Die britische Paralympics-Siegerin Hannah Cockcroft hat Londons Bürgermeister Boris Johnson herausgefordert. Sie wollte, dass er einen Tag im Rollstuhl verbringt, um ihn davon zu überzeugen, mehr Geld in die Barrierefreiheit der Londoner U-Bahn zu stecken. Boris Johnson hat abgelehnt mit der Begründung, er wisse durchaus, vor welchen Problemen mobilitätseingeschränkte Menschen stehen, wenn sie die 150 Jahre alte U-Bahn nutzen wollen.
Nicht behinderte Menschen für einen Tag oder sogar länger in den Rollstuhl zu setzen, ist gerade ziemlich in. Was früher schon Zivildienstleistende oft zu Beginn ihrer Zeit als Zivi machten, ist unterdessen auch zum Fernsehformat geworden. Gerade setzte SAT1 eine Redakteurin der Sendung akte in den Rollstuhl. Auch RTL ließ im Jenke-Experiment Jenke von Wilmsdorff im Rollstuhl durch die Gegend fahren. Auch wie es ist, blind oder gehörlos zu sein, wollte er ausprobieren. Und auch Eckard von Hirschhausen war im Rollstuhl unterwegs.
Was mich bei diesen Experimenten stört: Sie tun so, als würden die Moderatoren dasselbe erleben wie behinderte Menschen. Dabei bedeutet nicht gehen zu können nicht, ungelenk in einem Rollstuhl durch die Gegend zu eiern und blind zu sein, kann man nicht einfach damit gleichsetzen, eine Augenbinde aufzuhaben.
Rollstuhltraining und blind Kaffee einschenken
Kaum jemand, der einen Autounfall hatte und danach nicht mehr laufen kann, bekommt einfach so einen Rollstuhl vor’s Bett gestellt und wird aufgefordert, damit nach Hause zu fahren. Es gibt Rollstuhltraining in Rehaeinrichtungen und man lernt, mit dem Rollstuhl umzugehen. Dazu zählt zum Beispiel auch, kleine Stufen zu überwinden.
Auch für Menschen, die erblindet sind oder eine fortschreitende Augenerkrankung haben, gibt es Mobilitätstraining und ein Training in lebenspraktischen Fertigkeiten. Dort lernt man, mit dem Stock zu laufen, sich zu orientieren, ohne sehen zu können und zum Beispiel taktile Leitsysteme an Bahnhöfen zu nutzen. Außerdem lernt man alltägliche Dinge wie Kaffee einzuschenken oder kochen, ohne hinsehen zu müssen.
Eine nicht behinderte Person einfach in einen Rollstuhl zu setzen, ist, als würde man jemanden, der nicht Fahrrad fahren kann, auf ein Fahrrad setzen und darauf warten, dass er umkippt. Übung macht den Meister, auch was das Leben mit einer Behinderung angeht. Am Ende haben alle Fernsehexperimente immer das gleiche Ende: Die nicht behinderte Versuchsperson ist froh, wieder laufen, hören und sehen zu können und alle sind sich einig, wie furchtbar es ist, eine Behinderung zu haben. Na toll.
Probleme sind vielschichtig
Die eigentlichen Probleme, auf die behinderte Menschen tatsächlich stoßen, sind so vielschichtig, dass man Otto Normalzuschauer offensichtlich nicht damit belasten möchte. Zumal sie sehr oft gar nichts mit der Beeinträchtigung zu tun haben, sondern mit organisatorischen Problemen und nicht zuletzt mit der Politik. Genau diese organisatorischen Probleme hat aber ein fleißiger Producer bereits vor dem Dreh aus dem Weg geräumt.
Und noch etwas macht diese Tests völlig unrealistisch: Alle wissen: Am Ende des Tages stehen sie wieder aus ihrem Rollstuhl auf, nehmen die Augenbinde ab, und wenn sie nicht mehr weiterkommen, wird die Kamera schnell ausgemacht und der Redakteur findet ganz schnell eine Lösung.
Sie müssen sich nicht um barrierefreien Wohnraum kümmern, werden nicht von Arbeitgebern diskriminiert oder stehen nicht vor dem Problem, ihre Assistenz finanziert zu kriegen. Stattdessen scheitern nicht behinderte Kurzzeitrollstuhlfahrer an Barrieren, die für die richtigen Rollstuhlfahrer meistens gar keine sind. Wenn ich sehe, wie eine Redakteurin an einer 1 cm hohen Stufe scheitert und dann hinterher erzählt, wie gefährlich es sei, als Rollstuhlfahrerin eine Straße zu überqueren, hat das durchaus Unterhaltungswert, selbst für mich, denn es ist absolut lächerlich. Mit meinem Leben als Rollstuhlfahrerin hat das rein gar nichts zu tun. Ich kann 1 cm hohe Stufen fahren – wie die meisten anderen Rollstuhlfahrer auch.
Politiker in Rollstühlen
Was Politiker in Rollstühlen angeht, muss man sich wohl außerdem klarmachen, dass sie wirklich wissen, wie wichtig zum Beispiel Barrierefreiheit für behinderte Bürger wäre. Sie setzen aber ihre Prioritäten anders und damit fließt das Geld auch woanders hin. Auch wenn ich sehr viel Sympathie für Hannah Cockcrofts Idee habe, den Bürgermeister einen Tag in den Rollstuhl zu setzen, einfach nur aus Spaß, ich glaube ihm, dass er auch so weiß, welche Probleme die U-Bahn bereitet. Dafür muss man nicht selbst im Rollstuhl vor den Stufen gestanden haben.
Und die Reality-Programmentwickler muss man fragen, warum sie nicht einfach das Leben der „richtigen“ behinderten Menschen darstellen. So wie es ist und nicht so, wie sie sich das ausgedacht haben. Eine Rollstuhlfahrerin auf Wohnungssuche zu begleiten, sagt mehr über das Leben im Rollstuhl aus und was man in Deutschland tun könnte, um Dinge zu verbessern, als eine Redakteurin an einer winzigen Kante scheitern zu lassen.