Zwei Jahre Haft. Im bayerischen Memmingen verurteilte das Amtsgericht einen Reichsbürger wegen gefährlicher Körperverletzung. Der 73-jährige Rentner hatte 2016 bei einer Durchsuchung einen Polizeibeamten mit Pfefferspray so attackiert, dass dessen Haut nachhaltig geschädigt wurde. In einer baden-württembergischen Gemeinde nahe Künzelsau stellte die Polizei nach einer Razzia bei einem Reichsbürger Waffen und Munition sicher, da sie unter das Waffen-, das Kriegswaffenkontroll- und das Sprengstoffgesetz fallen.
Den unfreiwilligen Tipp hatte der 60-Jährige selbst gegeben, als er in einem sozialen Netzwerk Bilder mit den Waffen einstellte. In der mecklenburg-vorpommerschen Landeshauptstadt Schwerin griff ein Reichsbürger einen Postbeamten an. Der Beamte hatte ihn gefragt, ob er ein Paket für den Nachbarn annehmen könnte. Prompt parkte der 40-Jährige den Postboten zu und schlug auf eine Scheibe des Transporters ein. Den Boten verletzte er. Mehrere Einsatzkräfte mussten anrücken, um bei dem in seine Wohnung geflüchteten Reichsbürger die Identität festzustellen, sodass ein Verfahren wegen Körperverletzung, Sachbeschädigung, Nötigung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte eingeleitet werden konnte. Im nordrhein-westfälischen Hünxe forderte der Verein für bioenergetisches Leben von der Gemeinde eine »Leibrente« ein. Bei dem Verein fand unlängst eine Razzia wegen Verdachts der Nähe zur Reichsbürger-Idee und des Besitzes von illegalen Waffen statt.
Vier Vorfälle aus den ersten zwei Wochen des August 2017. In der Bundesrepublik hat sich die heterogene Bewegung der Reichsbürger etabliert. Die Bewegung mit sehr unterschiedlichen Akteuren expandiert und radikalisiert sich. Dieses Milieu mit mehr als 12 000 Anhängern hat viele Differenzen – politische und persönliche. Sie alle eint aber die Ideologie, dass ein deutsches Reich in den Grenzen von 1871, 1918 oder 1933 weiter bestehen würde und die Bundesrepublik kein völkerrechtlich anerkannter Staat, sondern vielmehr nach 1945 ein unsouveränes Staatskonstrukt der Alliierten oder eine Firma »BRD GmbH« entstanden sei.
Etwa 800 Anhänger der Reichsvorstellungen ordnet das Bundesinnenministerium der extremen Rechten zu. In einem vertraulichen Lagebericht für die Jahre 2016 und 2017 mit dem Titel »Reichsbürger/Selbstverwalter« schreibt das Bundeskriminalamt (BKA) 2017, dass diese Bewegung zur »äußersten Gewalt bis hin zu terroristischen Aktionen« bereit sei. Das BKA registrierte im Berichtszeitraum 13 000 Straftaten, 750 Delikte waren Gewalttaten. Über 700 Taten richteten sich gegen Mitarbeiter von Behörden.
Militanz
Seit dem 19. Oktober 2016 betrachten Staatsapparat und Sicherheitsorgane die Reichsbürger-Bewegung anders. Seit diesem Tag ist in Politik und Medien diese Bewegung auch kein randständiges Phänomen mehr. An jenem Mittwochmorgen gab Wolfgang Plan im bayerischen Georgensgmünd aus einem Hinterhalt elf Schüsse durch eine teilverglaste Wohnungstür auf Polizeibeamte ab. Ein Spezialeinsatzkommando der Polizei sollte dem Reichsbürger wegen seiner staatsfeindlichen Einstellung 31 legale Waffen abnehmen.
Beim Erstürmen des Gebäudes schoss der Jäger mit einer Pistole. Eine Kugel traf einen 32 Jahre alten SEK-Beamten in die Lunge, woran er verstarb. Einen weiteren Polizeibeamten verletzte Plan schwer und zwei Beamte leicht. Nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth hatte der 49-Jährige mit dem Polizeieinsatz gerechnet und sich vorbereitet. Durch das geriffelte Glas der Tür hätte er die Polizisten schemenhaft erkennen können, ganz gezielt sei geschossen worden. Die Staatsanwaltschaft erhob im April 2017 Mordanklage, geht sie doch von den Mordmerkmalen Heimtücke und niedere Beweggründe aus.
Der tödliche Schuss änderte die gesamte Wahrnehmung. Nicht alle Reichsbürger, Selbstverwalter und Souveränisten hängen einer geschlossenen extrem rechten Ideologie an. Die staatlichen Reaktionen und auch die mediale Resonanz auf die Tat von Plan spiegelten aber eine gesellschaftliche Entwicklung wider, die Beratungsstellen von Opfern rechter Gewalt schon länger beklagt hatten. Für das Jahr zuvor schätzte das Bundesinnenministerium die rechtsextreme Szene auf 12 100 Anhänger, wovon mehr als die Hälfte potenziell gewaltbereit sei. »Der höchste Stand, seit diese Zahl statistisch erfasst wird«, bekannte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU). »Dies schlägt sich auch in den Zahlen rechtsextremistischer Gewalttaten des Jahres 2016 nieder.« Sie stiegen nach der besonders starken Zunahme im Jahr 2015 weiter auf 1600 an, so de Maizière am 4. Juli 2017 bei der Vorstellung des Bundesverfassungsschutzberichts 2016.
Doch die alltägliche Gewalt gegen Andersdenkende, wozu auch Übergriffe von Reichsbürgern gehören, findet nach Einschätzung der Opferberatungen keine ausreichende Beachtung in der Öffentlichkeit, obwohl die Taten spürbar brutaler geworden sind. In den Beratungsnetzwerken für Demokratie und in den Expertenkreisen zu Rechtsextremismus wurde schon länger darauf hingewiesen, dass die Reichsbürger-Bewegung aller Erfahrung nach nicht beim »Papierterrorismus« stehen bleiben würde. Reichsbürger fielen nicht nur dadurch auf, dass sie ihre Personalausweise abgaben oder Behördenpost ungeöffnet zurücksandten. Sie griffen Behördenmitarbeiter auch verbal und körperlich an. Nicht wenige Gerichtsvollzieher und Polizeibeamte sind bereits verletzt worden.
Im Februar 2012 hatte beispielsweise die Reichsbewegung – Neue Gemeinschaft von Philosophen Drohbriefe an Moscheen und jüdische Gemeinden verschickt, in denen sie »alle raum-, wesens und kulturfremden Ausländer in Deutschland, insbesondere (…) Türken, Muslime und Negroide«, zur Ausreise aufforderten und zugleich drohten, die Zuwiderhandelnden nach der gesetzten Frist standrechtlich zu erschießen. Auf ihrer Website konnte man den Brief nachlesen. Doch die gesamte Bewegung wurde lange Zeit von den Behörden als Ansammlung von Spinnern und Verrückten abgetan, das Gefahrenpotenzial nicht erkannt.
Positionen
Das Fundament der Reichsideologie bilden sechs vermeintliche Argumentationen. In unterschiedlichen Variationen greifen die Milieumacher und Anhänger auf sie zurück. Die Amadeu Antonio Stiftung hat sie knapp umrissen – und überprüft:
1. Das Grundgesetz (GG) sei keine Verfassung. Auf den Artikel 146 GG wird sich gern bezogen: »Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.« Das Argument gegen die Verfassung greift nicht. Die Alliierten forderten nach 1945 explizit eine verfassungsgebende Versammlung, wofür die Form des Parlamentarischen Rates gewählt wurde. Die Namenswahl Grundgesetz und der Artikel 146 waren der Hoffnung auf eine baldige Wiedervereinigung von West- und Ostdeutschland geschuldet. Die Wortwahl machte für die Alliierten keinen rechtlichen Unterschied. Sie genehmigten die erstellte »constitution« – als Verfassung.
2. Das Grundgesetz beruhe auf keiner »direkten demokratischen Legitimation«. Dieses Argument trifft zu, wenn man die Legitimation ausschließlich als Volksabstimmung (Referendum) versteht. Dies ist aber für eine Verfassung nicht zwingend notwendig. Eine indirekte Legitimation war durch die Mitglieder des Parlamentarischen Rates gegeben, denn die Delegierten waren demokratisch gewählte Landtagsabgeordnete aus den Jahren 1945 bis 1948.
3. Das Grundgesetz sei nicht mehr gültig, »da sein Geltungsbereich zusammen mit dem Artikel 23 GG der alten Fassung aufgehoben wurde«. Am 17. Juli 1990 soll US-Außenminister James Baker die Bundesregierung angewiesen haben, den Artikel 23 GG – räumlicher Geltungsbereich des GG/Der Bund und die Länder – in der damaligen Fassung aufzuheben, damit wäre auch das GG insgesamt aufgehoben worden. Dieses Argument stimmt nicht.
Die Aufhebung erfolgte wegen der sich anbahnenden Vereinigung der Deutschen Demokratischen Republik mit der Bundesrepublik Deutschland. In Paris fand am 17. Juli 1990 ein Vorverhandlungstreffen zum Zwei-plus-vier-Vertrag statt, der die Zustimmung der vier alliierten Siegermächte zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten regelte. Diesen Staatsvertrag handelten die Bundesrepublik Deutschland und die DDR sowie Frankreich, Großbritannien, die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten von Amerika aus und regelten darin alle völkerrechtlichen Fragen in Bezug auf Deutschland.
Verfassungen könnten im Übrigen aber auch ohne räumlichen Geltungsbereich gültig sein, und die sogenannte Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes sichert dieses zusätzlich ab.
4. Die Bundesrepublik sei nicht souverän und weiterhin besetzt. Das Argument greift nicht. Die Souveränität der DDR und der BRD ist seit 1954 durch eine Erklärung der UdSSR gegenüber der DDR und den Deutschlandvertrag der BRD mit den drei alliierten Westmächten 1955 gegeben. Mit dem Zwei-plus-vier-Vertrag ist die Bundesrepublik spätestens seit 1990 ein souveräner Staat.
5. Deutschland habe keinen Friedensvertrag. Zwei Varianten werden vorgetragen. Einerseits wird auf den Versailler Vertrag nach dem Ersten Weltkrieg verwiesen, den der US-Kongress nicht ratifiziert hat. Mit den USA befinde sich Deutschland folglich noch im Krieg. Das Argument ist richtig und falsch zugleich. Zwar ist der Versailler Vertrag in der Tat nicht ratifiziert worden, doch 1921 haben die USA und das Deutsche Reich einen Separatfrieden abgeschlossen.
Zum anderen wird angeführt, dass nach dem Zweiten Weltkrieg kein Friedensvertrag abgeschlossen worden ist. Dieses Argument ist zwar richtig, aber unbedeutend, denn die Alliierten haben einseitige Friedenserklärungen abgegeben, und durch den Zwei-plus-vier-Vertrag 1990 ist ein gesonderter Friedensvertrag zwischen der Bundesrepublik und den früheren Alliierten obsolet geworden.
6. Die Bundesrepublik sei eine Firma, man könne sie als »BRD GmbH« sogar in Firmenverzeichnissen finden. Dieses Argument greift nicht. Die Behörden von Bund, Ländern, Kommunen und die Verfassungsorgane sind zwar in Firmenverzeichnissen zu finden, aber das nur, weil sie zugleich auch Akteure im Wirtschaftssystem sind. Sie unterliegen den allgemeinen rechtlichen Regeln genau wie Unternehmen.
Dass der Personalausweis im Namen den Begriff »Personal« führt, sei ebenso ein Beleg dafür, dass die Inhaber Personal eines Unternehmens seien. Dieses Argument verfängt nicht. Das Wortfragment »Personal« bezieht sich auf die angegebenen Personalien im Ausweis.
Ein Dialog auf Augenhöhe ist bei den Anhängern der fundamentalistischen Reichsideologie schwierig. Die Konstruktion einer vermeintlich gegen Deutschland und die Deutschen gerichteten Verschwörung führt zu der Selbstüberhöhung, einer besonderen Gruppe anzugehören, die Einsichten in Zusammenhänge hat, welche anderen verborgen bleiben, weshalb es gleichwertige Gespräche kaum geben kann.
Ein gesellschaftliches Ignorieren der Reichsbürger ist allein schon wegen ihres verstärkten radikalen Agierens fahrlässig. Die Bewegung sucht die politische Auseinandersetzung, umso mehr sollten ihre politischen Intentionen bekannt sein, um ihnen offensiv begegnen zu können. In Schleswig-Holstein hat das Innenministerium eine kreative Verwaltungsidee erlassen. Durch eine Rechtsverordnung hat das Ministerium für die Verwahrung noch gültiger Ausweise eine Gebühr von fünf Euro pro Tag eingeführt.
Knapp 70 Prozent der Abgabewilligen nahmen ihre Personalausweise oder Reisepässe wieder mit. Eine behördliche Maßnahme, die die Reichsbürger verstimmt. Die Selbsterhebung zum »Souverän «, die auch eine Selbstermächtigung ist, geht aber dennoch in ein vermeintliches Selbstverteidigungsrecht gegen den angeblich unrechtmäßigen Staat über. Eine weitere Radikalisierung ist in der Reichsideologie angelegt.
Der Text ist ein Vorabdruck aus dem neuen Buch:
Andreas Speit (Hg.)
Reichsbürger – Die unterschätzte Gefahr
216 Seiten
Ch. Links Verlag
ISBN 978-3-86153-958-2