Das Vertrauen der Öffentlichkeit und insbesondere das der Angehörigen der Opfer des NSU-Terrors in die Sicherheitsbehörden ist immer noch nachhaltig erschüttert. Auch die Hamburger Familie Tasköprü, deren Bruder und Sohn Süleyman als dritter von dem Trio ermordet wurde, ist bis heute traumatisiert. Die Tatsache, dass jahrelang in dem persönlichen Umfeld des Opfers ermittelt wurde, ein rassistischer Hintergrund von den Ermittlern aber faktisch ausgeschlossen wurde, trug erheblich dazu bei. Erst vor wenigen Wochen stellte Frank Jansen im Tagesspiegel anlässlich der Aussagen von Polizisten und Vater Ali Tasköprü vor dem Münchner Landesgericht fest, „dass die Polizei die Möglichkeit eines rechtsextremen Hintergrunds der Taten ausblendete.“ Der Vater des Toten berichtete im NSU-Prozess von zwei auffälligen Deutschen in der Nähe des Tatorts, doch die Hamburger Polizei nahm dies nicht zum Anlass eine Spur Richtung Rechtsextremismus zu verfolgen. In Hamburg will auch der Generalstaatsanwalt bis heute keine wesentlichen Fehler in dem Ermittlungsverfahren eingestehen.
Weil auch in der Hansestadt die Ermittlungen sehr einseitig geführt wurden und ein Versagen der Ermittlungsbehörden ebenso offensichtlich wie in anderen Bundesländern ist, beantragte die Fraktion der LINKEN für den April diesen Jahres eine Befassung mit dem Thema durch den Innenausschuss der Hamburger Bürgerschaft unter dem Titel „NSU-Terror und Behördenversagen – Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf Aufklärung.“ Für die Sitzung gab es einen dezidierten Fragenkatalog. Er richtete sich an die zuständigen Behörden und Ämter die im Mordfall Tasköprü von Juni 2001 bis November 2011 erfolglos ermittelten. Von Seiten des Senates war der Ausschuss hochkarätig besucht, neben dem Innensenator und Staatsräten waren auch der Polizeipräsident und hohe Polizeibeamte, der Vize des Hamburger Verfassungsschutzes und der Generalstaatsanwalt anwesend. Die Argumentation des Senates und der Verantwortlichen bezüglich der desaströsen Ermittlungen: Man hätte ergebnisoffen in alle Richtungen ermittelt, bloß leider habe es für einen rassistischen Hintergrund der Mordserie keine Anhaltspunkte gegeben, deshalb habe diese Spur immer eine untergeordnete Rolle gespielt. Doch dies ist zweifelhaft, glaubt man der SPD-Obfrau Eva Högl, die im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Bundestages saß und sowohl die Akten des Landeskriminalamtes (LKA) Hamburg einsehen konnte, wie auch an Befragungen von Ermittlern teilnahm. Als der Hamburger Leiter der Sonderkommission 061, welche jahrelang die Ermittlungen im Mordfall Tasköprü durchführte, vor dem Ausschuss aussagen musste, kam Högl zu dem Schluss, dass sich in den Hamburger Akten nicht ein Hinweis befand, dass auch in Richtung Fremdenfeindlichkeit oder Rechtsextremismus ermittelt wurde.
Noch bedenklicher ist jedoch, dass der Hamburger Generalstaatsanwalt Lutz von Selle selbst in diesem Jahr noch frühe Hinweise auf einen rassistischen Hintergrund leugnete und meinte, dass der Tag erst noch komme, an dem die Staatsanwaltschaft als „Herrin des Verfahrens“ vielleicht zu dem Schluss komme, „dass wir uns eingestehen müssten, Fehleinschätzungen vorgenommen zu haben.“ Ein bisschen weniger Konjunktiv und etwas mehr Selbstkritik wären vor dem Innenausschuss allerdings angebracht gewesen.Auf die Frage des Abgeordneten Kazim Abaci (SPD) im Innenausschuss, ob es unter den vielen vernommenen Zeugen auch welche gegeben habe, die rechtsextremistische Täter als Mörder vermuteten, gab von Selle zur Antwort, „dass sich in dem uns vorliegenden Aktenmaterial keine Zeugenaussage befindet, die in etwa diesen Inhalt hatte, wie Sie ihn formuliert haben, sprich, keine Vermutung dahingehend, dass diese Tat einen rechtsextremistischen Hintergrund habe.“
In den Ermittlungsakten zum Mordfall Tasköprü finden sich allerdings mindestens drei Aussagen von unterschiedlichen Zeugen mit Migrationshintergrund, die einen entsprechenden Hintergrund bei Rassisten, Neonazis und im NPD-Umfeld vermuteten. In detaillierter Abwägung gegenüber den favorisierten Thesen der Ermittler, gab z.B. Ali Sahin T. am 12. April 2006 dem LKA zu Protokoll:
„Wenn ich von neun Morden an acht Türken und einem Griechen höre, alle hatten ein kleines Gewerbe. Es kann sich nicht um Morde aus Ehrverletzung handeln. Also nicht, weil die Frau oder Schwester ehrverletzt wurde. Ich glaube auch nicht, dass es ein Auftragskiller ist. Was soll ein Auftragskiller bei einem Schneider, Internet-Cafe-Betreiber, Kioskbesitzer, Döner-Imbiss-Betreiber usw. Dann müsste der Killer sehr bekannt sein. Vielleicht ist es ein Rassist. Ein Nazi, der Türken und Ausländer hasst …. Ich glaube nicht, dass es mit Drogen zu tun hat. Darauf gebe ich nicht mal 1% … Ich glaube auch nicht, dass die PKK oder die Grauen Wölfe dahinter stecken. Die PKK wäre so mächtig, die Grauen Wölfe nicht“
Diese Vermutung, die der Wahrheit ziemlich nahe kommt, wurde in der Zusammenfassung des LKA dann wie folgt wiedergegeben: „Keine Aussage von Substanz zum Motiv; PKK hätte die Macht für eine solche Serie – die Grauen Wölfe nicht.“ Nachgegangen wurde den entsprechenden Zeugenvermutungen in Hamburg auch nicht als Alexander Horn, Profiler der bayrischen Polizei, für die bundesweit koordinierende BAO Bosporus eine neue Operative Fallanalyse vorlegte, in der er den Hintergrund der ungeklärten Mordserie nicht im Bereich der organisierten Kriminalität ansiedelte, sondern eher einen rassistischen Hintergrund von einem oder zwei Tätern vermutete. Generalstaatsanwalt von Selle gilt als äußerst konservativ, fleißig und penibel. Vor dem Innenausschuss gab er an, dass die Hamburger Staatsanwaltschaft nach dem zufälligen Auffliegen des NSU im November 2011 insgesamt drei Mal die Akten durchgearbeitet habe, um zu „überprüfen, ob wir etwas übersehen haben“, bzw. um sich auf die kritischen Fragen im Ausschuss vorzubereiten.
Dieses Beispiel zeigt erneut, wie wenig erhellend es ist, wenn die Zuständigen aus Polizei, Geheimdienst und Staatsanwaltschaft ihr eigenes Versagen im Falle der NSU-Mordserie erklären sollen und es keine Möglichkeit der Überprüfung gibt. Zwar haben sich die Parlamentarischen Untersuchungssauschüsse im Bund und den Ländern manchmal auch an der blockierenden Haltung der Sicherheitsbehörden die Zähne ausgebissen, in Hamburg gibt es jedoch nicht einmal einen Untersuchungsausschuss, die Abgeordneten haben keine Einsicht in die Ermittlungsakten und dürfen keine Zeugen unter Eid befragen.
Laut einer Befragung des Dortmunder Futureorg-Instituts von 1.000 Migranten mit türkischer Herkunft im Sommer diesen Jahres, sind gerade einmal neun Prozent der Interviewten überzeugt, dass die Rolle der Sicherheitsbehörden bezüglich des NSU-Terrors lückenlos aufgeklärt werden könne. Manchmal bekommt man den Eindruck, dass sich daran auch nichts ändern soll. Familie Tasköprü hat laut ihrem Anwalt jegliches Vertrauen in den deutschen Staat zwölf Jahre nach der Tat und zwei Jahre nach dem Auffliegen der NSU-Terrorzelle verloren. Eine Einladung von Bundespräsident Joachim Gauck hatte sie deshalb bereits Anfang des Jahres abgelehnt. Auch von der Hamburger Polizei seien die Angehörigen enttäuscht: „Nach dem Auffliegen der Zelle hat sich niemand mehr bei der Familie gemeldet.“ Dabei habe die Polizei zuvor immer wieder Familienangehörige verhört und diese damit zunehmend belastet, so der Anwalt. Mitarbeiter des Bundesamts für Verfassungsschutz zeigten die Tasköprüs nach dem bekannt werden der Vernichtung von V-Mann-Akten im Sommer 2012 wegen Urkundenunterdrückung bei der Bundesstaatsanwaltschaft an.
Zu Beginn der erwähnten Sitzung des Innenausschusses im April versprach Innensenator Michael Neumann den Abgeordneten, der migrantischen Community und der übrigen Bevölkerung ein „Höchstmaß an Transparenz“, und warb dafür sich „verloren gegangenes Vertrauen Schritt für Schritt wieder zu erarbeiten“. Gleichzeitig betonte Neumann: „Meine Aufgabe und meine Haltung ist es aber, sich vor meine Mitarbeiter zu stellen.“ Man bekommt den Eindruck, dass Letzteres doch deutlich überwiegt, wenn es in Hamburg um die Aufklärung der Mordserie des NSU und das Versagen der zuständigen Behörden geht.