Vor beinahe zehn Jahren wurde Mehmet Turgut in Rostock vom sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund ermordet, im Jahr 2011 flog dieser auf. Als letzte der von der Mordserie betroffenen Städte wird nun auch Rostock einen Gedenkort errichten – nach zähem Ringen um die richtige Form und Angst vor der Entscheidung. Hatte die Hansestadt gute Gründe, verschlafen oder doch ein Problem mit ihrer Erinnerungskultur?
Von Annika Riepe und Alex Hintze
Montag, 17. Juni 2013, 16:30 Uhr: Es sind noch zwei Tage bis zur Rostocker Bürgerschaftssitzung, in der über Art und Weise des städtischen Gedenkens an Mehmet Turgut entschieden werden soll. Seit dem Mord an Turgut sind 3.400 Tage vergangen, 588 Tage seit Auffliegen des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) und 139 Tage seit dem ersten Zusammentritt jener AG, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, ein würdiges Gedenken an den Ermordeten zu erarbeiten.
Mehmet Turgut wurde im Februar 2004 das wahrscheinlich fünfte Opfer des NSU. Er hatte für einen Freund dessen Kiosk im Rostocker Stadtteil Toitenwinkel aufgeschlossen, in dem er kurz darauf erschossen wurde. Wie bei den anderen Opfern zog die Polizei auch in Turguts Falls kein rechtsextremes Motiv in Betracht. Stattdessen ging man von kriminellen Verstrickungen der Opfer aus. Erst im Jahr 2011 machte das Bekennervideo des NSU deutlich, dass es sich um Taten von Neonazis gehandelt hatte – und Rostock Tatort eines Mordes aus Fremdenhass geworden war.
Einige Monate später publizierten die sieben betroffenen Städte eine Erklärung, mit der sie die Morde scharf verurteilen und eine Verantwortung der Gesellschaft einräumen: „Neonazistische Verbrechen haben zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen in sieben deutschen Städten ermordet. (…) Wir sind bestürzt und beschämt, dass diese Gewalttaten über Jahre nicht als das erkannt wurden, was sie waren: Morde aus Menschenverachtung. Wir sagen: Nie wieder!“ Es folgt eine chronologische Auflistung aller Opfer. Zu sehen ist der Text etwa auf Gedenktafeln in Kassel, Nürnberg und Heilbronn. Die Erklärung, die auch von der Stadt Rostock mitgetragen wird, ist sprachlich etwas holprig, doch in ihrer politischen Aussage sehr deutlich. Das gilt auch für die dazugehörige Pressemitteilung: Nur wenn man an die Opfer in allen Städten mit einer einheitlichen Botschaft erinnere und zugleich an allen Orten alle Opfer namentlich aufführe, könne man die Morde in angemessener Weise als Serie und erschreckende Taten von ausländerfeindlichem Charakter kennzeichnen. Doch in Rostock veröffentlicht oder gar in Stein gehauen wurde der Text erst einmal nicht, das Thema zumindest vor den Kulissen vergessen. Gudrun Heinrich, Leiterin der Arbeitsstelle für Politische Bildung an der Universität Rostock, vermutet, die Stadt sei gelähmt. In der ganzen Welt ist Rostock gebrandmarkt als der Ort, an dem 1992 teils rechtsextreme Randalierer von Bevölkerung und Polizei ungehindert ein Flüchtlingsheim angriffen, nun fehle es an Selbstvertrauen in der Aufarbeitung: „Das ist so klassisch: Aus Angst, etwas Falsches zu tun, tut man lange nichts und damit automatisch das Falsche.“
Der mediale Druck stieg, die Proteste der Rostocker Antifa wurden lauter. Zu einer schnellen Geste wollte sich niemand hinreißen lassen, über Formen des Gedenkens sollte in Zukunft sorgfältig nachgedacht werden. Der Rostocker Stadtrat, die Bürgerschaft, beschloss also die Gründung einer Arbeitsgruppe. Es waren Vertreter aller demokratischen Fraktionen sowie zahlreicher zivilgesellschaftlicher Vereinigungen eingeladen, ehrenamtlich das zukünftige städtische Gedenken zu erarbeiten. Zunächst widmeten sie sich jenem an Mehmet Turgut.
Anfang 2013 leitete Bürgerschaftspräsidentin Karina Jens in drei Sitzungen eine Diskussion, die von fast allen als (zu) harmonisch dargestellt wird: Jeder durfte zu allem etwas beitragen, eine feste Tagesordnung gab es nicht, einzelne Themen wurden immer wieder aufgegriffen oder schweigend abgenickt. Schnell einig waren sich die Beteiligten lediglich darüber, dass die gemeinsame Erklärung der sieben Städte gar nicht oder zumindest nicht als Haupttext verwendet werden sollte. Besser machen wollte man sie – doch dass es gar nicht so leicht ist, den für alle Seiten und Beweggründe perfekten Gedenktext zu entwerfen, wurde schnell klar. Die einen forderten etwa eine Ermahnung gegen den allgemeinen Rassismus der Gesellschaft, die anderen die Benennung der Tat als rechtsextremistisch. Da man sich nicht einigen konnte, entschied man sich letztlich für einen Minimalkonsens, mit dem jeder leben konnte, aber keineswegs zufrieden war: Die Tat war einfach „menschenverachtend“, nach einem Aufbegehren einiger AG-Mitglieder schließlich „rassistisch“. Einleiten sollte den Text der erste Artikel der Menschenrechte. Besonders von diesem Teil erhofft sich die Bürgerschaftspräsidentin, die zukünftigen Leser des Gedenktextes mögen davon etwas „mitnehmen“.
Die Leser, das werden vor allem zur Straßenbahn laufende oder spazieren gehende Anwohner Toitenwinkels sein. In der Innenstadt hält man ihren Stadtteil im Rostocker Nordosten für ziemlich trostlos. Es ist kein Tabu zu sagen, die Toitenwinkler könnten ein bisschen mehr politische Bildung gut gebrauchen, einige AG-Mitglieder formulieren dies im Gespräch sehr deutlich. Auch deshalb solle der Stein hier stehen, auf der Grünfläche neben einem unbedeutenden Verbindungsweg, auf der einst der Kiosk stand, in dem Mehmet Turgut umgebracht wurde.
Auf der anderen Seite der Warnow bereiten an jenem Montag vor der Entscheidung die einzelnen Fraktionen der Bürgerschaft ihre Sitzungen vor. Ihre Büros liegen im Rostocker Rathaus Seite an Seite. Der gemeinsame Flur wird schon einmal fraktionsübergreifend genutzt, wenn es wie in diesem Fall gilt, eine Blamage zu vermeiden. Denn kurz vor der abschließenden Entscheidung zeigen sich die einzelnen Parteien weniger glücklich mit dem Ergebnis der AG Gedenken als ihre Vertreter. Es wird wieder um Worte gefeilscht, mögliche Änderungsanträge ausgetauscht. Zu diesem Zeitpunkt ist noch völlig offen, ob es zwei Tage darauf überhaupt einen Beschluss geben wird.
Es wundert nicht, dass die überregionalen Medien anlässlich des neunten Todestages Mehmet Turguts mit dem Finger auf Rostock zeigten. Sie suggerierten, die Stadt habe ein Problem mit ihrer Erinnerungskultur. So oder so hat Rostock ein Image-Problem. Sozialpsychologe Olaf Reis brachte es in einer Rede im April 2012 auf den Punkt: Die Pogrome von Rostock-Lichtenhagen seien „bekannter als alle anderen Wahrzeichen, Taten oder Sehenswürdigkeiten“ der Hansestadt. Dessen ist man sich in den Bürgerschaftsfraktionen nur allzu bewusst, doch noch geistern mehrere Begriffsvarianten in Fluren und Köpfen herum. Die Schreckensvision teilen aber alle: Was passiert, sollte jemand aufgrund des geänderten Textvorschlags eine Vertagung fordern oder der Antrag in Gänze abgelehnt werden? Man befürchtet einen weiteren Schlag für Rostocks Ansehen.
Dem Streit um den Stein war bereits ein weiterer Disput zum Thema „Gedenken Mehmet Turgut“ vorausgegangen. Diesem galt bislang die größte mediale Aufmerksamkeit: Die Fraktion der Linken hatte eine Umbenennung des kleinen Verbindungswegs in Mehmet-Turgut-Weg vorgeschlagen, viele zivilgesellschaftliche Vereine sind dafür. Bereits im Mai des vergangenen Jahres scheiterte dieses Anliegen jedoch im zuständigen Ortsbeirat Toitenwinkel. Das Gremium sah sich im Folgenden mit scharfer Kritik konfrontiert und musste teils subtile, teils sehr deutliche Rassismus-Vorwürfe einstecken. Der Grund: Man hatte unter anderem damit gegenargumentiert, dass Turgut kein Rostocker gewesen war – und in wohl unpassenden Momenten angeführt, dass er sich zudem ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland aufgehalten hatte.
Speziell diesen „Alltagsrassismus“ kritisieren die Mitglieder des Bündnisses „Erinnern, Verantworten, Aufklären!“, kurz EVA. Sie fordern einen umfangreichen Gedenktext, der den rassistischen Hintergrund der Tat aufzeigt und den NSU beim Namen nennt. Dafür und um lautstark die lange Zeit der Gedenklosigkeit in Rostock anzuprangern, planen sie kurz vor der entscheidenden Bürgerschaftssitzung eine Kundgebung auf dem Marktplatz der Stadt – die letzte Möglichkeit, einzelne Mitglieder der Bürgerschaft zu einem Änderungsantrag zu bewegen.
Um einen solchen geht es schon am Montag auf den Rathausfluren. Aus Unzufriedenheit über den eigenen Text, aber auch weil man sich auf die einstige Verpflichtungserklärung besinnt, wird nun verhandelt, die Erklärung der sieben Städte doch mitaufzunehmen. Der entscheidende Makel daran bleibt allerdings unerwähnt, er ist wahrscheinlich gar nicht bekannt: Nach Informationen der Ombudsfrau der Hinterbliebenen der NSU-Opfer, Barbara John, wurde die Erklärung verabschiedet, ohne die Angehörigen gefragt zu haben, ob sie mit Text und Aussage einverstanden sind. Es wurde schlicht „über ihre Köpfe hinweg entschieden“. Genauso geschah es auch in Rostock. Von allen Seiten der Bürgerschaft ist zu hören, es sei nicht einfach, mit den in der Türkei lebenden Eltern Mehmet Turguts in Kontakt zu treten. Dem hält Frau John entgegen, man hätte sie einbeziehen können, sie stehe nämlich „in regelmäßigem Kontakt“. Zudem sei es besonders wichtig, die Hinterbliebenen aus ihrer Opferrolle heraus zu Handelnden zu machen.
Die meisten Rostocker dagegen fordern keinerlei aktive Mitwirkung für sich, sie zeigen sich der Gedenktafel gegenüber indifferent: Sie ist ihnen schlicht egal. Auf Nachfrage schwingt in vielen Äußerungen lediglich der Zweifel mit, ob eine Gedenktafel irgendjemandem nutze und Rostock überhaupt verpflichtet sei, ein „Zufallsopfer“ zu würdigen. Trägt die Stadt eine Schuld an Mehmet Turguts Ermordung? Nein, meint Bürgerschaftspräsidentin Karina Jens, Verantwortung aber schon. Allgemein halten die Vertreter der demokratischen Parteien das Gedenken schlicht für eine „Selbstverständlichkeit“. Nun muss man sich nur über die richtigen Worte einig werden.
Viel wichtiger als der Text ist es laut Gedenkpädagogen allerdings, Anknüpfungspunkte für die Bevölkerung zu schaffen. Denn kann diese zum jeweiligen Gedenken keinen Bezug herstellen, trägt ein Stein wenig zur politischen Bildung bei und ändert keine Einstellungen. Ein weiterführendes Konzept, das etwa Schüler für das Thema sensibilisiert, ist im Falle Mehmet Turguts jedoch nicht geplant. Zwar betonen nahezu alle Mitglieder der AG dessen unbedingte Wichtigkeit, aber eine konkrete Idee hatte niemand, eine Umsetzung steht nicht in Aussicht. Man ist froh, wenn endlich Stein und Text von der Bürgerschaft abgesegnet sind. Eine Beteiligte formulierte es pragmatisch: „So, fertig. Stein hin. Gut.“
Es ist soweit: Mittwoch, 19. Juni 2013, 16:00 Uhr. Auf dem Neuen Markt protestieren EVA und andere Demonstranten, im Rathaus füllt sich unterdessen der Sitzungssaal der Bürgerschaft. Auch einige Gäste und zahlreiche regionale Journalisten sind anwesend. Nach etwa anderthalb Stunden leitet Bürgerschaftspräsidentin Karina Jens den Tagesordnungspunkt „Gedenkstein für Mehmet Turgut“ ein. In der nächsten halben Stunde folgen ein erneuter, wenn auch recht zahmer Schlagabtausch, ein paar Schuldzuweisungen und letztlich auch noch Dank in Richtung der Arbeitsgruppe. Vor allem aber wird von allen betont, wie wichtig es sei, den Gedenkstein auf den Weg zu bringen. Von fast allen: Denn wer schweigt, stimmt zu – so denken wohl die beiden NPD-Mitglieder in der Bürgerschaft, sodass sie es vorziehen, diskret den Saal zu verlassen und während der Abstimmung gar nicht anwesend zu sein. Diese geht sehr schnell, es vergehen nur knapp drei Minuten, bis Karina Jens für den letzten, nunmehr geänderten Antrag ein „Angenommen“ feststellt. Alle Fraktionen mit Ausnahme der FDP stimmen den am weitesten reichenden Textvorschlägen zu: Die Hansestadt Rostock wird Mehmet Turgut mithilfe eines Steins gedenken, auf dem der Gedenktext der Arbeitsgruppe – jetzt mit dem Wort „rechtsextrem“ und auch in türkischer Sprache – mit der Erklärung der sieben Städte vereint ist. Damit wurde letztlich beinahe allen Parteien gerecht.
251 Tage vor seinem zehnten Todestag, an dem das Denkmal nun verpflichtend spätestens stehen muss, sind Form und Ort des Gedenkens an das Rostocker NSU-Opfer beschlossene Sache. Der Wirbel um Rostocks Erinnerungskultur wird sich legen, ein positives Zeichen kann die Stadt jedoch mit dieser bloßen „Selbstverständlichkeit“ nicht setzen. Egal, meint Steffen Bockhahn, Mitglied der Fraktion der Linken in der Bürgerschaft wie auch im Bundestag: „Es geht nicht darum, ein Image loszuwerden, sondern dass man anfängt, da ganz offen und wach zu sein, wo es ein Problem mit Fremdenfeindlichkeit gibt – und dort eine Nulltoleranzschiene zu fahren.“