Wer nicht laufen kann, Rollstuhlfahrerin ist oder einfach nur Probleme mit Stufen hat, sollte besser keine Zahnschmerzen bekommen. Nur 15 Prozent der Arztpraxen von Zahnmedizinern und Kieferchirurgen in Deutschland sind barrierefrei. Selbst bei den Allgemeinmedizinern sieht es nicht besser aus. Nur 22 Prozent der Praxen sind zugänglich. Die Links-Fraktion hatte gefragt, wie viele Arztpraxen in Deutschland denn eigentlich für gehbehinderte Menschen zugänglich seien. Die Antwort des Bundesgesundheitsministeriums fiel recht ernüchternd aus, überrascht mich aber leider nicht.
Als ich 1996 nach Hamburg zog, um zu studieren, suchte ich eine Frauenärztin. Vor mir lag ein Telefonmarathon. Ich telefonierte eine Praxis nach der anderen ab, immer wieder mit der gleichen Frage „Haben Sie Stufen vor der Tür?“ Die Antwort war ungefähr 50 Mal „Ja“. Als ich dann endlich eine Frauenarztpraxis gefunden hatte, die keine Stufen hatte, wurde ich mit der Praxis, den Mitarbeitern und der Ärztin überhaupt nicht warm. Da stand ich dann vor der Frage, ob ich als Rollstuhlfahrerin meine Ärzte eigentlich nach ansonsten normalen Kriterien wie Sympathie, Kompetenz, Lage und Organisation der Praxis aussuchen darf oder nicht. Ich befand, dies sei mein gutes Recht und damit begann der Telefonmarathon von vorne. Am Ende landete ich bei einer Frauenärztin, deren Nachnamen mit S anfing. Ich war alphabetisch vorgegangen. Und das in einer Millionenstadt wie Hamburg. Ich will gar nicht daran denken, wie die Lage auf dem Land aussehen muss.
Ich grinse auch immer, wenn ich an Orthopädiepraxen vorbeikomme, die 20 Stufen vor der Tür haben. Behandeln diese Orthopäden nur Leute mit gebrochenen Armen aber keine mit gebrochenen Beinen?
Aber mal im Ernst, ein Gesundheitssystem, das nicht für alle zugänglich ist, ist kein gutes Gesundheitssystem. Wie viele Frauen gehen dann eben nicht zur Vorsorgeuntersuchung statt den Telefonmarathon abzuhalten, den ich gemacht habe oder finden am Ende gar keine zugängliche Praxis? Was ist denn dann? Und es hört mit den Arztpraxen nicht auf. Es gibt auch völlig bescheuert geplante Krankenhäuser. So als ob Menschen immer nur eine Krankheit haben. Als ich mal mit einer Lungen- und Rippenfellentzündung in die Notaufnahme eines Krankenhauses kam, teilte man mir mit, dass es leider keine barrierefreie Toilette in diesem Teil des Krankenhauses gebe. Das sei ja die Innere, nicht die Orthopädie. Ich hatte mir architektonisch die falsche Krankheit ausgesucht.
Mit der idiotischen Planung dieses Krankenhauses hat der Architekt nicht nur mich behindert, sondern die Mitarbeiter gleich mit, die mich dann nämlich auf die weiter entfernt liegende Station bringen mussten, wo ich endlich zur Toilette gehen konnte. Das kostet Zeit, die das Personal ansonsten sicher besser genutzt hätte.
Aber bei der Problematik der nicht zugänglichen Praxen geht es nicht nur um behinderte Menschen. Wie soll dieses nicht barrierefreie Gesundheitssystem in Zukunft mit den vielen älteren Menschen klar kommen, die nicht mehr so gut zu Fuß sind? Sollen die alle Hausbesuche kriegen? Wie sollen die in die 85 Prozent der Zahnarztpraxen kommen, die nicht zugänglich sind? Wie zu den 78 Prozent der nicht zugänglichen Allgemeinmediziner? Die Leute haben Jahrzehnte ins System einbezahlt, um am Ende vor Stufen zu stehen, die sie nicht mehr hochkommen.
Nun will die Bundesregierung die Arztpraxen barrierefreier machen. Eine gute Idee, aber gefühlt 20 Jahre zu spät. Dagegen haben auch die Ärzte nichts, wenn es sie denn nichts kostet. Ein Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung sagte, keiner dürfe für seine Standortwahl bestraft werden. Tatsache ist aber: Derzeit werden Patienten bestraft, die durch das jahrzehntelange Ignorieren ihrer Bedürfnisse, einen erheblich erschwerten Zugang zum Gesundheitssystem haben. Es ist weder neu, dass es behinderte Menschen gibt, noch dass die Gesellschaft zunehmend altert. Wer das über Jahrzehnte ignoriert, zahlt dann unter Umständen am Ende die Rechnung für den Treppenlift, den er vielleicht besser schon vor 20 Jahren angeschafft hätte.