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Die Bildungsmisere gehörloser Menschen

 

Am 3. Dezember ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderungen. Aus diesem Grund hat der Österreichische Gehörlosenbund (ÖGLB) auf die prekäre Bildungssituation gehörloser Menschen aufmerksam gemacht. Schätzungsweise nur 3 Prozent der etwa 10.000 gehörlosen Österreicher haben Matura, also das österreichische Abitur, sagten die Vertreter des ÖGLB. Nur 1 Prozent hat einen Hochschulabschluss.

Es gibt also ein enormes Bildungsdefizit gehörloser Menschen, denn eigentlich müsste der Anteil gehörloser Menschen, die einen höheren Bildungsabschluss haben, genauso hoch sein, wie der hörender Menschen. Als Folge der schlechten Schulbildung hätten gehörlose Menschen in Österreich eher niedrig bezahlte Berufe wie Näherin oder Reinigungskraft, sagte die Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbundes und Nationalratsabgeordnete, Helene Jarmer.

Und wer jetzt glaubt, das sei ein rein österreichisches Problem, der irrt. Auch in Deutschland kämpfen Eltern dafür, dass ihre gehörlosen Kinder mit Dolmetscherunterstützung Regelschulen besuchen können, damit sie den Weg zum Abitur oder zumindest den für sie angemessenen Bildungsabschluss schaffen. Sie ziehen vor Gerichte und müssen sich mit Ämtern Auseinandersetzungen liefern, weil diese die Kosten für die Dolmetscher nicht zahlen wollen und den Eltern stattdessen sagen, die Kinder sollten auf eine Gehörlosenschule gehen – eben auf die Schulen, die die Bildungsmisere gehörloser Menschen mit verursacht haben. Stattdessen möchten die Eltern die gleichen Bildungschancen für ihre Kinder haben.

Lippenlesen und raten

Ein Grund für die Bildungsmisere ist die negative Einstellung zur Gebärdensprache. Was viele nicht wissen: Selbst Lehrer an Gehörlosenschulen müssen nicht unbedingt Gebärdensprache können, wenn sie dort unterrichten. Man erwartet von den Kindern, dass sie Lippen lesen. Aber die Vorstellung, dass man alles von den Lippen ablesen kann, ist falsch. Die deutsche Sprache können auch geübte Lippenleser nur zu 30 Prozent ablesen. Der Rest muss kombiniert oder aus dem Zusammenhang geraten werden.

Bei der Bildungsvermittlung auf 70 Prozent Raterei zu setzen, ist ein sehr gewagtes Konzept. Viele Eltern gehörloser Kinder haben das erkannt und möchten deshalb, dass ihre Kinder bilingual aufwachsen – mit Gebärdensprache und Lautsprache. Für die gehörlosen Kinder ist Gebärdensprache so etwas wie ihre Muttersprache, die Basis, auf der sie aufbauen können, um Lautsprache zu lernen. Gebärdensprache ist die Sprache, in der man ihnen am besten Wissen vermitteln kann.

Mailänder Kongress

Das Konzept, ausschließlich auf Lautsprache an Gehörlosenschulen zu setzen, geht auf den Mailänder Kongress von 1880 zurück. Dort wurde beschlossen, dass die Gebärdensprache als Unterrichtssprache an Schulen nicht mehr benutzt werden sollte. Diese Ablehnung der Gebärdensprache hat die Bildung gehörloser Menschen massiv behindert und führte damals zu einem Berufsverbot für gehörlose Lehrer. Nach über einem Jahrhundert hat man nun endlich erkannt, dass der Weg falsch war, auch wenn es immer noch Lehrer und Eltern gibt, die Gebärdensprache als etwas hinderliches ansehen.

Die Statistik aus Österreich ist sicherlich ein Alarmsignal. Sie kann als Maßstab gelten, um zu überprüfen, ob sich wirklich etwas tut im Bereich der schulischen Inklusion und ob gleiche Bildungschancen vorhanden sind. Erst wenn sich die Zahlen normalisieren, also gehörlose Menschen genauso häufig Matura beziehungsweise Abitur machen wie hörende Menschen, kann man von gleichen Bildungschancen für gehörlose Menschen sprechen.