Sich eigenständig informieren zu können und Zugang zu Bildung zu haben, ist in Deutschland selbstverständlich. Das Recht auf Bildung ist ein grundlegendes Menschenrecht. Das sollte eigentlich auch für blinde und sehbehinderte Menschen gelten und auch für Menschen, die beispielsweise nicht in der Lage sind, ein Buch in der Hand zu halten und es deshalb in elektronischer Form benötigen. Wer aber beispielsweise blind ist, den lässt die Bundesregierung im Regen stehen. Denn sie blockiert auf europäischer Ebene seit Jahren den Vertrag von Marrakesch.
Internationaler Austausch
Im Juni 2013 verabschiedete die Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) in Marrakesch einen Vertrag, der für blinde, seh- und lesebehinderte Menschen den Zugang zu urheberrechtlich geschützten Werken verbessert. Ziel ist, dass die Blindenbüchereien ihre Bücherbestände künftig auch über Grenzen hinweg austauschen können. Außerdem wird die Erstellung von Braille- und anderen Versionen von Büchern geregelt.
Dieser so genannte Marrakesch-Vertrag erlaubt Blindenorganisationen und Blindenbüchereien auf der ganzen Welt, ihre Bestände an barrierefreier Literatur auszutauschen. So können beispielsweise Spanien und Argentinien ihre Buchbestände, die mehr als 150.000 barrierefreie Werke umfassen, allen lateinamerikanischen Ländern zugänglich machen, sobald die Regierungen der Länder diesen Vertrag ratifizieren und in das jeweilige nationale Urheberrecht überführen.
Nun blockiert die deutsche Bundesregierung laut Deutschem Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. (DBSV) die Ratifizierung des Vertrages. Das hat massive Folgen für die Zugänglichkeit von Literatur für blinde und sehbehinderte Menschen und andere, die darauf angewiesen sind, ein Buch zum Beispiel elektronisch zu lesen, weil sie vielleicht ein Buch nicht in der Hand halten können. Auch der UN-Ausschuss in Genf, der die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland untersucht hat, hat die Nicht-Ratifizierung des Marrakesch-Vertrags kritisiert.
Kompromiss abgelehnt
Im Kern geht es um die Frage, ob die EU den Vertrag ratifiziert oder ob jeder Mitgliedsstaat einzeln ratifizieren muss. In der vergangenen Woche hat die europäische Kommission einen Kompromissvorschlag präsentiert, der die rechtliche Zuständigkeit der Europäischen Union ebenso anerkennt wie die Souveränität der EU-Mitgliedsstaaten, den Marrakesch-Vertrag individuell zu ratifizieren. Wie die Europäische Blindenunion (EBU) berichtet, droht dieser Kompromiss nun an den Regierungen Deutschlands und Italiens zu scheitern. Das Land der Dichter und Denker blockiert den Zugang zu Literatur für behinderte Menschen.
Es fehlt der politische Wille
Der Präsident der EBU, Wolfgang Angermann, ist daher ziemlich empört: „Der Widerstand der deutschen Regierung hat nichts mit juristischen Formalien zu tun, hier fehlt schlicht und ergreifend der politische Wille, uns zu unserem Recht auf Lesen zu verhelfen. Als blinder Mensch aus Deutschland wie auch als Europäer bin ich zutiefst enttäuscht, dass Deutschland eine Ratifizierung durch die EU ablehnt. Meine dringende Bitte an die deutsche Regierung ist, diese Position zu überdenken und sich in der nächsten Woche im europäischen Rat für eine zügige Ratifizierung durch die EU einzusetzen.“
Oft wird argumentiert, Barrierefreiheit und Inklusion seien eine Frage des Geldes. Die Nicht-Ratifizierung des Marrakesch-Vertrages ist ein gutes Beispiel dafür, dass es oft einfach am Willen, nicht am Geld liegt. Ein Land, das das Recht auf Bildung auch für behinderte Menschen ernst nimmt, sollte den Marrakesch-Vertrag ratifizieren, statt ihn auf EU-Ebene zu blockieren.