Es war vor fast genau zehn Jahren als ich in Oslo die Rede des norwegischen Politikers Lars Ødegård hörte (hier lang zur deutschen Übersetzung). Ødegård war der erste rollstuhlfahrende Abgeordnete im norwegischen Parlament. Von der Krankheitslehre zur Politik hatte er seine Rede überschrieben und rief dazu auf, Behinderung nicht mehr als persönliches Schicksal und medizinisches Problem anzusehen, sondern als gesellschaftliche Aufgabe aller:
Behinderte Menschen auf der ganzen Welt begegnen den gleichen Mythen und Aberglauben. Mythen basieren auf der Annahme, dass unser Leben ein ärmeres ist und dass der Grund dafür in unserer Biologie liegt. Diese Mythen sind vielleicht auch der Grund, warum Behinderung primär eine Angelegenheit des Gesundheitswesens und der öffentlichen Wohlfahrt ist. Es ist an der Zeit, uns klar zu machen, dass Behinderung eine Angelegenheit der Menschenrechte ist. Wenn wir das nicht begreifen, bleibt die Chance, Gleichberechtigung und volle Teilhabe zu erreichen, nur ein Traum.
Bis heute ist Ødegårds Rede in meinem Gedächtnis geblieben und hat mich in meinem Denken über das Thema Behinderung sehr geprägt. Er hat mir klar gemacht, dass Behinderung kein medizinisches Problem ist, sondern eine Frage von Menschenrechten und damit eine gesellschaftliche Aufgabe.
In Großbritannien erfand man sogar einen Namen für diese Art, Behinderung zu definieren: „Soziales Modell von Behinderung“ nennt man das. Immer mehr Organisationen und selbst der britische Staat nehmen das soziale Modell als Grundlage ihres Handelns in vielen Bereichen.
Das medizinische Modell hingegen geht davon aus, dass es in erster Linie ein medizinisches und damit individuelles Problem ist, wenn jemand zum Beispiel nicht laufen kann. Diese Sichtweise endet nur ganz schnell in der Sackgasse, wenn man merkt, dass man medizinisch bei vielen Behinderungen gar nichts tun kann. Genau das unterscheidet sie nämlich von Krankheiten. Ein einfaches Beispiel: Wenn ein Rollstuhlfahrer nicht in ein Gebäude mit zehn Stufen vor der Tür kommt, ist nach dem medizinischen Modell der medizinische Zustand die Ursache des Problems, also dass der Rollstuhlfahrer nicht laufen kann. Das soziale Modell sieht die Treppe und das Fehlen eines Fahrstuhls als ursächlich für das Problem an.
Leider ist das medizinische Modell weltweit noch immer der bevorzugte Weg, mit Behinderung umzugehen. Es wird medizinisch oft alles Nötige (und auch viel Unsinniges) versucht, um die Behinderung zu heilen, um am Ende enttäuscht aufzugeben. Dabei gibt es so viele andere, viel erfolgversprechendere Ansätze, um behinderten Menschen die Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen: Barrierefreien Wohnraum schaffen, notwendige Assistenz stellen, Zugang zu Hilfsmitteln, Anpassungen an den Arbeitsplatz vornehmen, Untertitel anbieten, Gebärdensprache anerkennen. Die Liste ist quasi unendlich.
Natürlich geht es nicht darum, jemandem die optimale medizinische Versorgung abzusprechen, aber wenn man am körperlichen Zustand nichts ändern kann, wäre es dann nicht angebracht, die Umwelt, die Vorgänge, die Gegebenheiten an behinderte Menschen anzupassen? Genau davon geht das soziale Modell von Behinderung aus. Und es geht sogar noch weiter. Als Behinderung wird nicht mehr der körperliche Zustand bezeichnet, sondern die Barrieren, die das Leben behinderter Menschen erschweren. Deshalb sagen die Briten auch konsequenterweise „disabled people“ (also Menschen, die behindert werden). Den körperlichen Zustand nennen sie Beeinträchtigung (impairment).
Und jetzt kann man von dieser Herangehensweise halten was man will, aber Tatsache ist, sie hat in den vergangenen Jahrzehnten zu einer verstärkten Emanzipation behinderter Menschen in Großbritannien und anderswo geführt.
Man kommt endlich mal davon weg, behinderten Menschen vorzuhalten, es sei etwas falsch und nicht in Ordnung mit ihnen – und das auch noch bei etwas, worauf sie keinen Einfluss haben, geschweige denn woran sie etwas ändern könnten.
Lars Ødegård hat seine Rede damals beendet, indem er erklärt hat, warum auch behinderte Menschen selbst eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, Behinderung neu zu denken und damit Gleichberechtigung und gesellschaftliche Teilhabe durchzusetzen:
Wenn jemand lange Zeit diskriminiert wird, dann wird er selbst Teil einer Kultur, in der Diskriminierung gedeihen kann. Die Geschichte hat uns viele Unterdrückte gezeigt, die ihre Unterdrücker entschuldigt und verteidigt haben. Wenn die Gesellschaft institutionalisierte Diskriminierung erfolgreich durchgesetzt hat, werden die Diskriminierten selber ganz ruhig, bescheiden und dankbare Empfänger des Wohlwollens einer diskriminierenden Gesellschaft. Das ist der Grund, warum immer noch so viele Behinderte nach mehr Krankengymnastik rufen statt nach Freiheit – weil das genau das ist, was uns beigebracht wurde. Meine letzte Frage wäre dann also: Was glauben wir von der Krankengymnastik zu bekommen, wenn nicht unsere Freiheit?