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Mutmaßlicher “NSU”-Vordenker als V-Mann enttarnt

 

NPD-Wahlwerbung mit Michael See (früher von Dolsberg) aus dem Jahr 2001 (repro: Kai Budler)

Bei der Aufarbeitung der Mordserie des extrem rechten Terrornetzwerks „Nationalsozialistischer Untergrund“ geraten immer wieder der Verfassungsschutz und seine V-Leute in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Der jetzt bekannt gewordene Fall des V-Manns „Tarif“ alias Michael See zeigt erneut: die Behörde hatte offenbar keinerlei Berührungsängste bei der Zusammenarbeit mit militanten Neonazis, auch wenn die während ihrer Zeit als V-Mann Straftaten verübten.

Zuerst veröffentlicht bei Publikative.org

Postwurfsendungen zur Wahlwerbung sind auch im Kommunalwahlkampf keine Seltenheit und so fanden auch die Wähler in der südniedersächsischen Stadt Hann.Münden ein Flugblatt der NPD in ihren Briefkästen. Unter dem Vermerk „An alle Haushalte mit Tagespost“ blickte ihnen auf dem zweiseitigen Schreiben der „parteiunabhängige NPD-Kandidat für den Wahlkreis Hann. Münden“, Michael von Dolsperg, entgegen und forderte: „Hann. Münden wählt deutsch“. Letztendlich kam die NPD bei den Kreistagswahlen auf nur 1,1%, doch mit seiner Kanidatur auf einer weiteren Liste für den Stadtrat hatte der gelernte Dachdecker für Aufsehen in der Dreiflüssestadt gesorgt, die Wählergemeinschaft löste sich daraufhin selbst auf. Vor seiner Heirat hieß von Dolsperg noch Michael See, trieb im thüringischen Leinefelde sein Unwesen, stieg schnell zu einem der bundesweit wichtigsten Neonazis auf und stand auf der Gehaltsliste des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Doch seine Akte wurde im November 2011 geschreddert, sieben Tage nachdem der NSU sich selbst enttarnt hatte. Die Aktenvernichtung geschah am selben Tag, als der Generalbundesanwalt Ermittlungen wegen der „Gründung einer rechtsgerichteten terroristischen Vereinigung“ einleitete.

Von der „Kameradschaft Leinefelde“ zu einem der bundesweit wichtigsten Neonazis

Michael See (2. v. r.) mit Nazi-Kader Thorsten Heise und Dieter Riefling 1998 auf dem Weg durch Göttingen (repro: Kai Budler)

1994 soll sich See selbst der Behörde als Quelle angedient haben, die letzten Zahlungen an ihn stammen nach dem Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses aus den Jahren 2002 und 2003. Der 1974 geborene See hatte sich bereits in den frühen 1990ern an die Spitze der Kameradschaft Leinefelde im thüringischen Eichsfeld gesetzt, deren Wehrsportgruppe geleitet und war vor allem im Raum Nordhausen aktiv. Nachweislich unterhielt er gute Kontakte zur extrem rechten Szene um die „Kameradschaft Jena“ und den „Thüringer Heimatschutz“ (THS), aus der später der NSU erwachsen sollte. See tauschte sich mit Tino Brandt und André Kapke aus und hatte enge Kontakte zur damaligen Kameradschaftsszene in Jena. Auch zum bundesweit bekannten Neonazikader Thorsten Heise stand er seit 1993 in Verbindung und war sechs Jahre später zu Gast auf dessen Hochzeit im niedersächsischen Northeim, auf der sich auch Neonazis aus dem NSU-Umfeld aufhielten. 1996 befand sich Sees Name auf einer Liste von 50 Neonazis, über die die Teilnehmer des damaligen „Rudolf Hess Aufmarsch“ nach Worms dirigiert wurden. Im Bericht des Untersuchungsausschuss werden ihm „gute Kontakte zur bundesweiten Neonaziszene“ zugeschrieben, belegt sind unter anderem Verbindungen zum später verbotenen „Blood and Honour“-Netzwerk und dem Terrornetzwerk „Combat 18“. Diese Kontakte hatte See offenbar auch während seiner Haftstrafe wegen schwerster Gewalttaten aufgebaut, als er mit einer Annonce „Kontakt zu Kameradinnen und Kameraden“ suchte. Betreuung erhielt er während der Haft von der Organisation „Internationales Hilfskomitee für nationale politische Verfolgte und deren Angehörige“ (IHV), das der Neonazi Ernst Tag aus Rheinland Pfalz initiiert hatte, seine Vorläuferorganisation war die „Aktion Sauberes Deutschland“ (ASD).

Staatlich finanziertes Propagandablatt

See war Leiter der ASD-Ortsgruppe Leinefelde und gab als IHV-Mitglied seit 1994 das Vereinsblatt „Sonnenbanner. Nationales Sozialistisches Monatsblatt“ heraus. Ziel der ASD war nach eigenen Angaben „die Schaffung einer politischen Elite, die die weißen Menschen Europas wachrütteln und ihre bevorstehende Vernichtung durch den Zionismus und Kommunismus verhindern soll“. Mit diesem Anspruch aktivierte er in Leinefelde die weitestgehend zerfallene Neonaziszene und galt im thüringischen Eichsfeld als Drahtzieher von gewalttätigen Übergriffen auf Andersdenkende. Doch interner Streit führt zum Austritt der aktiven ASD-Gruppen in Thüringen, See, der zugleich Mitglied der 1995 verbotenen „Freiheitlichen Arbeiterpartei“ (FAP) war, gründet die „Aktion Volkswille“ (AKW) und gab die Postille „Sonnenbanner“ künftig mit dem Untertitel „Nationales Sozialistisches Monatsblatt“ bzw. „Nationales Sozialistisches Schulungsblatt“ heraus. Welche Leser der Macher des Blatts im Auge hatte, beweist er in der Ausgabe 1/96 mit dem Spruch „Wenn euch diese BRD auch ankotzt, dann seid ihr bei uns genau an der richtigen Adresse“. Unter der Überschrift „Strategien der Zukunft“ rief der bekennende „Antidemokrat“ See die Neonazis auf, ihr Erscheinungsbild dem der „Normalbürger“ anzupassen, wichtig sei das Innere. Nachdem der Dachdecker den Wohnort gewechselt hatte, wirbt er 1999 in dem „Sonnenbanner“-Artikel „NS Bewegung heute“ für „autonome Zellenstrukturen“ und ruft zum Weg in den „Untergrund“ auf. Mit der Drohung „Wir wollen die BRD nicht reformieren, wir wollen sie abschaffen“ liest sich das in dem Pamphlet skizzierte Zellenprinzip wie eine Anleitung für den NSU, ein Jahr zuvor war bei den Unterlagen von Uwe Mundlos eine Ausgabe des „Sonnenbanner“ gefunden worden. Von einem im Vorfeld groß angekündigten Plan eines Neonazi-Schulungszentrums hingegen ist nach Sees Wohnortwechsel nichts mehr zu hören, dafür residierte er nach seiner Heirat als Michael von Doslperg mit seiner Frau am Rand der Fulda vor den Toren der südniedersächsischen Kleinstadt Hann.Münden. Beide kandidierten später für die NPD im Kreis Göttingen. In Hann. Münden befand sich auch die neue Postfachadresse des „Sonnenbanner“. Für den VS sollte See „wegen seiner guten Kontakte in den norddeutschen Raum (…) sich nach dem untergetauchten Trio“ umhören: gemeint war die NSU-Zelle Böhnhard, Mundlos und Zschäpe.

„Nährboden für Feindschaft und Hass“

NPD Propaganda mit Michael See von 2001 (repro: Kai Budler)

Doch die in der bundesweiten Neonazi-Szene beliebte Zeitung „Sonnenbanner“ zog mit einer weiteren Ausgabe ein Gerichtsverfahren für ihren Macher und seine Ehefrau nach sich. Nach Erscheinen der Nummer 19 mit dem Untertitel „Kriegsweihnacht 1999“ hatte der Staatsschutz die Wohnung des Paars durchsucht und Material sowie Unterlagen zu einem „Sonnenbanner“-Spendenkonto beschlagnahmt, es folgte die Anklage der Staatsanwaltschaft wegen Volksverhetzung. In dem dreiseitigen Text wurde die antisemitische und rassistische Gesinnung seines Machers in vollem Umfang deutlich: England sei „eine israelische Provinz in Europa“, der Zweite Weltkrieg sei von „den Juden“ erklärt worden und der Schriftsteller Ralph Giordano führe „jüdische Mordbanden“ an. Angesichts dieser volksverhetzenden Texte sah der Richter des Amtsgerichtes Göttingen keine Möglichkeit einer günstigen Sozialprognose für den zweifach einschlägig vorbestraften Dachdecker. Im Berufungsverfahren verurteilte das Landgericht den damals 26-jährigen von Dolsperg wegen Volksverhetzung zu einer Bewährungsstrafe, seine Ehefrau erhielt wegen Beihilfe eine Geldstrafe. Das Gericht sprach von „diffamierenden Äußerungen“ als „geistigen Nährboden für Feindschaft und Hass“.

Aktenvernichtung verhindert Aufklärung

Ein Nährboden, der jahrelang unter den Augen des Verfassungsschutzes bereitet worden war, denn Michael See, bzw. von Dolsperg hatte nahezu alle Ausgaben des „Sonnenbanner“ publiziert, als er von der Behörde als V-Mann „Tarif“ geführt wurde. Seine Bezahlung dürfte üblicherweise zumindest zu Teilen der Finanzierung des „Sonnenbanner“ und seiner menschenverachtenden Aussagen und Texte gedient haben. Zwar zogen von Dolsperg und seine Frau 2002 nach Schweden, um „nach altem germanischen Stammesrecht zu leben“, die Kontakte zur deutschen Neonaziszene rissen aber nicht ab. Sie waren beliebte Interviewpartner extrem rechter „Umweltschutzmagazine“. Michael von Dolsperg soll noch bis 2008 Mitglied der „Artgemeinschaft“ um den mittlerweile verstorbenen Neonazi-Anwalt Jürgen Rieger gewesen sein, der ihn in Göttingen auch vor Gericht vertreten hatte. Wie nah der bundesweit derart gut vernetzte See dem NSU-Trio wirklich gewesen ist, darüber könnten die Akten des VS Auskunft geben. Doch die Behördenpapiere ließ der Geheimdienst selbst vernichten und muss sich damit erneut vorwerfen lassen, die Aufklärung der tödlichen Fehler im Rahmen der NSU-Ermittlungen behindert statt voran getrieben zu haben.