Bei einer selbstorganisierten Kundgebung von Flüchtlingen in Güstrow haben Neonazis am Samstag versucht die Teilnehmer anzugreifen. Etwa 150 Personen waren dem Aufruf der Refugees gefolgt und hatten auf dem Marktplatz und mit einer spontanen Demonstration in die Güstrower Südstadt gegen alltäglichen Rassismus und für eine echte Teilhabe der Flüchtlinge am Stadtleben demonstriert. Während der Kundgebung auf dem Marktplatz versuchten etwa 15 bis 20 Neonazis die Veranstaltung zu attackieren. Sie warfen mit Stühlen auf Antifaschisten, die sich ihnen in den Weg stellten, verletzten jedoch niemanden. Die eingesetzten Polizeibeamten waren zu wenige und agierten hilflos, als sie vor allem versuchten, die Antifaschisten von Gegenwehr abzuhalten. Zwei Tage später beteiligt sich die Lokalzeitung an der Umdeutung der Geschehnisse.
Kurz nach dem Angriff stellte Einsatzleiter Jens Wilke die Situation klar: Die rechten Angreifer seien „gerannt wie die Hasen, nachdem wir uns ein bisschen dicker gemacht haben“, beschreibt er den Zwischenfall aus seiner Sicht. Er verortet die Nazis in der ortsansässigen Szene, habe jedoch niemanden erkannt. Beunruhigt schien er zu diesem Zeitpunkt noch nicht: „Ist doch nichts passiert, wo ist denn der Sachschaden?“ Es sei ja nichts beschädigt worden. In einer stellenweise skurril anmutenden Mitteilung erklärte die Polizei noch am Abend, dass die Neonazis Stühle „umschubsten oder in die Luft warfen“ – ganz so, als ob das fliegende Sitzmobiliar keine Menschen hatte treffen sollen. Den entstandenen Sachschaden schätzte sie mittlerweile auf mehr als 1000 Euro.
Umdeutung beginnt
Während die Websites Kombinat Fortschritt und Endstation Rechts noch am Abend Bilder und Namen der angreifenden Neonazis veröffentlichen, begann am Montag die Neuinterpretation der Attacke, unter tatkräftiger Mithilfe des Lokalblatts „Schweriner Volkszeitung“ (SVZ). „Linksautonome“ hätten sich unter die „ansonsten friedliche Kundgebung“ der Flüchtlinge gemischt und seien den Neonazis schließlich „entgegen“ gestürmt, heißt es, Stühle seien durch die Luft geflogen. Wer sie warf? Wird nicht erwähnt. Auf diese Weise wird subtil ein Bild gezeichnet, in dem sich angeblich die Nazis gegen Antifaschisten hätten verteidigen müssen und die Schuld für die Eskalation nach links verschoben, auch ohne dies explizit auszuformulieren. Was geschehen wäre, wenn die vermummten, gewaltbereiten und mit Fahnen bewaffneten Neonazis auf die Flüchtlinge getroffen wären, ohne dass Antifaschisten sie daran gehindert hätten, mag man sich kaum vorstellen.
Tatsache ist, die mediale Darstellung („Polizisten schmissen sich zwischen die Fronten“) ist verzerrt, wenn nicht sogar falsch. Zum Zeitpunkt der Konfrontation waren keine 15 Beamten vor Ort, sondern lediglich eine Handvoll. Und die beschäftigten sich nicht mit den angreifenden Nazis, sondern mit den Antifaschisten. Sogar als einige Beamte selbst von den durch die Luft fliegenden Stühlen im Rücken getroffen wurden, änderte sich dies nicht. Die Polizisten wären schon zahlenmäßig kaum in der Lage gewesen, einen Angriff auf die Flüchtlinge zu vereiteln. Dass die Situation nicht weiter eskalierte und es nicht zu körperlichen Auseinandersetzungen kam, ist nicht der Polizei zu verdanken, sondern der Anwesenheit von Antifaschisten. „Als sich Teilnehmer der Kundgebung den Neonazis in den Weg stellten, warfen diese mit Stühlen eines Straßencafes auf die Demonstranten. Die wenigen anwesenden Polizisten waren mit der Situation sichtlich überfordert, so dass es nur durch Zufall keine Verletzten gab“, teilte auch die Landesweite Opferberatung LOBBI am Samstag mit, die mit Vertretern vor Ort war. Der Migrantenrat Mecklenburg-Vorpommern forderte die Behörden auf, die verantwortlichen Neonazis schnell zur Rechenschaft zu ziehen.
Dass der Angriff klar von den Neonazis ausging, bestätigte auch ein Mitarbeiter des Restaurants, dessen Möbel „durch die Luft“ flogen: „Als die kamen, haben die sich gleich die Stühle geschnappt“, sagte er kurz nach dem Tumult über die Neonazis, die hauptsächlich aus Güstrow stammen. Unter ihnen befand sich auch der NPD-Stadtvertreter Nils Matischent. Ob die Polizei jetzt auch gegen ihn vorgeht, wollte Polizeisprecherin Isabel Wenzel am Montag nicht direkt sagen, bestätigte aber, dass er sich in der Gruppe befand, gegen die der Staatsschutz jetzt wegen Landfriedensbruch ermittelt. Matischent ist vorbestraft und wurde im Herbst 2014 zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, die jedoch noch nicht rechtskräftig geworden ist.
Über den Ablauf des Angriffs besteht bei Beobachtern Einigkeit, zumindest außerhalb von SVZ und Polizei: Die ermittelt jetzt auch gegen die Antifaschisten wegen Landfriedensbruch, bestätigte Wenzel. Derzeit werde gegen drei Personen ermittelt, dieser Kreis werde sich aber noch erweitern.