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Neonazi-Gedenken im Industriegebiet

 

Immer wieder wurden Journalisten unter den Augen der Polizei bedroht und beschimpft © Jesko Wrede
Immer wieder wurden Journalisten unter den Augen der Polizei bedroht und beschimpft © Jesko Wrede

Der extrem rechte „Gedenkmarsch“ in Magdeburg hat offenbar seinen Zenit überschritten: anders als erwartet, beteiligten sich nur rund 800 Neonazis an dem Aufmarsch durch Außenbezirke der Landeshauptstadt von Sachsen Anhalt. Mehr als 12.000 Nazi-Gegner setzten mit verschiedenen Aktionen ein Signal gegen den mittlerweile 14. Aufmarsch in Magdeburg.

Schon am Samstagmorgen war es knapp 1.000 Personen gelungen in den Teil Magdeburgs östlich der Elbe zu kommen: am Tag zuvor war die Marschroute der Neonazis öffentlich geworden, die Polizei wollte offenbar die Elbe als Trennlinie nutzen. Ein Katz und Maus Spiel begann, das die Behörden dazu bewegte, die Route der Neonazis kurzfristig zu ändern und den Aufmarsch in den Süden Magdeburgs zu verlegen. Zu der Entscheidung führte auch die gerichtliche Erlaubnis für Demonstrationen im Osten der Elbe. Damit waren die geplanten Massenblockaden gescheitert, viele Nazigegner erreichten den neuen Aufmarschort nicht mehr. Kurz nach 12.00 Uhr nahmen die ersten der am Hauptbahnhof versammelten Neonazis eine S-Bahn in Beschlag und wurden in Begleitung der Polizei in ein etwa sechs Kilometer entferntes Industriegebiet gebracht. Vorher hatten Neonazis auf dem Weg zum Bahnhof Gegendemonstranten angegriffen, während der Fahrt kam es zu verbalen Drohungen gegen Journalisten, die sich am Sammelpunkt in tätlichen Angriffen fortsetzen – auch während des weiteren Aufmarschs ist eine aggressive Grundstimmung zu spüren. Bereits nach wenigen hundert Metern stoppt der Aufmarsch für eine erste Zwischenkundgebung, sie wird im Hintergrund von Buhrufen, Pfeifen und Protesten begleitet. Ein Blick auf die personelle Zusammensetzung zeigt, dass die Szene bei ihrer Mobilisierung auch ohne die NPD auskommt: Parteifunktionäre sind rar, es überwiegen die „Freien Kräfte“, aus dem Ausland sind Neonazis aus den Niederlanden und Norwegen angereist.

Aufmarsch durch menschenleere Straßen

Etwa fünf Kilometer lang führt die Aufmarschstrecke an weitestgehend unbewohnten Häusern in den Stadtteilen Fermersleben und Salbke vorbei, durch die Straßen schallt Richard Wagners „Götterdämmerung“ in Dauerschleife. Zu einer weiteren Zwischenkundgebung kommt es vor dem „Libertären Zentrum“ (Liz), das in der Vergangenheit desöfteren von Neonazis angegriffen worden war. Ans Mikrofon treten Andy Knape, der kürzlich den Bundesvorsitz der „Jungen Nationaldemokraten“ (JN) übernommen hatte, und Maik Müller aus Dresden, der im Februar 2012 den fehlgeschlagenen Fackelmarsch in Dresden organisiert hatte. Von ihren Reden ist nicht viel zu verstehen, denn aus dem Liz schallt laute Musik auf die Straße, Trillerpfeifen und ohrenbetäubender Lärm von Kochtopf- und Geschirrgeklapper schaffen es fast, die Lautsprecher zu übertönen. Rund eine Stunde später nehmen die Neonazis unter einer Brücke am S-Bahnhof Südost Aufstellung für ihre Abschlusskundgebung mit Daniel Weigl, Kader des „Freien Netz Süd“ und ehemaliger Vorsitzender der NPD Oberpfalz. Als Organisator Andreas Biere schließlich mit Trommelbegleitung zur „Gedenkzeremonie“ aufruft, werden zwar die Mützen gezogen. Ergriffenheit will aber nicht aufkommen und auch die entzündeten Fackeln entfalten bei Tageslicht ihre Wirkung nicht. Knapp fünf Stunden nach dem Beginn ihrer Veranstaltung geht es für die Neonazis mit den S-Bahnen anschließend zum Hauptbahnhof und zu ihren Bussen, in Magdeburg ist zumindest dieser braune Spuk für dieses Jahr erst einmal vorbei, einen weiteren Aufmarsch in sieben Tagen haben die Neonazis abgesagt.

Größter Polizeieinsatz in Sachsen Anhalt

Während die Neonazis durch den Magdeburger Süden zogen, beteiligten sich über 160 Initiativen, Gruppen, Vereine und Parteien an der fünften „Meile der Demokratie“ und verhinderten damit einen Aufmarsch in der Innenstadt. Die Magdeburger Polizei war mit etwa 2.000 Beamten im Einsatz und spricht von einem der größten Einsätze in der Geschichte des Landes. Unterstützung kam aus neun weiteren Bunsländern, im Einsatz waren unter anderem zwei Reiterstaffeln, Wasserwerfer und ein Hubschrauber. Das Bündnis „Magdeburg Nazifrei“ kritisierte die Polizeitaktik und den Einsatz scharf: eine „Politik der Desinformation“ habe es den Nazigegnern erschwert, ihrem Protest in Nähe der Route Ausdruck zu verleihen. Bereits acht Kilometer nördlich des Aufmarsch habe die Polizei in der Innenstadt Gruppen mit Pfefferspray, Wasserwerfer und Knüppel aufgehalten. Augenzeugen berichten auch von Verfolgungen vermeintlicher Autonomer auf der Meile der Demokratie, bei denen Vertreter bürgerlicher Organisationen Blessuren davon trugen. Auch beim Einsatz gegen eine Demonstration zum Hauptbahnhof nach dem Abschluss des Neonaziaufmarschs griff die Polizei handgreiflich durch und sorgte für mindestens eine Verletzte.

Ignorieren statt eingreifen?

Anders fällt die Betrachtung des polizeilichen Verhaltens während des Neonazi-Aufmarschs aus. Dies beginnt bei der S-Bahn Fahrt ins Industriegebiet, als Polizisten sich in den ersten Sock des Waggons zurück ziehen und die Fahrgäste einer Übermacht von aggressiven Neonzis ausliefern. Auch tätliche Angriffe auf das Mitglied eines Kamerateams werfen bei Beamten wenig später die Frage auf „Haben wir hier ein Konfliktmanagement-Team?“. Bei anderen Handgreiflichkeiten, Provokationen und Gewaltandrohungen mussten die Betroffenen die Beamten vor Ort erst auf ihre Aufgaben hinweisen, bevor sie eingriffen. Gleiches gilt für den Umgang mit Anti-Antfa-Fotografen, die dreist und offensichtlich Nazi-Gegener und Journalisten in den Fokus nahmen. Und nicht nur die Entscheidung, dunkelhäutige Bahnreisende ohne Polizeischutz durch einen Neonazimob im Magdeburger Hauptbahnhof zu schicken, wirft Fragen nach der Sensibilität der Polizei auf. Auch bei den Abschlussworten von Andreas Biere „In Treue fest“ hätten die Alarmglocken läuten müssen, immerhin zitierte der Neonazi damit eindeutig den nationalsozialistischen „Deutschen Schwur“, ursprünglich zu „In Treue fest zum Führer“ verkürzt.