rolle des Judas, sondern auch sein Name kam dem christlichen Antijudaismus wie gerufen. Dass auch alle anderen Jünger Jesu wie dieser selbst Juden waren, geriet dabei ebenso in den Hintergrund wie die in der heutigen christlichen Theologie oft gestellte Frage, ob die Rolle des Judas nicht eine verdammenswerte, sondern vielmehr tragische im von Jesus selbst vorhergesagten, in Kauf genommenen und schlussendlich religionsstiftenden Sterben, dem Ende seines irdischen Leidens und seiner Auferstehung von den Toten war.

Für solche differenzierten Betrachtungen war in den folgenden Jahrhunderten kaum Platz. Besonders vom Mittelalter ausgehend wurde Judas in der christlich geprägten Gesellschaft zum Prototyp eines antijüdischen Zerrbilds, das Christen zum willkommenen Anlass nahmen, Juden als vermeintliche „Gottesmörder“ zu unterdrücken, zu entrechten und vielfach zu ermorden. Bei Passionsspielen wurde Judas als abstoßender und ekelerregender Antagonist entworfen, mit feuerroten Haaren und gelben Kleidungsstücken, wie sie Juden während des Mittelalters in vielen Teilen Europas unter Zwang zu tragen hatten, um jederzeit als Jude identifiziert werden zu können. Auch das Bild vom geldgierigen und betrügerischen Juden wurde unter Rückgriff auf die Judasgeschichte verfestigt, verstärkt durch eine zynische Politik der christlichen Mehrheitsgesellschaft. Weil Juden kein Land besitzen durften und ihnen der Zugang in die meisten Handwerkszünfte untersagt war, blieb ihnen oft kaum eine andere Möglichkeit, den Lebensunterhalt als Handelsreisende und durch das unpopuläre, wiewohl vielfach beanspruchte Geldleihgeschäft zu bestreiten. Und konnte man seine Schulden nicht begleichen, wurde alsbald der Vorwurf des Betrugs und der Habgier gegenüber jüdischen Gläubigern erhoben, verbunden mit der gehässigen Behauptung, der Jude sei eben doch der ewige Judas.

Auch die von Martin Luther maßgeblich geprägte Reformation veränderte das Judasverständnis als antijüdisches Klischee nicht. Auch Luther galten Judas wie das Judentum als verabscheuenswürdige Einheit. Wie tief sich dieses Klischee in das kollektive Gedächtnis bohrte, zeigte sich schließlich in besonders drastischer Form während der Zeit des Nationalsozialismus. Die eher kirchenfeindlich eingestellten Nazis griffen in ihrer rassistischen und antisemitischen Agitation gerne auf die so geschaffene Judasfigur zurück, wie sich anhand von zahlreichen diffamierenden Karikaturen und Hetzschriften aus dieser Zeit nachweisen lässt. Im Volk wurden diese Bilder und Stereotype sofort verstanden und weckten die beabsichtigten Reaktionen.

Auch nach der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und dem millionenfachen Mord an Juden waren und sind bis heute viele antisemitische Stereotype, wie Meinungsumfragen belegen, offen oder latent vorhanden und werden durch bestimmte Bilder und Worte transportiert. Die These, die Bezeichnung Judas werde heute losgelöst von seiner jahrhundertelang gewachsenen judenfeindlichen Konnotation nur noch und bloß als Synonym für einen gekauften Verräter verwendet, muss daher als subjektiv, unsensibel und ahistorisch abgelehnt werden. Wie Nachkommen der Opfer der Judasdiffamierung sich fühlen, wenn Judas wieder als Schimpfwort durch Stadien und Foren hallt, wird erst gar nicht gefragt. Die These verkennt aber vor allem auch, dass es in der zeitgenössischen Fußballfankultur eine große Bandbreite an mal expliziten, mal kodierten bzw strukturellen, in jedem Fall aber bösartigen antijüdischen Äußerungen gibt. Ein historisch so extrem belasteter Begriff wird zumindest von einem Teil der Fans ganz gezielt ausgesprochen und von einem noch größeren Teil entsprechend verstanden. Die so entstehende Atmosphäre mag nicht jeder gleich wahrnehmen oder interpretieren. Zu leugnen ist sie jedoch objektiv nicht. Wie verschwimmend die Grenzen vom Impliziten zum Expliziten sind, zeigt sich beispielsweise daran, dass es vom „Judas Götze“ nicht weit war zum „Juden Götze“. Dies dokumentierte beispielsweise eine (inzwischen gelöschte) Facebookseite, die mit dem Namen „Mario Götze du Judensohn“ (sic!) aufwartete, in den Beiträgen die typischen Topoi über Geld- und Habgier, Kommerz, Sünde und Verrat bediente und in nur wenigen Stunden vierstellige „Like“-Zahlen verzeichen konnte.

Last but not least darf freilich auch die Frage gestellt werden, ob das Judasbild überhaupt treffend wäre, ließe es sich von seiner antijüdischen Konnotation so einfach lösen, wie manche das offenbar meinen. Die Frage ist klar zu verneinen. Offenbart werden eher die Ankläger. Immerhin setzt man sich als Anwalt eines Fußballvereins und gleichsam sich selbst in einer alltäglichen Transferfrage als das Göttliche und Gute ein, die Gegenseite aber als das Böse. Überhaupt sind die Kategorien wie „Leben und Tod“ hier denkbar deplatziert. Auch der Vorwurf des Verrats gegenüber Mario Götze ist höcht fragwürdig, umso mehr, da menschliche Beweggründe wie der Drang eines jungen Menschen zu Veränderung oder die Rückkehr in die (bayerische) Heimat von den Anklägern überhaupt nicht in Erwägung gezogen wurden.

Gleichwohl muss sich der 21-Jährige, der im Jugendbereich der Dortmunder das Fußballhandwerk lernte und schließlich zum vielumworbenen Jungstar wurde, durchaus den Vorwurf gefallen lassen, durch Interviews, in denen er Wechselgedanken ausschloss und sich als überzeugter Borusse darstellte, inkonsequent und mit einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber den geweckten Erwartungen und Hoffnungen seiner Fans und Mitspieler gehandelt zu haben. Dennoch wirkt es befremdlich, im durchkommerzialisierten Fußballgeschäft, in das der börsennotierte BVB und seine Akteure auf und neben dem Platz mehr als nur eingebunden sind, plötzlich moralisch den Zeigefinger zu heben. Vor allem in einer Branche, in der leisttungsstarke Spieler immer auch Kapital darstellen, was allein an Ausstiegsklauseln mit festgelegten Ablösesummen deutlich wird. Der Gedanke daran, wieviele Spieler der umjubelten Dortmunder Meistermannschaft – denkt man den Vorwurf einmal zuende – einst Verräter gewesen sein sollen, indem sie ihrem Heimatverein den Rücken kehrten, um zum zahlungskräftigeren BVB zu wechseln, müsste schon jedes despektierliche Geschwätz über Götze im Keim ersticken. Doch wer auch immer den Drang verspürt, einen den Verein wechselnden Spieler des Verrats zu bezichtigen, der sollte, wenn es denn unbedingt sein muss, zumindest auf das Judasmotiv verzichten. Unbedingt.