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Oscar Pistorius – Behinderung als Verteidigungsstrategie

 

Fünf Jahre Gefängnis lautet nun also das Urteil gegen Oscar Pistorius. Der Paralympics-Sprinter muss wegen fahrlässiger Tötung seiner Freundin ins Gefängnis. Voraussichtlich muss er davon knapp ein Jahr im Gefängnis verbringen, den Rest der Strafe könnte in Hausarrest umgewandelt und später ein Teil erlassen werden.

Ich habe den Prozess gegen Pistorius mit Interesse verfolgt. Er war eines der Gesichter der Olympischen und Paralympischen Spiele in London 2012, ich habe ihn dort im Stadion laufen sehen und auch im Vorfeld der Spiele war Pistorius sehr präsent. „Don’t look at the legs, look at the records“ (Schau nicht auf die Beine, schau auf die Rekorde) – mit diesem Werbespruch warben die Paralympics auf Großplakaten und Anzeigen für den Ticketverkauf in Großbritannien. Darauf war der sprintende Oscar Pistorius zu sehen.

Bitte jetzt doch beachten

Daran musste ich denken als ich die letzte Verteidigungsstrategie von Pistorius’ Verteidiger hörte. Zwei Jahre später wollte Pistorius genau das Gegenteil von dem, was er sonst immer in Interviews gesagt hat. Man sollte seine amputierten Beine nun doch beachten. Plötzlich sollten sie der Grund sein, warum er seine Freundin getötet hat, warum er überhaupt in diese Lage kam, warum er glaubte, sich bewaffnen zu müssen, warum es ihm nicht zumutbar sei, eine Gefängnisstrafe abzusitzen.

Pistorius wollte immer als nicht behindert wahrgenommen werden. „Ich bin nicht behindert, ich bin nur anders“, sagte Pistorius mal. Der gleiche Oscar Pistorius, der immer so viel Wert darauf legte, normal und angeblich nicht behindert zu sein, der sich mit nicht behinderten Sportlern gemessen hat, führte dann plötzlich seine Behinderung an, um ein milderes Urteil zu bekommen.

Es gibt sicher Situationen, in denen man vor Gericht die Behinderung eines Angeklagten berücksichtigen muss, beispielsweise wenn der Angeklagte behinderungsbedingt nicht verstanden hat, was er anrichtet. Das heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass eine Behinderung automatisch mildernde Umstände bringen sollte. Es ist gut, dass die Richterin bei Pistorius das auch so gesehen hat. Solange gewährleistet ist, dass Pistorius im Gefängnis beispielsweise seine Prothesen nutzen kann und die Unterstützung bekommt, die er benötigt, sollte er die gleiche Strafe bekommen wie jeder nicht behinderte Angeklagte auch.

Behinderte Menschen als Opfer

Umgekehrt muss ich aber sagen, dass mich die Zahl von Tötungsdelikten und anderen Straftaten in den vergangenen Jahren beunruhigt, bei denen Menschen mit Behinderungen die Opfer sind, aber die Täter genau deshalb mildernde Umstände geltend machen und oft auch gewährt bekommen.

Das betrifft vor allem Verwandte, die ihre behinderten Angehörigen umbringen. Gerade wurde in London die Mordanklage gegen eine Mutter fallen gelassen, die ihre drei kleinen Kinder umgebracht hat. Die Kinder hatten alle eine Muskelerkrankung. Die Mutter hätte das Leiden der Kinder beenden wollen, hieß es.

Leid als Motiv

Nun habe ich zufällig einige Freunde mit genau der Form der Muskelerkrankung, die auch die drei Kinder hatten – spinale Muskelathrophie (SMA) Typ 2. Es wird sehr schnell von Leid gesprochen, wenn es um Behinderungen geht. In diesem Fall sah sich die Mutter dazu berufen, dieses vermeintliche Leiden ihrer Kinder zu beenden. Keinem meiner Freunde, die SMA haben, würde ich ein leidvolles Leben bescheinigen. Sie leben alle mit Assistenz ein selbstbestimmtes Leben im Rollstuhl. Es ist für mich ein unfassbarer Gedanke, dass jemand ihr Leben beenden könnte, weil er oder sie sich berufen fühlt, ein Leiden zu beenden.

Ich verstehe, wenn Menschen mit der Pflege ihrer Angehörigen oder Kinder teilweise überfordert sind. Aber das kann niemals ein Grund sein, jemanden gegen seinen Willen zu töten, zumal die Familie wohl auch noch sehr wohlhabend war und Geld in dem Fall nicht das Problem war. Mir macht Angst, dass immer wieder Gerichte und Anklagebehörden Argumenten Berücksichtigung schenken, die mit der Behinderung des Opfers zu tun haben, um dann ein milderes Urteil zu sprechen oder die Anklage fallen zu lassen.

Ich bin dafür, behinderte Menschen als Angeklagte vor Gericht gleich zu behandeln, wenn die Behinderung mit der Tat nichts zu tun hat. „Ich bin behindert, ich kann nicht ins Gefängnis“ hat bei Pistorius nicht funktioniert und das ist auch gut so.

Dass aber immer mal wieder die Behinderung eines Opfers zu niedrigeren oder keinen Strafen für die Täter führt, empfinde ich als behinderter Mensch als ungerecht, wenn nicht sogar als bedrohlich.