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Mimikry-Strategie lässt Berliner Neonazis Proteste gegen Asylunterkünfte dominieren

 

Über 300 Teilnehmer protestierten gegen eine Asylunterkunft in Köpenick © Theo Schneider
Über 300 Teilnehmer protestierten gegen eine Asylunterkunft in Köpenick © Theo Schneider

Am Nachmittag zogen über 300 Menschen in Berlin-Köpenick gegen ein geplantes Containerdorf für Flüchtlinge im Allende-Viertel auf. Die Teilnehmer bestanden zu mindestens einem Drittel aus organisierten Neonazis und ihren Sympathisanten, von denen die wenigsten aus dem Bezirk stammten und zum Teil extra aus Brandenburg angereist waren. Der heutige Tag zeigt erneut, dass es in Berlin organisierten Neonazis mittlerweile zunehmend gelingt, Proteste von Anwohnern gegen Asylunterkünfte zu initiieren oder zu übernehmen. Drei Brennpunkte der rassistischen Mobilisierung bildeten sich dabei in den letzten Wochen heraus: Die Berliner Ortsteile Buch, Marzahn und spätestens seit heute auch Köpenick.

Das Vorgehen der Rechtsextremen ist dabei immer das Gleiche: Sie folgen einer Mimikry-Strategie, die sie im Laufe der Auseinandersetzungen um eine Asylunterkunft in Berlin-Hellersdorf letztes Jahr angewandt und seitdem fortlaufend weiterentwickelt haben. Schnell fanden sich bundesweit mehr oder weniger erfolgreiche Nachahmer. Die Strategie der Neonazis funktioniert so:

"Nein zum Heim": Anwohner und Neonazis am Samstag in Köpenick © Theo Schneider
„Nein zum Heim“: Anwohner und Neonazis am Samstag in Köpenick © Theo Schneider

Spätestens mit der Ankündigung einer geplanten Asylunterkunft beginnen die Rechten mit der Stimmungsmache in dem betroffenen Stadtteil. Online in sozialen Medien und mit Flugblättern und Versammlungen auf der Straße verbreiten sie die immergleichen Lügen über Asylbewerber von „steigender Kriminalität“, „Hygieneproblemen“ und – an den Sozialneid der Anwohner appellierend – von einer vermeintlichen Besserbehandlung der Flüchtlinge. Allerdings geben sich die Neonazis dabei nicht als solche zu erkennen, sondern agieren immer als ominöse anonym-auftretende „Bürgerinitiative“, als besorgte Anwohner die vorgeblich informieren und sich mit ihresgleichen vernetzen wollen. Als zentrales Informationsportal fungiert dabei in der Regel eine eigens dafür eingerichtete Facebook-Seite. Anwohner, die für diese Argumentationen offen sind, reagieren dann zumeist empört auf den Hinweis, dass es sich um rassistische Slogans handelt und sie sich von organisierten Neonazis vor den Karren spannen lassen. Eine Distanzierung oder kritische Auseinandersetzung mit den eigenen rassistischen Vorurteilen findet dabei nicht statt und wird auch durch die Rechten mit Verweisen auf eine vermeintliche „Nazikeule“ abgewehrt.

Die neuerlichen Entwicklungen zeigen, dass Rechtsextreme solche „Bürgerinitiativen“ nicht nur initiieren, sondern falls notwendig auch kapern und die Kontrolle über die Proteste übernehmen. In Marzahn plante eine Anwohnerinitiative eine „Montagsdemo“ gegen die geplante Unterkunft. Nach zunehmender Solidarisierung von rechtsextremer Seite, sagten die Initiatoren ihre Veranstaltung ab. Daraufhin übernahmen die Neonazis schlichtweg das Format und konnten bereits zwei Mal mehrere hundert Teilnehmer auf die Straße bringen. Nicht nur in Marzahn, auch in Buch und Köpenick kamen Anwohner zunächst aus unterschiedlichen Motiven selbstständig zusammen, um gegen die Unterkünfte zu protestieren. Hier brachten sich die Neonazis frühzeitig ein, beteiligen sich an Auftreten und inhaltlicher Ausgestaltung der Facebook-Seiten und übernehmen strukturelle Aufgaben bei Kundgebungen und Aufmärschen, zum Beispiel als Redner, Ordner oder sogar Anmelder der Versammlungen. Dadurch übernehmen sie schließlich die komplette Kontrolle dieser Anti-Asyl-Aktivitäten, da bei den zumeist politisch unerfahrenen Anwohnern weder das Wissen noch der Wille zur Abgrenzung vorhanden ist. Als am heutigen Tag in Köpenick die bislang rechtsextrem nicht in Erscheinung getretene Anmelderin des Aufmarsches Judith R. vor Beginn den Teilnehmern mit einem Megafon sagte, man sei heute nur gegen die Asylunterkunft auf der Straße und sie wolle keine rassistischen Parolen, erntete sie lautes Gelächter. Sie nahm nicht nur in Kauf, dass stadtbekannte Neonazis als Ordner fungierten und das Fronttransparent stellten, sondern auch, dass der NPD-Europaabgeordnete Udo Voigt und der Berliner NPD-Landeschef Sebastian Schmidtke Reden halten konnten. So verkommt die auch im Vorfeld geäußerte Abgrenzung von Neonazis zum bloßen Lippenbekenntnis.

Selbst kein Nazi, aber mit solchen demonstrieren: Ein Drittel der Teilnehmern waren Neonazis, stellten Ordner und Redner © Theo Schneider
Selbst kein Nazi, aber mit solchen demonstrieren: Ein Drittel der Teilnehmern waren Neonazis, stellten Ordner und Redner © Theo Schneider

Es scheint, dass die rechtsextreme Szene, die in der Hauptstadt ihre besten Zeiten längst hinter sich hat, nun einen Weg zu finden scheint, wieder gesellschaftlichen Einfluss gewinnen zu können. Bei den letzten Aufmärschen in Berlin nahmen hinter ihren Bannern und Losungen immerhin mehrere hundert Menschen teil. Mit weiteren Versammlungen in immer kürzeren Abständen in Buch, Marzahn und Köpenick sind die Rechten bestrebt, diese Entwicklung weiter zu forcieren. Als vorläufigen Höhepunkt mobilisieren die verschiedenen „Bürgerinitiativen“ derzeit alle zu einem gemeinsamen Aufmarsch in Marzahn am 22. November. Bis zu eintausend Teilnehmer werden erwartet.

Allerdings bleiben diese Aktivitäten nicht unwidersprochen. Letzten Donnerstag gelang es Antifaschisten in Buch erfolgreich, den Kundgebungsort der Rechten zu besetzen und die Heimgegner zu verdrängen. Heute demonstrierten in Köpenick auf einer Gegenkundgebung fast 200 Menschen gegen Rassismus und rechte Hetze. Auch für den 22. November sind Gegenaktionen angekündigt. Es ist zu hoffen, dass von den Nazigegnern die Berlinweite Dimension dieser Entwicklung erkannt wird und sich die Akteure zunehmend vernetzen und bei ihren Aktionen gegenseitig unterstützen. Denn das Problem liegt nicht nur bei rassistischen Einstellungen von Anwohnern, die durch Aufklärung oder lokalen Willkommensbündnissen begegnet werden könnten, sondern auch in einer Berlin/Brandenburger Neonaziszene die bezirksübergreifend agiert und das Thema der Asylunterkünfte zum zentralen Themenfeld erklärt hat.

Bis zu 200 Menschen solidarisierten sich mit Flüchtlingen und protestierten gegen den rechte Aufzug © Theo Schneider
Bis zu 200 Menschen solidarisierten sich mit Flüchtlingen und protestierten gegen den rechte Aufzug © Theo Schneider