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Sommer 2013: Auf ihrer „Asyltour“ hält die NPD in Greifswald. Nachdem aus den Reihen einer spontanen Gegendemo vereinzelt Lebensmittel geworfen werden, stürmen die um den Marktplatz verteilten Neonazis auf die Protestierenden zu und werden gewalttätig. Ein nun aufgetauchtes Video dokumentiert den Tumult und nährt Zweifel an den Darstellungen des Neonazis Marcus G.
Ein Gastbeitrag vom Fleischervorstadt-Blog
Es ist Montag, der 29. Juli. Ein grauer und regnerischer Tag, dessen Tristesse plötzlich von einer Eilmeldung, die durch die sozialen Netzwerke rauscht, jäh unterbrochen wird: „Die NPD baut auf dem Markt auf, nichts wie hin!“. Die rechtsextreme Partei ist auf „Asyltour“ als sie in der historischen Altstadt Greifswalds hält, um vor dem Rathaus gegen Flüchtlinge Stimmung zu machen. Hier sollte es besser laufen als am Freitag zuvor in Rostock, wo ein Regen aus Obst und Eiern auf die Neonazis niederging und sie zum frühzeitigen Abbruch ihrer Veranstaltung zwang. Deswegen wurde der NPD-Stand an diesem Vormittag von knapp 20 Neonazis bewacht, die sich weiträumig auf dem Markt verteilten und dem verregneten Trauerspiel eine bedrohliche Kulisse verliehen.
“NEONAZIS STÜRMTEN IM MOB AUF EINEN TEIL DER PROTESTIERENDEN LOS UND GINGEN GEWALTTÄTIG GEGEN SIE VOR” (BÜNDNIS GREIFSWALD NAZIFREI)
Neonazi Marcus G. im Schlepptau der Polizei
Trotz des schlechten Wetters und der kurzfristigen Mobilisierung fanden sich etwa 100 Menschen auf dem Markt ein, um spontan gegen die NPD zu demonstrieren. Abgesehen von einigen Tomatenwürfen verlief die Veranstaltung weitestgehend friedlich, doch als die Polizei einen mutmaßlichen Gemüsewerfer festnehmen wollte, stürmten plötzlich mehrere Neonazis in die Reihen der Protestierenden und wurden gewalttätig.
Unter ihnen befand sich auch Marcus G., ein Neonazi, der seit einigen Jahren in Greifswald studiert und in der Vergangenenheit unter anderem als Anti-Antifa-Fotograf und rechter Provokateur aufgefallen ist. Er wird dem Umfeld der rechtsextremen Gruppierung Nationale Sozialisten Greifswald (NSG) zugeordnet. Marcus G. soll bei der Hatz auf dem Markt einen Gegendemonstranten mit einem Fußtritt verletzt haben. Die anwesende Polizei habe daraufhin die Personalien des rechten Aktivisten aufgenommen, verweigerte jedoch die Erstattung einer Anzeige vor Ort und teilt später mit, von dem Angriff nichts mitbekommen zu haben. In etwa dieser Art lässt sich die Sicht des Bündnisses Greifswald Nazifrei auf die Ereignisse des 29. Juli zusammenfassen.
“DIE LINKSKRIMINELLEN WISSEN NICHT, WIE MAN MIT EINEM GEBILDETEN, NICHT VORBESTRAFTEN NATIONALISTEN UMGEHEN SOLL” (NSG)
Kurz nach dem Vorfall wurde auch auf der Internetseite der NSG über die Ereignisse auf dem Marktplatz geschrieben. Schenkt man den Schilderungen dort Glauben, so hätten Angehörige der NPD an diesem Montagvormittag allenfalls der Polizei dabei geholfen, Personen „dingfest zu machen“, die aus dem Mob heraus Gegenstände geworfen hätten. Im gleichen Beitrag wird ein Dementi von Marcus G. verbreitet, der den Vorwurf, einen Antifaschisten angegriffen zu haben, von sich weist. Seiten wie der Fleischervorstadt-Blog oder der Blog der Grünen würden „absoluten Schwachsinn schreiben und alles zu Ungunsten der NPD verfälschen“ (NSG).
(NPD-Anhänger haben sich drohgebärdend auf dem Markt verteilt… Foto: Grüne Vorpommern-Greifswald)
Der beschuldigte Marcus G. stünde bei „Linkskriminellen“ immer wieder im Fokus, da diese nicht wüssten, “wie man mit einem gebildeten, nicht vorbestraften und einem in gutem Umfeld lebenden Nationalisten, welcher sich auf das Rechtsstaatsprinzip beruft, umgehen“ solle. In diesem Zusammenhang verweist G. auf eine Erklärung, die er — nachdem er im November 2011 während einer Lehrveranstaltung im Hörsaal als Neonazis geoutet wurde — vom webMoritz veröffentlichen ließ. Darin distanziert sich der aus Berlin stammende Student von „jeglicher physischen Gewalt — mit Ausnahme des Notwehrparagraphen“. Doch wie glaubhaft sind diese Beteuerungen wirklich?
ANONYM ZUGESPIELTES VIDEO DOKUMENTIERT DIE JAGDSZENEN AUF DEM MARKT
Ein Video, das vor wenigen Tagen anonym dem Fleischervorstadt-Blog zugespielt wurde, dokumentiert die umstrittene Szene und stellt die Darstellungen von Marcus G. — der im Frühjahr 2013 gerne Schöffe am Greifswalder Amtsgericht geworden wäre, dann aber aufgrund “erheblicher Zweifel” an der notwendigen “Unvoreingenommenheit und Neutralität gegenüber allen Bevölkerungsschichten” abgelehnt wurde – in Frage.
Die Aufnahmen zeigen, wie sich mehrere Neonazis, darunter auch die Lebenspartnerin von G., in die Menge bewegen und gezielt auf einen Antifaschisten zusteuern. Dieser kann jedoch rechtzeitig weglaufen und ist auch durch Alexander Wendt (Landesvorstand NPD), der dem Fliehenden einen Regenschirm hinterherschleudert, nicht mehr zu stoppen. Mehrere NPD-Anhänger nehmen die Verfolgung auf und auch einige Antifaschisten laufen in Richtung Knopfstraße, womöglich, um einen zu befürchtenden, gewaltsamen Übergriff zu verhindern. Wie das Video dokumentiert, bricht Marcus G. relativ schnell die Verfolgung ab und wendet sich wieder der Marktmitte zu, wo er einen nacheilenden Demonstranten zu Fall bringt und sich anschließend schnell entfernt — wohlgemerkt ohne den Versuch zu unternehmen, jemanden “dingfest zu machen”.
Um diese Szene nachvollziehbar zu gestalten, wurde das Video, in dem sowohl Marcus G. mit dem gelben Rucksack als auch das Opfer mit der markanten blau-grünen Jacke deutlich zu erkennen sind, dahingehend bearbeitet, dass die beschriebene Szene vergrößert wurde und deutlich langsamer abläuft.
“WAS DIE ANZEIGE BRINGEN WIRD, BLEIBT ABZUWARTEN” (NSG)
Ist es notwendig, die beschriebene mutmaßliche Körperverletzung so ausführlich zu behandeln? Die Antwort auf diese Frage lautet: Ja, unbedingt, denn das Verhalten der NPD-Anhänger und -Funktionäre ist exemplarisch für die Gewaltbereitschaft und das Selbstbewusstsein, mit dem die rechte Szene derzeit in Mecklenburg-Vorpommern öffentlich auftritt. Was auf dem Greifswalder Marktplatz geschehen ist, fügt sich nahtlos in das Muster des diesjährigen NPD-Wahlkampfs ein. So ist es kaum zwei Wochen her, dass sich ein zum Teil vermummter und bewaffneter Neonazi-Mob vor einem Haus in der Grimmer Straße in Greifswald versammelte und die Bewohner bedrohte. Unter ihnen sollen sich vier Mandatsträger der NPD befunden haben, zum Beispiel der stellvertretende Fraktionsvorsitzende im Landtag, Tino Müller, gegen den jetzt wegen Landfriedensbruch vorermittelt wird — die Staatsanwaltschaft beantragte bereits die Aufhebung seiner Immunität.
Die dokumentierten Ereignisse auf dem Greifswalder Marktplatz werfen allerdings auch auf den Rechtsextremisten Marcus G. ein schlechtes Licht. Die kolportierten Dementis und Erklärungen des Neonazis lassen angesichts der aufgenommenen Bilder an seiner Glaubwürdigkeit zweifeln — nicht nur in diesem Fall. Gegen G. wurde eine Anzeige erstattet und es ist nun Sache des Gerichts, darüber zu befinden, ob eine Körperverletzung vorliegt oder nicht. Ein Schuldspruch brächte G. zudem auch in Konflikt mit der Immatrikulationsordnung der Universität Greifswald, die in §24 die Möglichkeit benennt, Studierende zu exmatrikulieren, wenn sie “gegenüber Mitgliedern und Angehörigen der Hochschule strafbare Handlungen begehen.” Dem geschädigten Studierenden ist zu wünschen, dass er von G. mit einem saftigen Schmerzensgeld entschädigt wird und von dem mutmaßlichen Angriff keine bleibenden Schäden davonträgt. Ein großes Kompliment muss an dieser Stelle auch nochmal der Stadtverwaltung dafür ausgesprochen werden, G. nicht zur Schöffenwahl zuzulassen — angesichts des vorliegenden Videos scheinen sich die vorgebrachten Einwände zu bestätigen.